13.12.2013

Detroit wäre fast gestorben

zurück

Detroit wäre fast gestorben

In den Vereinigten Staaten zerstört die finanzielle Kernschmelze ganze Großstädte von John Nichols

Audio: Artikel vorlesen lassen

Der große Soul- und Jazzpoet Gil Scott-Heron schrieb 1966 einen epischen Monolog auf die von der Krise bedrohte Stadt Detroit. Der Titel „We almost lost Detroit“ bezog sich auf den Reaktorunfall im Prototyp eines Schnellen Brüters in Michigan, der zu einer partiellen Kernschmelze geführt hatte. Dass die fünftgrößte Stadt der USA, Motor City, Motown, eines der größten Industriezentren des Landes, einfach ausgelöscht werden könnte, war eine entsetzliche Vorstellung.

Detroit ist der Gefahr des atomaren Untergangs damals entkommen. Die gegenwärtige durch die amerikanische Sparpolitik ausgelöste Krise wird die Stadt womöglich nicht überstehen – jedenfalls nicht in einem Zustand, der noch an das alte Detroit erinnert. Am 18. Juli 2013 musste die Stadt ihren Bankrott erklären, weil sie Schulden in Höhe von 18,5 Milliarden Dollar nicht mehr bedienen konnte. Zwar kann sie nach US-Insolvenzrecht jetzt eine Umschuldung vornehmen, aber dieser Schritt hat seinen Preis. In jedem Fall ist der Bankrott ein beunruhigendes Vorzeichen für ein Land, dessen Städte mit Schulden in Gesamthöhe von 3 700 Milliarden Dollar belastet sind.

Die Insolvenz von Detroit geht nicht auf schlechtes Management zurück, sie ist vielmehr die letzte Phase eines langen Prozesses der Entindustrialisierung, der die einstige Autostadt aufgrund der Abwanderung von Einwohnern und Unternehmen längst zu einer Geisterstadt gemacht hat. Allein zwischen 1995 und 2000 hat Detroit 52 Prozent seiner industriellen Arbeitsplätze verloren. Und während 1950 noch jeder zehnte Einwohner in einer Fabrik beschäftigt war, ist es heute nur noch jeder fünfzigste. Damals gab es im Großraum Detroit etwa ein Dutzend großer Autofabriken samt Zulieferer. Von denen ist eine einzige übrig geblieben,1 die allerdings ihre Produktion in letzter Zeit leicht steigern konnte.

Seit den 1960er Jahren sind mehr als eine Million Menschen aus der Stadt weggezogen, etwa die Hälfte der Bevölkerung. Die Arbeitslosenquote ist zwei- bis dreimal so hoch wie im nationalen Durchschnitt und in den letzten Jahren immer rascher angestiegen. Dementsprechend sind auch die kommunalen Steuereinnahmen rapide zurückgegangen. Die 2008 einsetzende Wirtschaftskrise stürzte die Stadtverwaltung vollends in die roten Zahlen und erzwang eine überstürzte Sparpolitik.

Seitdem funktioniert die Müllabfuhr nur noch sporadisch, Polizeiwachen sind nachmittags nicht mehr besetzt, Straßenlampen wurden abgeschaltet und viele städtische Buslinien eingestellt. Eine Zeit lang mussten die Feuerwehrleute das Klopapier für ihre Wachen selbst kaufen; inzwischen wird es von einer Firma gesponsert.2

Der Gouverneur des Staates Michigan, der Republikaner Rick Snyder, hätte Detroit mit öffentlichen Investitionen des Bundesstaats unterstützen und so Jobs retten oder neue schaffen können. Stattdessen setzte er die gewählte, von den Demokraten gestellte Stadtverwaltung einfach ab und installierte im März 2013 seinen eigenen „Zwangsverwalter“. Seitdem wird das Schicksal Detroits von dem Unternehmensanwalt Kevyn Orr bestimmt, der auf Insolvenzverfahren spezialisiert ist. Der kann, nachdem ihm Snyder entscheidende Machtbefugnisse übertragen hat, nach Gutdünken Angestellte der Stadtverwaltung entlassen, kommunale Vermögenswerte verkaufen, öffentliche Ausgaben kappen und Lohnvereinbarungen mit den Gewerkschaften annullieren. Und das alles ohne Wählerauftrag und mit der bloßen Behauptung, dass es zur Sanierung des städtischen Haushalts notwendig sei.3

Aber finanzielle Probleme lösen zu wollen, indem man die Bürger von ökonomischen Entscheidungen, die ihr Leben und ihre Zukunft beeinflussen, völlig ausschließt, ist nicht nur undemokratisch. Es ist auch ein grundsätzlich verfehlter Ansatz, weil er die Opfer bestraft, statt die Politik zu ändern. Nachdem Snyder faktisch die Macht in Detroit übernommen hatte, steuerte er die Stadt auf ein Insolvenzverfahren zu, das damit enden könnte, dass die Pensionen der kommunalen Angestellten und die Ausgaben für das Gesundheitssystem, die zusammen die Hälfte der Schulden ausmachen, drastisch zusammengestrichen werden. Das aber macht alles nur noch schlimmer, denn die Gelder, die an aktive wie pensionierte städtische Angestellte fließen, sind häufig das beste Konjunkturprogramm für die lokale Wirtschaft.

Das Haushaltsdebakel von Detroit ist eine schlimme Entwicklung nicht nur für die Städte, sondern für das ganze Land. Vor fünfzig Jahren hatte die Kommunalpolitik in den USA noch einen hohen Stellenwert; entsprechend waren die Bürgermeister der Großstädte stets nationale Figuren. Und Demokraten wie Republikaner legten Wert auf eine „Strategie für die Städte“, die vor allem auf die Entwicklung der Infrastruktur und der Wirtschaft ausgerichtet war.

Enteignung der Bürger macht Städte nicht reicher

Aber dieses Engagement ist längst eingeschlafen: Heute vernachlässigen die Demokraten sogar die Städte, in denen sie am stärksten sind; die Republikaner ihrerseits betrachten die großen Kommunen mit offener Feindseligkeit. Und Detroit ist beileibe kein Einzelfall: Heute leben 80 Prozent der US-Bevölkerung in städtischen Regionen.

Snyder hat für sechs Städte seines Staats (Detroit, Benton Harbor, Ecorse, Flint, Pontiac und Allen Park sowie für mehrere Schulbezirke) eine „Notverwaltung“ angeordnet. Da in diesen urbanen Zentren 49 Prozent der afroamerikanischen Einwohner von ganz Michigan leben, spricht John Conyers, ein Demokrat im Repräsentantenhaus, voller Sorge von einer „rassischen Komponente“ bei der Anwendung und Umsetzung der Notstandsgesetze.

Diese Kommunen in Michigan könnten dasselbe Schicksal erleiden wie die anderen zehn Städte und Landkreise der USA, die innerhalb der letzten drei Jahre Insolvenz beantragt haben, ohne dass die Regierung in Washington sich darum irgendwie geschert hätte. Ob in San Bernardino, Stockton oder Vallejo (Kalifornien), ob in Jefferson County (Alabama), in Harrisburg (Pennsylvania) oder Central Falls (Rhode Island) – stets waren es dieselben Ursachen, die zu denselben Maßnahmen und in denselben Teufelskreis führten: Die Einschränkung der kommunalen Dienstleistungen ließ die Bevölkerungszahl schrumpfen, was die städtischen Einnahmen noch weiter reduzierte, womit wiederum neue Sparmaßnahmen begründet wurden.

So musste etwa die Stadt Stockton (300 000 Einwohner, 700 Millionen Dollar Schulden) nach ihrem Insolvenzantrag im Juni 2012 jeden vierten Polizisten, 30 Prozent der Feuerwehrleute und 40 Prozent des Verwaltungspersonals entlassen. Aber das war immer noch nicht genug; ein Jahr später erklärte die Verwaltung, sie müsse die Renten der städtischen Angestellten kürzen, um innerhalb der nächsten dreißig Jahre 2,5 Milliarden Dollar einzusparen.

Die Republikaner behaupten, die bankrotten Städte seien selbst schuld. Gouverneur Snyder verbreitet seit Jahren, das ganze Chaos gehe auf das Konto unfähiger Kommunalpolitiker und der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, die man deshalb aus dem Weg räumen müsse. In dasselbe Horn bläst Senator Lindsey Graham, ein Parteifreund Snyders aus South Carolina: „Detroit hat zweifellos große Probleme, aber die sind hausgemacht.“4 Tatsächlich hat Detroit nur eine Art Fehler gemacht: Man hat ab und zu einen unfähigen Bürgermeister gewählt, das trifft allerdings im Grunde für jede Stadt der USA zu. Was aber Verwaltung und Gewerkschaften betrifft, so haben die in Detroit vor allem gezeigt, dass sie sehr wohl zu Opfern bereit sind. Im Gegenteil: Wenn die Sparpolitik die erwartete Wirkung gehabt hätte, müssten Detroit und Stockton mittlerweile wahre Boomtowns sein. Schließlich hat Detroit im Zeitraum 1990 bis 2013 seinen Personalbestand um fast die Hälfte reduziert.5

Der Demokrat Dan Kildee aus Michigan, Mitglied des Repräsentantenhauses, will die Federal Reserve (also die US-Notenbank) ins Spiel bringen: Sie soll zusammen mit dem Kongress eine Strategie gegen „den systematischen Zusammenbruch der amerikanischen Städte“ entwickeln. Viel zu lange hätten „die Gesetzgeber und die Aufsichtsbehörden zugesehen, wie die Städte mit Haushaltsdefiziten, zu wenig Geld für Pensionen und dem Verfall der Infrastruktur klarkommen müssen.“6 Die Federal Reserve habe ein weit gefasstes Mandat, könne also gleichzeitig ökonomische Stabilität durch langfristig sinkende Zinsen fördern und eine möglichst hohe Beschäftigung anstreben. Im Rahmen dieses Mandats müsse die Fed ein Konzept entwickeln, wie man den „failed cities“ helfen könne.

„Unser System der Gemeindefinanzen ist am Ende“, sagt Kildee. Der ehemalige Bezirkskämmerer in einem County von Michigan weiß, wovon er spricht: „Die Einzelstaaten und die Bundesregierung müssen sich etwas Neues einfallen lassen, wie sie die Städte und die Großstadtregionen unterstützen.“ Der Abgeordnete fordert nicht nur eine gerechtere Handelspolitik und Investitionen in die Infrastruktur, sondern auch ein neues Förderungsprogramm auf Bundesebene für die Kommunen: „Es ist höchste Zeit, dass wir über nachhaltige Finanzierungsinstrumente für die städtischen Regionen nachdenken, die ja als Motor unserer Wirtschaft funktionieren.“

Dass Kildee versucht, die Notenbank einzubinden, ist ein kluger Schachzug. Denn der gegenwärtige Kongress zeigt wenig Neigung, die Städte auf ähnliche Weise zu retten, wie man im Oktober 2008 die Banken herausgepaukt hat. Die Fed dagegen habe ausreichend Autorität und Einfluss, um die Regierung zum Eingreifen zu zwingen. Noch weiser ist die Einsicht Kildees, dass die Probleme der US-amerikanischen Städte „weit größer sind“, als dass sie allein durch Managementfehler zu erklären wären. Die Schuldfrage ist komplexer, und Washington trägt dafür ebenso die Verantwortung wie die Regierungen der Einzelstaaten der Städte selbst. Aber leider steht Kildee mit dieser Einschätzung ziemlich allein.

Für Detroit – wie für andere bankrotte Gemeinden auch – besteht das drängendste Problem darin, den unmittelbaren finanziellen Verpflichtungen nachzukommen. In vielerlei Hinsicht steht die Stadt Ende 2013 etwa so da wie die Wall Street vor fünf Jahren, als bei den großen Finanzinstitutionen der USA die Kernschmelze drohte. Mit einem Unterschied: Auf die drohende Katastrophe der Wall Street hat der Kongress damals sofort reagiert. Er bewilligte ein Rettungsprogramm in Höhe von mehr als 800 Milliarden Dollar und versprach weitere Finanzhilfen für Banken und Finanzhäuser, die als „too big to fail“ galten. Ein vergleichbares Interesse an der Rettung der Städte sucht man heute vergebens.

Fußnoten: 1 Siehe Laurent Carroué, „Giganten auf tönernen Rädern. Wie die US-Automobilkrise chronisch wurde“, Le Monde diplomatique, Dezember 2008. 2 Siehe USA Today, 6. Dezember 2012. 3 Am 5. November wurde mit Mike Duggan ein neuer Bürgermeister gewählt, der sein Amt am 1. Januar 2014 antritt. Auch er wird allerdings dem Zwangsverwalter Kevyn Orr unterstellt sein. 4 Nach James Arkin, „Lindsey Graham’s plan to prevent city bailouts“, www.politico.com, 24. Juli 2013. 5 Siehe Thomas J. Sugrue, „The Rise and Fall of Detroit’s Middle Class“, The New Yorker, 22. Juli 2013. 6 John Nichols, „Cities Really Are Too Big to Fail“, The Nation, 22. Juli 2013. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke John Nichols ist Journalist und Autor (zusammen mit Robert W. McChesney) von „Dollarocracy: How the Money and Media Election Complex is Destroying America“, New York (Nation Books) 2013.

Le Monde diplomatique vom 13.12.2013, von John Nichols