08.11.2013

Russlands großer Auftritt

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Russlands großer Auftritt

Auf der internationalen Bühne feiert der Kreml erstaunliche Erfolge von Jacques Lévesque

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Zwei große internationale Erfolge konnte Präsident Putin in den vergangenen Monaten verbuchen. Als Russland dem NSA-Enthüller Edward Snowden im August Asyl gewährte, konnte es sich damit rühmen, als einziger Staat Washington die Stirn geboten zu haben. China war eingeknickt, und auch Venezuela, Ecuador und sogar Kuba suchten nach Ausflüchten, um Snowden nicht ins Land lassen zu müssen.

Der amerikanische Whistleblower galt als Sicherheitsrisiko, wie früher der einstige Al-Qaida-Chef Osama bin Laden. Die USA schafften es sogar, dass die mit ihnen verbündeten Staaten ihren Luftraum für die Maschine des bolivianischen Präsidenten Evo Morales sperrten, weil es Spekulationen gab, dass Snowden an Bord sein könnte.1 Diese Umstände trugen dazu bei, dass Putins Entscheidung zu Hause in Russland, aber auch international als besonders „mutig“ erscheinen konnte. In Moskau begrüßten sogar zahlreiche Oppositionelle seine Geste als einen Akt der Verteidigung staatsbürgerlicher Rechte und Freiheiten.

Einen noch bedeutsameren Erfolg, mit viel größerer Tragweite, errang Putin jedoch in Syrien. Weil er Baschar al-Assad das Versprechen abrang, unter internationaler Kontrolle alle Chemiewaffen im Land zu vernichten, setzte US-Präsident Obama die als Strafmaßnahme geplanten Luftschläge gegen Syrien „vorläufig“ aus. Bis dahin hatte das Weiße Haus den Kreml wegen dessen Syrienpolitik, wie etwa UN-Sanktionen gegen das Assad-Regime abzulehnen, massiv kritisiert und sogar mit internationaler Isolation gedroht. Nun steht Putin als der Staatsmann da, dem es gelungen ist, einen Militärschlag mit womöglich verheerenden Folgen zu verhindern.

Auch in diesem Fall erleichterten die Fehlkalkulationen der US-Administration den russischen Sieg. Erst musste Präsident Obama die Weigerung Großbritanniens verdauen, sich an der geplanten Militäroperation zu beteiligen, dann drohte ihm der US-Kongress die Gefolgschaft zu verweigern, was unabsehbare Konsequenzen gehabt hätte. Zwar stimmte der außenpolitische Ausschuss des US-Senats am 4. September für einen begrenzten Militärschlag gegen Syrien, doch die Zustimmung im Kongress war alles andere als sicher. Als Russland am 9. September den USA seinen Plan zur Kontrolle der syrischen Chemiewaffen unterbreitete, titelte die russische Tageszeitung Iswestija: „Russland kommt Obama zu Hilfe“.

Klugerweise verzichtete der russische Präsident auf jegliche Siegerrhetorik. Wie sein ganzer diplomatischen Apparat betrachtet er die jüngsten Ereignisse als historische Gelegenheit, die auf keinen Fall verschenkt werden durfte. Wäre Edward Snowden statt im Juli erst im Oktober, also nach der US-russischen Annäherung, in Moskau angekommen, er hätte wohl nicht bleiben können.

Seit zwei Jahren illustriert die Haltung Moskaus im Syrienkonflikt die Ängste und Frustrationen Russlands, aber auch seine langfristigen Ziele und Ambitionen auf der internationalen Bühne. Überdies wirft sie ein Schlaglicht auf die innenpolitischen Probleme, mit denen Präsident Putin konfrontiert ist.

Vor allem die Spätfolgen der beiden Tschetschenienkriege (1994–1996 und 1999/2000) spielen dabei eine Rolle. Zwar haben die Angriffe auf russische Ordnungskräfte insgesamt stark abgenommen und fordern weniger Opfer, aber im Nordkaukasus kommt es weiterhin zu Zwischenfällen, die bis nach Dagestan und Inguschetien ausstrahlen – auch wenn die Verbrechen dort eher mit Bandenkriminalität als mit Politik zu tun haben. Die militanten Tschetschenengruppen sind verstreut und nicht mehr so gut vernetzt, aber sie sind immer noch da. Im Juli 2012 wurden in Tatarstan, weit entfernt vom Nordkaukasus, zwei schwere Attentate verübt. Und der tschetschenische Untergrundführer Doku Umarow, der sich zum Emir des Kaukasus erklärt hat, hat schon angedroht, bei den Olympischen Winterspiele in Sotschi im Februar 2014 zuzuschlagen.

Wie der US-amerikanische Beobachter Gordon Hahn vom Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington2 geht auch ein Großteil der russischen Presse davon aus, dass mehrere hundert militante Rebellen aus Russland in Syrien gegen das Regime kämpfen. Das könnte erklären, warum Moskau weiterhin Waffen an Assad liefert. Nach Meinung Putins und seiner Berater würde eine Niederlage des Regimes Syrien in ein zweites Somalia verwandeln, jedoch mit mehr Waffen und in einem gefährlicheren regionalen Kontext. Moskau befürchtet, dass ein gescheiterter Staat Syrien den in Russland operierenden Kämpfern als Rückzugsort dienen könnte. Es hat einige Zeit gedauert, bis Washington diese Befürchtungen teilte.

Die außenpolitischen Ziele Russlands im Syrienkonflikt wurden oft darauf reduziert, Tartus zu behalten – die einzige Militärbasis Russlands im Mittelmeer – und Syrien nicht als Kunden für seine Rüstungsindustrie zu verlieren.3 Diese Faktoren sind zwar nicht völlig unwichtig, aber sie erklären nicht die Hartnäckigkeit Moskaus in der Syrienfrage. Hier geht es vielmehr darum, dass Russland nach dem Ende der Sowjetunion seinen Platz in der internationalen Ordnung zurückgewinnen will.

Als der russische Wirtschaftswissenschaftler Jewgeni Primakow 1996 das Außenministerium übernahm, lange vor dem Amtsantritt von Wladimir Putin (der 2000 Präsident wurde), etablierte sich in der russischen politischen Elite ein Konsens, der sich seither gefestigt hat: Die Vereinigten Staaten versuchen den Wiederaufstieg Russlands, und sei es nur als eine kleinere Macht, zu verhindern. Die Verfechter dieser Sichtweise führen als Beweis die Nato-Osterweiterung an. Zuerst traten Polen, Tschechien und Ungarn dem transatlantischen Bündnis bei, dann die baltischen Staaten und weitere ehemalige Ostblockländer. Darüber hinaus wollen die USA auch Georgien und die Ukraine in das Bündnis holen. Das wäre ein Bruch der Versprechen, die Washington einst Michail Gorbatschow als Gegenleistung für seine Zustimmung zur Nato-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands gegeben hatte. Washington, so sagen die russischen Diplomaten, versucht seinen Einfluss auf eine Region auszudehnen, in der Russland ureigenste legitime Interessen hat.

Aus Sicht des Kreml wollten die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, als sie bei der Verhängung internationaler Sanktionen und vor allem beim Kosovokrieg 1999 und der Irakinvasion von 2003 den UN-Sicherheitsrat umgingen, Verhandlungen verhindern, die Washington gezwungen hätten, die russischen Interessen angemessen zu berücksichtigen. Moskau hegt eine tiefe Abneigung gegen Militäroperationen im Ausland und vor allem gegen Regimewechsel, die ohne Zustimmung des Sicherheitsrats durchgesetzt werden.

Als Begründung für seine Ablehnung eines Militärschlags gegen Syrien führte Russland stets den libyschen Präzedenzfall von 2011 an. Bei der Abstimmung über die Resolution 1973, deren erklärtes Ziel es war, die libysche Bevölkerung zu schützen, die dann aber als Rechtfertigung für eine Militärintervention und den Sturz von Muammar al-Gaddafi diente, hat sich Russland enthalten. Damals saß Dmitri Medwedjew im Kreml und spekulierte auf einen Neuanfang der russischen Beziehungen zu Washington.

In Moskau dominiert heute, und das hat in Russland zugleich eine lange Tradition, eine geopolitische Sicht auf die internationalen Beziehungen. Das wichtigste außenpolitische Ziel des Kreml ist seit 1996 die Förderung einer Entwicklung hin zu einer multipolaren Welt, um schrittweise den US-amerikanischen Unilateralismus abzuschwächen.

Eine Lehrstück in multilateraler Diplomatie

Dabei schätzt Präsident Putin die gegenwärtigen und zukünftigen Möglichkeiten seines Landes realistisch ein – wie vor ihm Jewgeni Primakow – und ist überzeugt, dass Russland Partner braucht, um seine Ziele zu verwirklichen.

So ist China zum ersten und gewichtigsten strategischen Partner des Kreml aufgestiegen. Im Sicherheitsrat stimmen sich beide Länder regelmäßig ab, ob beim Syrienkonflikt, dem Atomstreit mit dem Iran, der Intervention in Libyen oder dem Irakkrieg. Peking agiert ruhiger und mit mehr Vertrauen in seine Möglichkeiten, bei der Verteidigung gemeinsamer Positionen überlässt man die Bühne Moskau. Das ist ein Grund, warum der Kreml darauf beharrt, dass internationale Angelegenheiten ausschließlich im Sicherheitsrat geregelt werden müssten.

Seit dem Beginn der chinesisch-russischen Partnerschaft meinten westliche Beobachter, die würde nicht lange halten, angeblich weil die russischen Eliten das demografische und wirtschaftliche Gewicht Chinas fürchten. Tatsächlich ist die Zusammenarbeit kontinuierlich enger geworden, auf wirtschaftlichem Gebiet (durch den Export von Öl und russischen Waffen), auf politischem (durch die Kooperation im Rahmen der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit, SOZ4 ) und auf militärischem: Praktisch jedes Jahr finden gemeinsame Manöver und Übungen aller Armeeteile statt.

Natürlich gibt es auch Reibungspunkte, zum Beispiel beim Thema Handel mit den zentralasiatischen Ländern des ehemaligen Sowjetblocks, wo China Russland 2009 überflügelt hat. Aber bislang respektiert Peking das Primat der geopolitischen Interessen seines Nachbarn und versucht nicht, Militärbasen in diesen Ländern zu errichten. So erkennt es die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS)5 an, die Moskau zusammen mit den meisten Staaten der Region gegründet hat. Trotz der wiederholten Bitten des Kreml haben die USA eine Kooperation zwischen OVKS und Nato beim Thema Afghanistan immer abgelehnt. Washington verhandelt lieber mit jedem Staat einzeln über die Öffnung von Nachschubwegen oder die Einrichtung von Militärbasen.

Es hat weniger mit Häme zu tun, wenn Russland sich über die internationalen Misserfolge Washingtons freut, sondern mehr mit Verärgerung. So wünscht sich Moskau weder eine Niederlage der Vereinigten Staaten in Afghanistan noch deren überstürzten Rückzug aus dem Land. Und die Differenzen beim Thema Syrien betreffen zuallererst die Regeln der internationalen Politik: Russland möchte die Weltordnung neu austarieren, damit seine Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und zur euroatlantischen Welt auf einer veränderten Grundlage neu beginnen können.

Es fragt sich, ob dies die Stunde der großen Neuordnung ist, die der Kreml so beharrlich verfolgt. Wird Moskaus Wunsch, nicht länger eine subalterne Rolle zu spielen, demnächst in Erfüllung gehen? Putins Erfolg in der Syriendiplomatie spricht für die Annahme – oder vielleicht die Illusion –, dass Washington die Tendenz zur Multipolarität nicht mehr aufhalten kann. Dass Großbritannien, der treue Verbündete der Vereinigten Staaten, ihrem Kurs nicht gefolgt ist, deutet ebenso darauf hin wie die nachfolgenden Debatten beim G-20-Gipfel von Sankt Petersburg, wo entschieden gegen ein militärisches Abenteuer in Syrien argumentiert wurde.6

Aus Sicht der nüchternsten russischen Analysten führt der Weg in die Multipolarität nicht über die Neo-Isolationisten im US-Kongress, sondern über Präsident Obama selbst. Denn der will keinen amerikanischen Rückzug, der destabilisierend wirken könnte, sondern eine Entschärfung der gefährlichsten Konflikte auf der Grundlage internationaler Kompromisse. Und die beiden bedrohlichsten Konflikte sind die um Syrien und den Iran, die eng miteinander verflochten sind und zu deren Lösung Russland glaubt, viel beitragen zu können.

Die Annäherung zwischen Washington und Moskau im Syrienkonflikt begann schon einige Zeit vor der spektakulären Wende im September. Bereits im Mai 2013 gab der amerikanische Außenminister John Kerry seinem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow die Zustimmung zum Projekt einer internationalen Syrienkonferenz, ohne freilich die Forderung nach einem Rückzug Assads aufzugeben. Beim G-8-Gipfel im Juni wurde eine gemeinsame Erklärung zu Syrien hinausgezögert, um die Unterstützung von Putin zu bekommen. Wenn Assad sich an die Zusicherung hält, die syrischen Chemiewaffen herauszugeben, wird das Ansehen Putins bei den westlichen Regierungen stark wachsen.

Ein erfolgreicher Abschluss der geplanten Syrienkonferenz setzt in den Augen Moskaus die Teilnahme Teherans voraus. Das haben die Vereinigten Staaten auf Drängen Israels bisher abgelehnt. Deshalb bemüht sich Russland, den begonnenen Dialog zwischen Präsident Obama und dem neuen iranischen Präsidenten Hassan Rohani zu fördern. Eine Annäherung in der Atomfrage würde auch Fortschritte in Syrien erleichtern. Außerdem arbeitet Moskau an einer Intensivierung seiner Beziehungen zum Iran, die sich verschlechtert haben, seit Moskau 2010 mehreren von Washington geforderten Sanktionen im Sicherheitsrat zustimmte und die Lieferung von S-300-Flugabwehrraketensystemen an Teheran stoppte.

Präsident Putins Bemühungen, engere Bindungen zu den USA zu knüpfen, sind nicht der erste Vorstoß dieser Art. Ähnliches war bereits nach den Anschlägen vom September 2001 zu beobachten, die Moskau als Chance zur Annäherung verstand. Damals hatte Russland zugestimmt, dass die Amerikaner ihre Militärbasen für den Afghanistankrieg bei den russischen Verbündeten in Zentralasien einrichteten, ohne daran Bedingungen zu knüpfen. Und um seine Bereitschaft zur Entspannung noch zu unterstreichen, hatte Russland die letzten noch aus der Sowjetzeit stammenden militärischen Überwachungseinrichtungen auf Kuba geschlossen (die allerdings auch keine große Rolle mehr spielten).

In den folgenden Monaten gab Präsident George W. Bush jedoch endgültig grünes Licht für den Nato-Beitritt der drei baltischen Republiken und kündigte den ABM-Vertrag mit Russland, der die Zahl der Raketenabwehrsysteme strikt begrenzte. Der Frühling in den amerikanisch-russischen Beziehungen war vorüber. Inzwischen sieht Präsident Putin die Chance, mit Präsident Obama zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit zurückzufinden.

Doch die Aussichten für eine solche Entwicklung werden von einer schweren Hypothek belastet, die ihre Ursache in der russischen Innenpolitik hat. Seit seiner Rückkehr ins Präsidentenamt 2012, die von massiven Protesten der Bevölkerung in Moskau begleitet wurde, kultiviert Wladimir Putin den Antiamerikanismus als Teil des russischen Nationalismus, um seine Macht zu sichern. Das lässt sich etwa an den neuen Gesetzen zur Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen ablesen: Wenn diese auch nur geringste ausländische Finanzmittel erhalten, müssen sie erklären, dass sie im Dienste ausländischer Interessen tätig sind.

Hier erkennt man die Nachwirkungen von Putins KGB-Vergangenheit: Ausländische Einflüsse und Manipulation gelten als die wichtigste Ursache für innenpolitische Probleme und politische Instabilität. Ob Putin seine internationalen Ambitionen verwirklichen kann, wird entscheidend davon abhängen, ob er sein Legitimitätsdefizit zu Hause in den Griff bekommt.

Fußnoten: 1 Siehe Evo Morales, „Brief aus der Luft“, Le Monde diplomatique, August 2013. 2 Siehe Gordon M. Hahn, „The Caucasus and Russia’s Syria Policy“, The National Interest, 26. September 2013: www.nationalinterest.org/commentary/the-caucasus-russias-syria-policy-9132. 3 Michael Thumann, „Russlands Naher Osten“, Le Monde diplomatique, April 2013. 4 Der 2001 gegründeten Organisation gehören neben Russland und China auch Usbekistan, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan an. 5 OVKS-Mitglieder sind: Russland, Armenien, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan und Weißrussland. 6 Siehe Michael Klare, „Obamas Improvisationen“, Le Monde diplomatique, Oktober 2013. Aus dem Französischen von Ursel Schäfer Jacques Lévesque ist Politikwissenschaftler an der Université du Québec in Montreal. Autor des Essays „Le Retour de la Russie“, Montréal (Varia) 2007.

Le Monde diplomatique vom 08.11.2013, von Jacques Lévesque