09.07.2010

Thailands Schwächen

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Thailands Schwächen

Neun Wochen lang erschütterten die Massenproteste Thailand. Sie forderten 88 Todesopfer und 1 185 Verletzte. War das nun eine der folgenlosen Gewaltepisoden, wie das Land sie regelmäßig erlebt? Seit dem Ende der absoluten Monarchie 1932 gab es in Thailand elf erfolgreiche Staatsstreiche (die gescheiterten nicht mitgezählt), 18 Verfassungen und 27 Premierminister. In den letzten Jahrzehnten schien das Land einen Weg der demokratischen Konsolidierung einzuschlagen, auch wenn König Bhumibol (Rama IX.) 1973 und 1992 vermittelnd eingreifen musste, als nach der gewalttätigen Unterdrückung von Demonstrationen durch die Armee ein hochexplosives Klima im Land herrschte.

Die jüngsten Ereignisse als eine vorübergehende Erschütterung im unaufhaltsamen Aufstieg des „fünften asiatischen Tigers“1 allerdings überschreiten das übliche Maß der Kämpfe um Macht und Pfründen innerhalb der Bangkoker Elite (wo sich die Hälfte des nationalen Reichtums konzentriert). Sie sind das Ergebnis eines sozialen Unfriedens, der seit mehreren Jahrzehnten schwelt. Der Protest der armen Landbevölkerung richtet sich gegen eine geschlossene Elite, die „die Gleichheit nicht schätzt“2 und Macht und nationale Ressourcen monopolisiert.

Die konstitutionelle Monarchie wird nun nicht mehr als Lösung für den sozialen Unfrieden, sondern als eine seiner Ursachen angesehen. Im Land des Lächelns weht ein Hauch von Fin de règne: Die Sorge um die Nachfolge des Königs – er ist 82 Jahre alt und liegt seit September 2009 im Krankenhaus – ist groß. Und es beginnt eine neue, heikle Phase im langen Abkehrprozess vom Feudalregime, der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte. Unter den Königen Mongkut (Rama IV., 1851 bis 1868) und Chulalogkorn (Rama V., 1868 bis 1910) formierten sich nationalistische Kräfte, die von der Meiji-Restauration in Japan inspiriert waren3 . Ziel war es, die staatlichen Institutionen und die Wirtschaft zu modernisieren und gleichzeitig den westlichen Einfluss zu begrenzen. Diese Bemühungen mündeten 1932 in einer Revolution, die der absoluten Monarchie ein Ende setzte, aber ihre Versprechen, die sozialen Unterschiede zu vermindern, nicht halten konnte. Bis heute herrscht in Thailand eine hierarchische, beinahe feudalistische Ordnung.4

Oberflächlich betrachtet stehen sich zwei Lager gegenüber: die „Rothemden“, Anhänger des abgesetzten Premierministers Thaksin Shinawatra, und die „Gelbhemden“, Anhänger der aktuellen, nicht demokratisch gewählten Regierung von Abhisit Vejjajiva und Unterstützer der Monarchie. Die Rothemden, die vor allem aus den armen ländlichen Gegenden im Norden und Nordosten kommen, werden vom Bangkoker Establishment verachtet.

Den abgesetzten Thaksin als heimlichen Strippenzieher zu betrachten, hieße seine Rolle überbewerten; aber seine symbolische Funktion ist nicht zu unterschätzen. Er hat die Protestbewegung finanziell unterstützt, aber sie lebt vor allem von Spenden der Familien und sozialen Netzwerke des Nordens und der Arbeiterviertel von Bangkok. Je weiter sich die Bewegung im Wirtschaftszentrum der Hauptstadt entwickelte, desto lauter wurden die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und politischer Teilhabe.

Das symbolische Gewicht des einstigen Premiers hat damit zu tun, dass er während seiner Regierungszeit „ganz ungewollt zum Führer einer mächtigen Bewegung wurde, die aus der Tiefe der Gesellschaft kam“.5 Thaksin, der 2001 mit großer Mehrheit gewählt wurde, hat sich als Volkstribun neu erfunden, als starker Mann, der gegen die alte, sich an ihre Privilegien klammernde Elite kämpft. Seine Regierung hat Kleinkredit-Programme für die Dörfer aufgelegt, Subventionen für kleine Handwerksbetriebe vergeben und eine Gesundheitsreform durchgesetzt, die auch den Armen Zugang zu medizinischer Behandlung gewährt.

Zum ersten Mal erlebten die sozial Schwachen einen Premierminister, der ihre Verzweiflung nicht nur zur Kenntnis nahm, sondern auch die Mittel besaß, Veränderungen herbeizuführen.6 Deshalb hat Thaksins Ansehen weder durch die Vorwürfe der Vetternwirtschaft und Korruption noch durch seinen autoritären Regierungsstil gelitten: Unter seiner Führung soll es dreitausend außergerichtliche Tötungen angeblicher Drogendealer gegeben haben. Außerdem trägt er die Verantwortung für die brutale Unterdrückung des muslimischen Südens.

Der ehemalige Premierminister hat den Zorn der königsnahen Kreise geweckt, denn seine Pläne zur ländlichen Entwicklung bedrohten alte monarchische Vorrechte. Er wurde wegen Majestätsbeleidigung angeklagt und verdächtigt, insgeheim republikanische Ziele zu verfolgen. Auch die Putschisten, die ihn 2006 absetzten, gaben vor, die Monarchie schützen zu wollen. General Prem Tinsulanonda, früherer Premierminister und Vorsitzender des thailändischen Kronrats, soll sie ermutigt haben.

Der Staatsstreich hat jedoch seine wichtigsten Ziele verfehlt. Die Neuwahlen von 2007 brachten erneut Thaksins Partei an die Macht – unter einem anderen Namen. Im Norden und Nordwesten sowie in den Armenvierteln von Bangkok war es ein wahrer Erdrutschsieg. Nach den Demonstrationen der Gelbhemden und der Ausrufung des Ausnahmezustands7 wurde der Premierminister der Thaksin-Nachfolgepartei PPP abgesetzt. Im Dezember 2008 kam Abhasit Vejjajiva an die Macht, unterstützt von einer Koalition aus Königstreuen und Angehörigen der bürgerlichen Bangkoker Mittel- und Oberschicht. Die Gelbhemden verlangten eine Verfassungsänderung, die den Anteil der per Dekret ernannten Mitglieder des Parlaments erhöhen und so die Einsetzung einer Technokratenregierung ermöglichen sollte.

Dieser politische Kampf spiegelt die tiefen Abgründe zwischen verschiedenen Regionen und sozialen Klassen in der streng hierarchischen Gesellschaft Thailands. Die Armee bekämpfte die Rothemden, tolerierte jedoch die Demonstrationen der Gelbhemden, die das Land monatelang lähmten. Auch der Königspalast unterstützte die Gelben diskret. Die Realität der Klassenwidersprüche wurde im thailändischen Alltag plötzlich sichtbar.

Der Traum, zu kaufen statt zu arbeiten

Solche Widersprüche waren auch früher schon zutage getreten: Beispielsweise kämpfte die Bewegung der landlosen Bauern in den 1970er Jahren für eine Umverteilung des Bodens und die Anerkennung ihrer Grundrechte. Von der wirtschaftlichen Umwälzung der letzten 50 Jahre haben zwar fast alle profitiert, und der Bevölkerungsanteil, der von weniger als zwei Dollar pro Tag leben muss, ist von 57 Prozent Anfang der 1960er Jahre auf heute 11,5 Prozent gesunken;8 doch der Aufschwung hat auch neue Ungerechtigkeit hervorgebracht: Mit einem Gini-Koeffizienten9 von 0,42 gehört Thailand zu den Ländern Ostasiens mit der größten Ungleichheit, größer als in China (0,41) und nur knapp vor den Philippinen (0,44). Die wohlhabendsten 20 Prozent der Thailänder besitzen 66 Prozent des Reichtums, die ärmsten 20 Prozent nur 1 Prozent.10

Das thailändische Wirtschaftswunder stand wie in vielen anderen Schwellenländern der Region auf zwei Säulen: Zum einen die mobilen und billigen Arbeitskräfte, die vom Land in die Städte zogen, um in Fabriken zu arbeiten oder Dienstleistungen anzubieten. Zum anderen die Bauern, die billige Nahrungsmittel für die Städter produzierte. Die Dörfer dienten gleichzeitig als soziales Sicherheitsnetz und fingen in Zeiten wirtschaftlichen Abschwungs die urbane Arbeitslosigkeit auf. Während der Krise 1997 und 1998 bewahrte dieser Mechanismus Thailand vor der sozialen Explosion, die alle erwartet hatten. Doch dieses Modell hat die regionale Ungleichheit und die Segmentierung des Landes noch verstärkt. Die Einwohner des Großraums Bangkok sind im Durchschnitt achtmal so reich wie die der Nordostprovinz Isaan und fünfmal so reich wie die anderer Nordprovinzen.

Andere Länder in der Region haben ein ähnliches Wohlstandsgefälle, aber bis heute gab es nirgends eine vergleichbare Explosion. Dass es in Thailand dazu kam, hat mit der politischen Konstellation zu tun: Thaksin hatte sich an die Spitze einer neuen Bewegung gestellt, deren Basis nicht in Bangkok lag. Für die Armen war er ein Held, denn er hat ihnen eine Stimme und das Gefühl gegeben, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können. Seine Wahl 2001 und seine Wiederwahl schienen zu zeigen, dass der gesellschaftliche Fortschritt über die Wahlurnen möglich ist. Die Armen erfüllte die Hoffnung, eines Tages in den Einkaufsvierteln tatsächlich Waren kaufen zu können, anstatt dort nur Schutz vor Hitze und Feuchtigkeit zu suchen, die Straßen zu fegen und Geschirr zu waschen. Die letzte Aktion der Demonstranten war nicht zufällig die Zerstörung des größten Konsumtempels von Bangkok, der „Central World“-Shoppingmall.

Aus soziologischer Sicht waren die politischen Auseinandersetzungen um mehr Demokratie 1973 und 1992 Kämpfe innerhalb der Eliten. Die aufstrebende Mittelschicht beanspruchte eine stärkere politische Rolle, und das System musste sich darauf einstellen, sie zu integrieren. Daraufhin glaubten auch andere soziale Gruppen, sie könnten ihre Forderungen auf demokratischem Wege oder zumindest durch gewaltfreien zivilen Ungehorsam durchsetzen. Anders als andere asiatische Demokratien, die sich früher und tiefgreifender modernisierten (wie Japan, Südkorea oder Taiwan), konnte oder wollte das thailändische System diesen Bestrebungen der unteren Schichten jedoch nicht entgegenkommen.

Seit 1992 war die Demokratisierung Thailands eher formal als substanziell. Hinter der demokratischen Fassade beherrschen drei Schlüsselinstitutionen das Land: die Zivil- und Militärbürokratie, der Sangha – der buddhistische Klerus – und der paternalistische Monarch, der sich demonstrativ aus allem heraushält.11 Mit ihrem Einfluss und der verbreiteten Günstlingswirtschaft ist und bleibt die Monarchie die entscheidende Säule des Systems. Aber sie bröckelt.

Die seit 1946 andauernde Herrschaft von König Bhumibol geht auf ihr Ende zu, und es gibt Zweifel an der Einheit der Dynastie und ihrer Fähigkeit, auch künftig zu herrschen. In dem blutigen Drama auf den Straßen von Bangkok zeigte sich die Königsfamilie, die von den Rothemden als parteiisch wahrgenommen wurde, als unfähig oder nicht bereit zur Versöhnung.

Bilder des Königs fehlten bei den Demonstrationen. Mehr noch, auf lokaler Ebene wurden die Rolle und die Zukunft der Monarchie nicht nur von den Rothemden infrage gestellt, sondern auch von Intellektuellen, die sich um eine Lösung des Konflikts bemühten. Selbst Armee und Polizei waren während der Auseinandersetzungen gespalten.

Inzwischen ist in Bangkok wieder Ruhe eingekehrt. Die Anführer der Protestierenden haben entweder aufgegeben oder sie sind geflohen. Die letzten Demonstranten, die in einem buddhistischen Tempel Zuflucht gefunden hatten, wurden auf Kosten der Regierung in ihre Dörfer im Norden zurückgebracht. Premier Abhisit Vejjajiva hat sein Angebot vorgezogener Neuwahlen zurückgezogen und predigt gleichzeitig Versöhnung. Allem Anschein nach haben Regierung und Armee die Macht wieder fest in der Hand. Aber der schwelende soziale Konflikt kann jederzeit wieder aufflammen. Und dann möglicherweise die Monarchie hinwegfegen.

David Camroux / Philip Golub

Fußnoten: 1 Robert Muscat, „The Fifth Tiger: A Study of Thai Development Policy“, New York (United Nations University Press) 1994. 2 Pasuk Phonpaichit, New Mandala, 4. September 2007. 3 Chris Baker und Pasuk Phongpaichit, „A History of Thailand“, Cambridge (Cambridge University Press) 2009. 4 Siehe auch Charlotte Wiedemann, „Thailändisches Dekor“, Le Monde diplomatique, Juni 2010. 5 Siehe Anmerkung 3. 6 Pasuk Phongpaichit und Chris Baker, „Thaksin“, Chiang Mai (Silkworm Books), 2009. 7 Siehe Xavier Monthéard, „Thaïlande, au coeur de la revolution jaune“, Online-Blog vom 15. September 2008: blog.mondediplo.net/2008-09-15-Thailande-au-coeur-de-la-Revolution-jaune. 8 Angaben der Asiatischen Entwicklungsbank. Siehe Zhuang Juzhong (Hg.), „Poverty, Inequality and Inclusive Growth in Asia“, London (Anthem Press) 2010, S. 3. 9 Der Gini-Koeffizient gibt das Ausmaß ungleicher Einkommensverteilung an: 0 entspricht der perfekten Gleichheit (alle haben das gleiche Einkommen), 1 der völligen Ungleichheit (das gesamte Volkseinkommen gehört einer einzigen Person). 10 Angaben der Zentralbank, zitiert in: Bangkok Post, 22. März 2010. 11 Maurizio Peleggi, „Thailand: The Worldly Kingdom“, London (Reaktion Books) 2007.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz David Camroux ist Wissenschaftler an der Science Po/Centre d’études et de recherches internationales). Philip Golub ist Gastprofessor für Internationale Beziehungen am Institut d’études européennes in Paris und der American University of Paris.

Was wann war

1932 In einem unblutigen Staatsstreich wird die konstitutionelle Monarchie durchgesetzt.

1939 Siam wird in Thailand umbenannt.

1946 Nach seiner Rückkehr wird der heutige König Bhumibol Adulyadei Staatsoberhaupt des Königreichs Thailand.

1950 Bhumibol Adulyadej wird zeremoniell gekrönt.

1965 Thailand wird während des Vietnamkriegs zur US-amerikanischen Militärbasis.

1973 Eine parlamentarischen Regierungsform wird eingeführt und 1976 durch eine Militärjunta beendet. Bis 1992 folgen verschiedene Generäle aufeinander.

1992 Die Demokratische Partei siegt bei den Parlamentswahlen.

2001 Nach dem Wahlsieg seiner Partei Thai Rak Thai wird der Geschäftsmann Thaksin Shinawatra Ministerpräsident.

2006 Erneuter Militärputsch. Thaksin wird abgesetzt. Bei den Wahlen 2007 wird die Thaksin-Nachfolgepartei PPP stärkste Kraft.

2008 PPP-Chef Samak Sundaravej bildet eine Regierung und wird Ministerpräsident. Die Gelbhemden demonstrieren gegen die Regierung und besetzen die beiden internationalen Flughäfen von Bangkok. Die PPP wird verboten. Abhisit Vejjajiva wird Ministerpräsident.

2010 Die mehrere Wochen andauernden Proteste der Rothemden in Bangkok werden von der Armee niedergeschlagen. Insgesamt 88 Menschen sterben.

Le Monde diplomatique vom 09.07.2010, von David Camroux und Philip Golub