13.09.2013

Für eine Handvoll Baht

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Für eine Handvoll Baht

Migranten aus Birma arbeiten in den Fischfabriken von Thailand von Xavier Monthéard

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Vor Ranong, dem wichtigsten Fischereihafen Thailands, fangen die Trawler in der Andamanensee Tausende Tonnen Fisch. Thailand ist der weltweit drittgrößte Exporteur von Fisch und Fischereiprodukten.1 Der gesamte Fang wird noch an Ort und Stelle verarbeitet, zwei Drittel davon gehen nach Ostasien, Europa und in die USA.

Beißender Gestank entströmt den hinter hohen Mauern verschanzten Fabriken. Die Manager dieser Unternehmen legen keinen Wert auf viel Öffentlichkeit: Sie machen ihre großen Gewinne mit Arbeitskräften aus Birma, die die Meerenge zwischen beiden Ländern überquert haben, um auf den Schiffen und in den Werkhallen in Thailand zu arbeiten. Sind sie legal oder illegal hier? Werden sie korrekt bezahlt und behandelt? Sind sie überhaupt volljährig? Ihre Arbeitgeber sind nicht begeistert von solchen Fragen. In diese Betriebe hineinzukommen, erweist sich rasch als undurchführbar. Mails bleiben unbeantwortet, Ausrede reiht sich an Ausrede. Und vor den Toren stehen Wächter.

Dann aber tritt wie durch ein Wunder Naroumon Korapoom auf, die elegante Präsidentin der Handelskammer von Ranong. Das Gespräch verläuft herzlich. Dem Thema Einwanderung aus Birma nähern wir uns behutsam, in konzentrischen Kreisen. Schließlich heftet sich ihr Blick auf einen Punkt in unbestimmter Ferne, und eine Entscheidung fällt. Sie wählt eine Nummer. Es entspinnt sich ein süßsaurer Telefondialog. Ihr Gesprächspartner hört viel zu, murrt vielleicht, gehorcht jedenfalls. Ja, eine Fabrik, in der vor allem Tintenfische verarbeitet werden, wird uns morgen empfangen, um zehn. Nein, keine Ursache, es ist uns doch eine Ehre, etwaige Missverständnisse auszuräumen.

Ohne Frau Naroumon wäre Nachada Rangsiyanant, dem zuständigen Mitarbeiter von Ranong Frozen Foods (RFF), die Führung durch sein Unternehmen erspart geblieben. Um seine Kunden in Japan und Singapur zufriedenzustellen, erklärt er, schicke RFF dreimal in der Woche drei Container nach Bangkok. Zuvor wird das Rohmaterial – fünf Tonnen Kalmare, Sepien und Kraken pro Tag, eingelagert in einem Kühlhaus von wahrhaft unvergesslichem Geruch – für den Genuss der Konsumenten aufbereitet.

Ob man vielleicht ein paar der 450 birmesischen Arbeiter bei der Arbeit zusehen könnte? Herr Nachada führt den Besucher zu einer Schleusenkammer, die die Verbindung zu einer weiß-grünen Welt darstellt. Zivilisiert, kalt, still. Alle tragen Schürze, Handschuhe, Stiefel und auf dem Kopf eine Haube. Manche sortieren Tausende Weichkörper, andere rühren in Bottichen mit einem chemischen Bleichmittel, würzen genau nach Rezept, schockgefrieren. Hier arbeitet ein Zweiergespann Hand in Hand: Sie schneidet mechanisch, rasch, unermüdlich einem Kalmar nach dem anderen den Kopf ab und wirft ihn in einen Korb; er greift nach dem Körper, zieht beidseitig die Haut ab, lässt die gallertige Masse in einen anderen Korb gleiten. Das erzeugt ein kleines, schmatzendes Geräusch. Für diese Arbeit, von 8 bis 17 Uhr, mit einer Mittagspause, werden 200 bis 250 Baht (5 bis 6 Euro) am Tag gezahlt.2 Kein einziger Arbeiter hier ist Thailänder.

Krabben töten im Akkord bedeutet schlechtes Karma

Seit dem Wirtschaftsboom der 1990er Jahre wird die meiste schwere Arbeit von Ausländern erledigt. Zehntausende Kambodschaner und Laoten kamen nach Thailand, vor allem aber kamen Birmesen – wahrscheinlich sind es mehr als 2 Millionen. Thailand ist ein Industriestaat im Mittelpunkt der dynamischen Volkswirtschaften Südostasiens, der sich beständiger Wachstumsraten und mannigfaltiger Ressourcen erfreut. Sein Nachbar Birma dagegen arbeitet sich gerade erst mühsam aus einem halben Jahrhundert Militärregime und Abschottung heraus. Arbeit hat Thailand genug zu bieten, vor allem solche für weit verbreitete, als selbstverständlich geltende Dumpinglöhne für Ausländer.

RFF ist keineswegs der schlechteste Arbeitsplatz in Ranong. Jeden Tag im Morgengrauen sammeln die Lastwagen der Siamchai International Food Company (Sifco), des größten Unternehmens der Stadt, jeweils siebzig junge Leute ein, die sich stehend auf der Ladefläche zusammenquetschen, und befördern sie zur Fabrik. „Sie dürfen eine halbe Stunde kostenlos fahren, aber wirklich – wie die Heringe!“, kommentiert ein Zuschauer. Sie tragen tragen bereits ihre Arbeitskleidung und haben ihr Mittagessen dabei. Nach der Ankunft muss jeder den Daumen an einen Touchscreen legen, ehe er das Tor passiert. „Sicherheit geht vor“, verkündet das Schild am Eingang.

So sieht auch das Leben von Aung Thee Oo aus, die an sechs Tagen in der Woche bei Sifco arbeitet. Um halb sechs geht sie zu der Straße, durch die der Lkw kommt, denn die Schicht beginnt um 7 Uhr. Nach dem Mittagessen, von 11 bis 12, geht es bis 17 Uhr weiter. Im Lauf des Tages erfährt sie, ob sie Überstunden machen muss: Die Spätschicht beginnt um 17.30 Uhr und geht bis 22 oder 23 Uhr, manchmal auch bis Mitternacht. „Wo bleibt denn da noch Zeit für ein Familienleben?“, fragt sie.

Bei Golden Seafood International werden nur 155 Baht (3,80 Euro) für neun Stunden Arbeit gezahlt. Der zwanzigjährige Ye Httet Neug wirft seit acht Monaten Arme voll Krabben in brodelnde Bottiche, salzt sie, fischt sie gekocht wieder heraus und fängt von vorn an. Die Umwandlung lebender Tiere in Nahrungsmittel verletzt seine buddhistische Weltanschauung. „Ich töte den ganzen Tag Tiere. Das bedeutet ein sehr schlechtes Karma“, seufzt er. „Aber ich habe doch keine andere Wahl!“

Thmat Zin Moe wiederum schuftet für einen Monatslohn von 4 500 Baht (rund 100 Euro) in einer Eisfabrik. „Es ist grauenhaft kalt“, sagt er, „und wir bekommen keine Handschuhe, geschweige denn Schutzkleidung.“ An Beispielen dieser Art fehlt es nicht: Einer musste die Uniform aus eigener Tasche bezahlen, ein anderer beklagt sich, dass es in den Werkhallen kein Trinkwasser gibt. Keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Keinen Urlaub. Und weil der Lohn viel zu niedrig ist, sind sie alle gezwungen, kurzfristig angesetzte Überstunden zu akzeptieren, die den Arbeitstag aberwitzig in die Länge ziehen, damit sämtlichen Wechselfällen des Fischfangs Rechnung getragen wird.

Das Leben jenseits der Arbeit ist kaum angenehmer. Während die Thailänder in den höher gelegenen Vierteln leben, drängen sich die Birmesen in der Unterstadt rund um die Kais zusammen. Das Viertel stinkt nach Fisch und schwerer Arbeit, nach Prostitution der schlimmsten Sorte, nach Elend. Hier haben die Einwanderer ihre Pagoden, ihre ungesunden Behausungen, ihre Verkaufsstände für Betelnüsse, eine leichte Droge, die erst Mund und Speichel, dann die Gehsteige rot färbt.

Die Frauen verzichten lieber auf die gelbliche Thanaka-Paste, ein traditionelles Make-up und Sonnenschutzmittel, das Birmesinnen so unverwechselbar macht. „Das erspart ihnen abfällige Bemerkungen der Thais“, erklärt Nai Line Htike, Vertreter des Human Rights Education Institute of Burma. „Südthailand ist extrem konservativ. Die Leute haben die Gegensätze zwischen unseren Ländern im Kopf, diese ganzen alten Geschichten über verfeindete Könige. Die werden ihnen in der Schule eingetrichtert, und die Filmindustrie dreht Blockbuster darüber, die von Klischees nur so strotzen.“ Die ständigen Kriege vom 16. bis zum 18. Jahrhundert haben im nationalen Bewusstsein Ressentiments hinterlassen, die regelmäßig zu rassistischen Schikanen führen.

Trotz ihrer äußerst prekären Lage finden die birmesischen Arbeiter ihre Lage in Thailand immer noch besser als in ihrer Heimat. In Ranong sind sie unterbezahlt und schlecht angesehen, haben aber immerhin ein Dach über dem Kopf. Sie werden schikaniert, aber es gibt wenigstens Hoffnung. Myanmar verbietet seinen Bürgern keineswegs, das Land zu verlassen. Dennoch lief die Auswanderung lange Zeit über geheime Kanäle.

Im Norden entstanden Fluchtwege für politische Oppositionelle und diejenigen, die den Guerillakämpfen zu entkommen suchten. Sie wurden in Lagern zusammengepfercht, ohne als Flüchtlinge anerkannt zu werden, weil sich die Regierung in Bangkok lange weigerte, die Genfer Flüchtlingskonvention zu ratifizieren. Im Süden kamen die Birmesen auf den Pfaden der Schmuggler und Drogenhändler.2 Die Ausreisewilligen begaben sich in die Hände der Schlepper von Kaw Thaung, der Zwillingsstadt jenseits des Meeresarms, direkt gegenüber von Ranong. Die operierten mal mit dem Wissen bestochener Grenzposten, mal heimlich – eine Frage des Gewinns, der im direkten Verhältnis zum Risiko steht. Viele ertranken auf der nächtlichen Überfahrt. Waren sie dann glücklich in Ranong gelandet, durften sie nicht den thailändischen Polizisten in die Hände fallen: Wer keine ordnungsgemäßen Papiere vorweisen oder sich freikaufen kann, wird sofort zurückgeschickt.

Die Polizei erkennt Migranten an den Augen

Die Lage normalisierte sich jedoch im Lauf der Zeit. „Um über die Grenze zu kommen“, erklärt Zaw, der eine Motorpiroge steuert, „muss man den Thailändern nur einen Pass zeigen, der für eine Woche Aufenthalt in Ranong gilt.“ Und sich dann unter die Heerscharen jener mischen, die eine reguläre Arbeitsgenehmigung haben. Aber selbst wer eine besitzt, ist bei den ständigen Polizeikontrollen nicht unbedingt sicher. „Sie schauen auf die Augen. Das können sie unglaublich gut“, erzählt Paipai, 20, der im Birmesenviertel groß geworden ist und alle Tricks kennt. „Gestern war ein Freund von mir ohne seine Arbeitserlaubnis unterwegs. Ein Fehler, ein winziger Fehler, oder? Die Polizei hat ihn kontrolliert und verhaftet. Weil er schlecht Thai spricht, hat er mich angerufen. Die Bullen wollten 3 000 Baht; ich hab sie auf 1 000 runtergehandelt. Sie haben mich zu einem Auto bestellt, hinter einem Hochhaus.“ Warum zum Auto? „Damit niemand Fotos macht.“ Und warum nicht ins Polizeirevier? „Damit sie nicht mit den Kollegen teilen müssen.“

In Ranong gibt es kaum Sozialarbeiter, die sich um die Migranten kümmern. Pater John, ein Neuseeländer mit scharfem Blick und spitzer Zunge, hat in einem Bildungswerk der katholischen Universität Australiens gearbeitet. Der Übergang von Fischern, die illegal und wie Sklaven auf See schufteten, hin zu Arbeitsmigration mit Familienzusammenführung sei sehr langsam gewesen, sagt er. Die Immigranten seien jetzt vor den allerschlimmsten Übergriffen geschützt und konnten gewisse Mindestrechte erstreiten. Seit 2005 gibt es sogar Schulpflicht für ihre Kinder. „Aber bei den Birmesen hat Bildung keinen hohen Stellenwert. Wir bemühen uns, wenigstens die elf-, zwölfjährigen Kinder von der Arbeit fernzuhalten.“

Auch mit der Gesundheit der Migranten steht es nicht zum Besten: „Die Arbeiter haben kaum Zeit, sich behandeln zu lassen, und wir kommen kaum in die Fabriken hinein. Die Prävention ist sehr schwierig“, erklärt die auf HIV und Tuberkulose spezialisierte Ärztin Mie Mie Han. Immerhin gebe es Fortschritte, seit die Birmesen für 30 Baht (weniger als ein Euro) zum Arzt gehen können. Aber die Opposition kritisierte die dadurch entstehenden Mehrkosten für das thailändische Gesundheitssystem: Allein in Ranong stellen die Birmesen inzwischen mehr als die Hälfte der 400 000 Einwohner.

Anfang 2013 setzte die Regierung unter Premierministerin Yingluck Shinawatra den Mindestlohn auf 300 Baht (7,50 Euro) pro Tag herauf, was einer Erhöhung um 40 Prozent entspricht; dies gilt auch für Ausländer. Dennoch stellte die japanische Forscherin Miwa Yamada, Koautorin einer Studie über die Birmesen von Ranong,3 fest: „Die thailändische Praxis der Arbeitsgenehmigung institutionalisiert die Ausbeutung der Migranten. Genau genommen ist es nämlich keine Arbeitsgenehmigung, sondern eine Einstellungserlaubnis. Der Arbeitgeber entscheidet über Aufenthalt und Zugang zur Arbeit.“ Und den Arbeitgebern mangelt es nicht an Erfindungsreichtum, um die seit Jahresbeginn fällige Lohnerhöhung zu unterlaufen: Hier wird der tägliche Verpflegungszuschuss gestrichen, dort eine alle zwei Wochen ausbezahlte Prämie von 200 Baht umgewandelt in eine 300-Baht-Prämie alle vier Wochen. Anderswo werden die Verpflegungskosten oder irgendwelche Bearbeitungsgebühren vom neuen Lohn abgezogen.

„Alle sind gleich, aber manche sind gleicher“, scheint das Motto für den Umgang mit Einheimischen und Ausländern zu lauten. Dazu eine bezeichnende Szene: Es ist 4 Uhr morgens, wir sind im Hafen. Zwei Dutzend Männer, bis auf den thailändischen Kapitän alle Birmesen, entladen mit Zugwinden einen Fischtrawler. Die Fässer speien Fische aller Größen und Formen auf den Kai. Hunderte Birmesen sortieren sie in hektischer Geschwindigkeit. Alle Zeit der Welt lassen sich hingegen die Buchhalterinnen, die mit hochmütiger Miene danebenstehen und die Zahlen eintragen. Thailänderinnen, ohne Zweifel. Wer könnte hier sonst pinkfarbene Stiefel tragen?

Fußnoten: 1 „The State of World Fisheries and Aquaculture“, Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), Rom 2012. 2 Vgl. Maxime Boutry und Jacques Ivanoff, „La Monnaie des frontières. Migrations birmanes dans le sud de la Thaïlande, structure des réseaux et internationalisation des frontières“, Institut de recherche sur l’asie du Sud-Est contemporaine, Bangkok 2009. 3 Koichi Fujita, Tamaki Endo, Ikuko Okamoto, Yoshihiro Nakanishi und Miwa Yamada, „Myanmar migrant laborers in Ranong, Thailand“, Institute of Developing Economies, Chiba (Japan) 2010.

Aus dem Französischen von Barbara Schaden

Xavier Monthéard ist Journalist und Asienexperte.

Le Monde diplomatique vom 13.09.2013, von Xavier Monthéard