09.07.2010

König, Bürger, Bauern

zurück

König, Bürger, Bauern

Bilder von der gescheiterten Revolte in Thailand von Xavier Monthéard

Während die Armee am Abend des 12. Mai 2010 die Erstürmung des Lagers der „Rothemden“ vorbereitet, sitzt Laem ruhig auf seiner abgewetzten Matte und freut sich: „Jetzt begreift jeder, was in Thailand wirklich los ist. Wir müssen nichts mehr erklären. Das verdanken wir den Gelbhemden und dem Staatsstreich von 2006, lang lebe die Königin!“ Laem, sein fein geschnittenes Intellektuellengesicht lässt es ahnen, ist ein großer Rhetoriker. „Als die Rothemden im März nach Bangkok marschierten, wollten sie nur die Auflösung des Parlaments erzwingen. Seit dem Massaker vom 10. April1 hat sich das Ziel geändert. Die Monarchie hat die Maske fallen lassen. Aber wir können jetzt noch nicht weitergehen, wir sind noch nicht bereit. Stellen Sie sich vor, Sie betreten einen Boxring und erwarten einen ebenbürtigen Gegner. Aber plötzlich stehen Sie vor Mike Tyson. Sie sind noch nicht bereit. Sie müssen noch länger trainieren. Unser Mike Tyson ist der König.“

Solche Sätze können dem Sprecher mehrere Jahre Gefängnis wegen Majestätsbeleidigung einbringen. Seit der Absetzung von Premierminister Thaksin Shinawatra durch die Armee im September 2006 hält sich Laem – ein Deckname – mit solchen Reden aber nicht mehr zurück. „Ich fahre durchs Land und rede über Politik; auf den Reisfeldern, in den Häusern, den Tempeln. Nur drei Bedingungen gibt es, zur Sicherheit: keine Namen, keine Mitschnitte, keine Fotos.“ Er zeigt uns die illegale Übersetzung eines in Thailand verbotenen Buchs: „The King Never Smiles“2 , der einzigen kritischen Biografie von Bhumibol Adulyadei, seit 1946 König der konstitutionellen Monarchie. „Ich stelle den Bauern immer zwei Fragen. Zuerst: Was hat euch der König konkret gegeben? Manchmal überlegen sie zehn Minuten, ohne zu antworten. Dann kommt die zweite Frage: Und was hat Thaksin euch gebracht? Da sprudelt es aus ihnen heraus, in sechs Jahren hat Thaksin im Herzen der Menschen mehr bewegt als der König in sechzig. Das ist der einzige, der wahre Grund, warum Thaksin abgesetzt wurde.“

Die meisten Demonstranten dachten nicht so weit. Sie wollten nur, dass Premierminister Abhisit Vejjajiva zurücktritt, der im Dezember 2008 an die Macht kam. Davor hatten die „Gelbhemden“, eine außerparlamentarische Bewegung, die sich als Verteidiger der Monarchie und der Moral in der Politik sieht, die Justiz dazu gebracht, nacheinander zwei Premierminister der People’s Power Party (PPP) abzusetzen und die Partei aufzulösen. Die PPP unterstützte Thaksin, der im Oktober 2008 wegen Korruption zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden war und sich im Ausland aufhält.

Jat Ubon ist eine glühende Bewunderin des einstigen starken Mannes im Königreich. Vor einer roten Fahne des des FC Liverpool zeigt sie stolz ihre Mitgliedskarte der „Nationalen Demokratischen Front gegen die Diktatur“ (UDD)3 , die sie hier für 50 Baht (etwas mehr als ein Euro) bekommen hat. „Früher interessierte sich in unserem Dorf niemand für die Politik, seit Thaksin schon. Wir haben angefangen zu begreifen, dass eine Regierung wirklich Macht hat, dass sie gegen Drogen vorgehen, sich für Bildung und Gesundheit einsetzen kann.“ Jat Ubon erinnert an die Sozialprogramme, die Thaksin so populär gemacht haben: Einheitspreis für alle ärztlichen Behandlungen (30 Baht, weniger als ein Euro), Zuteilung eines Fonds von einer Million Baht pro Dorf, zinslose Kredite für die Bauern. „Am 8. Februar gab es in meiner Provinz Khon Kaen eine große Versammlung. Danach haben wir im Dorf ausgehandelt, wer nach Bangkok geht. Wir haben Geld für Essen und Benzin gesammelt. Ich bin seit dem 12. März in der Hauptstadt, und ich bleibe, bis das Parlament aufgelöst wird!“

Wie sie haben Zehntausende die Nordregionen Thailands verlassen, um das Bangkoker Einkaufsviertel Ratchaprasong zu besetzen. Die dadurch verursachten finanziellen Verluste werden auf mehrere hundert Millionen Euro geschätzt. Ratchaprasong ist kein gewöhnlicher Ort. Es ist der Stolz der Bangkoker und eines der ökonomischen Symbole des Landes. In den vornehmen Hotels und Einkaufszentren drängen sich normalerweise Touristen, Geschäftsleute und die Mittelschicht des Landes. Jetzt hat das Schild „Welcome to Ratchaprasong“ am Fuße der riesigen Werbetafel einer italienischen Modemarke Konkurrenz bekommen: „Willkommen in Thailand. Wir wollen nichts als Demokratie“.

Doch im restlichen Bangkok will man nichts davon hören. „Die werden dafür bezahlt, dass sie herkommen!“ Die Medien verbreiten, die Rothemden hätten weder klare Vorstellungen noch seien sie unabhängig. Tatsächlich würde niemand bestreiten, dass die oppositionelle Puea Thai Partei einen Teil der Logistik finanziert, die UDD bezeichnet sich schließlich selbst als deren außerparlamentarischen Arm. Und obwohl Thaksin es leugnet, kann man sich kaum vorstellen, dass ein Multimilliardär wie er in einen Kampf investiert, aus dem er sich keinen persönlichen Gewinn erhofft.4 Trotzdem kann man die Rothemden nicht als Marionetten bezeichnen, als Opfer einer Gehirnwäsche durch böswillige Propaganda, wie es in den letzten Monaten von verschiedenen Seiten getan wurde.

Angst vor den dunkelhäutigen Barbaren des Nordens

Die Rothemden, die meist nicht das offizielle Thai sprechen, sondern eine Mischung aus Thai und Lao, werden als ungebildete Provinzler betrachtet und oft als Horden von Barbaren oder Büffeln karikiert, die man in ihre Dörfer zurückschicken müsse. Der thailändische Historiker Thongchai Winichakul von der Universität Wisconsin hat die unbewussten Vorstellungen der wohlhabenden Bangkoker analysiert, die die Rothemdenals „schmutzig, hässlich, vulgär, von niederem Rang, kurz: als bannoks (‚Bauerntölpel‘)“ wahrnehmen. Eine Frau erzählt auf ihrer Facebook-Seite, sie sei entsetzt über die „Roten“: „die schwarze Haut und die schmutzig-hässlichen, groben Gesichter. (…) Krungthep, die Engelsstadt [thailändischer Name für Bangkok] ist das Opfer einer Invasion durch die unsauberen, schmutzigen und vulgären Bauernbazillen.“5

Dabei könnte es Bangkok ohne die Menschen aus der Nordprovinz Isaan so nicht geben. „Ohne diese anpassungsfähigen Arbeiter gäbe es kein thailändisches Wirtschaftswunder. Aber diese schlichte Einsicht wird durch die nationale Legende verhindert, die in den Grundschulen gelehrt wird und eine wohlwollende Monarchie in einer harmonischen buddhistischen Weltordnung beschreibt. Diese Vorstellung wird durch die Vorwürfe der Rothemden massiv infrage gestellt.“ Der Generalkoordinator der Gelbhemden, Suriyasai Katasila, den wir am 3. Mai trafen, sagte im Grunde dasselbe, aber natürlich formulierte er es anders: „Die Roten versuchen, einen Klassenkonflikt zu schüren, indem sie die Armen aufhetzen, aber das wird nicht funktionieren. Warum? Weil unser Gesellschaftssystem und unsere Kultur immer noch sehr lebendig sind. In Thailand gibt es keine Klassen. Trotz der Unterschiede in Rang und Reichtum helfen wir uns gegenseitig. Die primitive Propaganda, diese Agitation sind in der Vergangenheit gescheitert – und sie werden wieder scheitern.“

Suriyasai spricht hier von den Gruppen, aus denen die Rothemden hervorgingen, der Gruppe Red Siam oder der June 24-Group, die sich auf die „unvollendete Revolution“ vom 24. Juni 1932 bezog (siehe Chronologie), und von den Websites Fah Diew Kann und Prachatai, die von der Regierungszensur gesperrt wurden. In diesen bunt zusammengewürfelten Gruppen sammeln sich auch ehemalige Mitglieder der Kommunistischen Partei Thailands (KPT), die am bewaffneten maoistischen Aufstand in den 1970er und 1980er Jahren teilgenommen haben und inzwischen amnestiert sind. Obwohl diese Exkommunisten eine winzige Minderheit darstellen, werden sie in den Medien besonders oft präsentiert.

Einer von ihnen ist Jaran Ditapichai. Doch er macht Unterschiede: „Die Roten sind keine Kommunisten, der Kommunismus ist in Thailand nicht mehr populär. Der Unterschied ist, dass diese Bewegung Demokratie will, keine Diktatur des Proletariats.“

Anuthee Dejthevaporn, der 22-jährige Generalsekretär der Thailändischen Studentenvereinigung (SFT), sieht das differenzierter: „Manche ehemaligen KP-Anhänger sind der orthodoxen maoistischen Theorie treu geblieben. Die Feudalgesellschaft muss zunächst durch den Kapitalismus ersetzt werden. Und Thailand ist immer noch eine Monarchie. Thaksin ist also der Unternehmer, der die alte Ordnung sprengt. Deshalb unterstützen ihn die Maoisten. Wenn die Monarchie verschwände, würden sie ihn bekämpfen.“

Zwei Worte bestimmen den politischen Diskurs der „Roten“: phrai und ammat. Zwei Worte mit ungenauer Bedeutung aber explosivem Inhalt. „Bei beiden Begriffen muss man die traditionelle und die moderne Verwendung unterscheiden“, erklärt François Lagirarde, der das französische Fernostzentrum (EFEO) in Bangkok leitet. „Phrai bedeutet thailändischer Bürger, frei, aber zur Fron verpflichtet. Jeder phrai (es gab unterschiedliche Kategorien) gehörte zu einem Grundbesitzer oder Notabeln, für den er arbeiten oder dem er Abgaben zahlen musste. Heute steht das Wort bei den Roten für die Unterdrückten und Ausgebeuteten. Mit ammat bezeichnete man hingegen alle Menschen am Hof, Minister, Ratgeber, Notabeln, Grundeigentümer und reiche Beamte im direkten Dienst des Adels. Heute wird das Wort für die bürgerliche, städtische Elite verwendet, für die Neureichen an den Schalthebeln des Staats wie die berüchtigten privaten Berater des Königs, die von den Roten geschmäht werden.“

Die ideologische Wiederaufrüstung begann Ende 2008, als drei Führer der UDD, Veera Muskhapong, Jatuporn Prompan und Natthawut Saikua, in der Fernsehsendung „Truth Today“ die Zuschauer dazu aufriefen, bei einer Demonstration in der Zentralprovinz Nothaburi rote Hemden zu tragen. Im Dezember hielt Natthawut vor dem Parlament die erste große Rede der Bewegung: „Wir sind das Salz der Erde. Wir sind die Vernachlässigten. Wir sind in diesem Land geboren und aufgewachsen, hier tun wir jeden unserer Schritte. So sind wir mit beiden Füßen fest im Boden verwurzelt, aber weit weg vom Himmel! (…) Ich glaube an die Macht der ‚Rothemden‘. Ich glaube, dass ihre Zahl von Tag zu Tag, von Minute zu Minute wächst und dass unsere Stimme den Himmel erreichen wird.“6

Wir sind in der Provinz Samut Prakan, dreißig Kilometer südlich von Bangkok, in einem einfachen Stadtviertel. Das Auto fährt in ein Parkhaus. Reifenstapel liegen bereit, um bei Gefahr den Zugang zu blockieren. Leute wachen neben den Wasser- und Lebensmittelvorräten. Hier ist ein wichtiger strategischer Ort der „Roten“: ein Radiosender. Sein Eigentümer, der Puea-Thai-Abgeordnete Peera Pringhklong, sitzt lächelnd in seinem Sessel: „Ja, die Regierung würde unseren Sender gern ausschalten, wie sie es mit hundert anderen gemacht hat. Aber die Polizei traut sich nicht her. Wenn sie es täte, würden wir einen Aufruf senden, und in kürzester Zeit wären tausende Menschen hier, um uns zu helfen.“ Der Sender verbreitet rund um die Uhr ein halb politisches, halb kommunales Programm. „Die Zuhörer sprechen mit uns über ihre Probleme, sie sind es, die uns die Informationen liefern, Zuhörer und Radio bilden ein Netz. Die meisten Sprecher arbeiten ehrenamtlich.“

Im Ratchaprasong-Viertel dämmert der Morgen. Die roten Führer sind in ihrem Element. Der frühere Sänger Arisman Pongruangrong, bei dessen türkisfarbenem T-Shirt man gleich an Schnulzen denken muss, beendet eine martialische Rede und stimmt eine süßliche Ballade an, die die Menschen munter macht. Dann lässt er die traditionelle rhythmische Musik des Isaan erklingen. Jatuporn Promp von der UDD legt seine Cohiba-Zigarre weg und stellt sich an die Trommeln. Umarmungen. Politik und Spektakel, mörderische Gerüchte und männliche Posen: Das ist die Mischung, die hier auf riesigen Leinwänden und mächtigen Tonanlagen und im Rest des Landes durch die Lokalradios und People TV verbreitet wird. Information, Emotion, Doktrin.

Der „rote“ Diskurs ist so kraftvoll, weil er auf zwei Ebenen operiert. Die eine ist poetisch eingängig, schlicht, manchmal demagogisch und kaum offen ideologisch. Sie wird verkörpert durch die Großmäuler, die das Klischee vom ungehobelten Bauern bis zur Karikatur übertreiben, um die Verachtung, mit der sie behandelt werden, auf die Spitze zu treiben. Der zweite unterschwellige Diskurs wird von kampferfahrenen Aktivisten geführt, die durch die Brutalität der militärischen Unterdrückung – die in Thailand seit den 1950er Jahren existiert – verbaler Vorsicht, Diskretion oder gar in die Illegalität gezwungen wurden. Man kann zum Beispiel keine Partei gründen, deren Name die Begriffe „kommunistisch“, „sozialistisch“ oder „revolutionär“ enthält. Die Anklage wegen Majestätsbeleidigung droht bei jeder Kleinigkeit, weil es auch für den leisesten Ansatz einer rationalen Kritik an der Monarchie keinen Raum gibt. Das Wort „Republik“ ist verpönt. Der 82-jährige König liegt seit September 2009 im Krankenhaus. Der Groll gegen die höchsten Vertreter des Königreichs wurde noch genährt durch das Verhalten der Königin, die als Sympathisantin der Gelbhemden gilt.

Laem auf seiner abgewetzten Matte lächelt: „Mit den Rothemden gibt es zum ersten Mal in der Geschichte Thailands eine Struktur auf Distrikt- und sogar Dorfebene. Zum ersten Mal organisieren sich die Menschen selbst. Es macht nichts, dass die meisten Bauern immer noch die Monarchie respektieren. Solche Dinge entwickeln sich schnell. Die Rothemden sind nicht wie eine Melone. Wenn du eine Melone aufschneidest, sind beide Hälften gleich. Die Rothemden sind eher wie eine Weintraube. Die Beeren sind unterschiedlich. Aber sie gehören zur selben Traube.“

Fußnoten: 1 „Schwarzer Samstag“, beim Vorgehen des Militärs gegen Demonstranten gab es 25 Tote und 839 Verletzte. 2 Paul Handley, „The King Never Smiles. A Biography of Thailand’s Bhumibol Adulyadej“, New Haven (Yale University Press) 2006. 3 Die Protestbewegung UDD wurde nach Thaksins Absetzung im September 2006 gegründet. 4 Thaksin, gegen den am 25. Mai ein Haftbefehl wegen terroristischer Aktivitäten erlassen wurde, kämpft auch um die Rückgabe von rund einer Milliarde Euro beschlagnahmten Vermögens. 5 Siehe Thongchai Winichakul, „The ‚germs‘: the reds’ infection of the Thai political body“, 3. Mai 2010, asiapacific.anu.edu.au/newmandala. 6 Siehe Adadol Ingawanij, „The speech that wasn’t televised“, asiapacific.anu.edu.au/newmandala.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz Xavier Monthéard ist Journalist und Asienexperte.

Was wann war

1932 In einem unblutigen Staatsstreich wird die konstitutionelle Monarchie durchgesetzt.

1939 Siam wird in Thailand umbenannt.

1946 Nach seiner Rückkehr wird der heutige König Bhumibol Adulyadei Staatsoberhaupt des Königreichs Thailand.

1950 Bhumibol Adulyadej wird zeremoniell gekrönt.

1965 Thailand wird während des Vietnamkriegs zur US-amerikanischen Militärbasis.

1973 Eine parlamentarischen Regierungsform wird eingeführt und 1976 durch eine Militärjunta beendet. Bis 1992 folgen verschiedene Generäle aufeinander.

1992 Die Demokratische Partei siegt bei den Parlamentswahlen.

2001 Nach dem Wahlsieg seiner Partei Thai Rak Thai wird der Geschäftsmann Thaksin Shinawatra Ministerpräsident.

2006 Erneuter Militärputsch. Thaksin wird abgesetzt. Bei den Wahlen 2007 wird die Thaksin-Nachfolgepartei PPP stärkste Kraft.

2008 PPP-Chef Samak Sundaravej bildet eine Regierung und wird Ministerpräsident. Die Gelbhemden demonstrieren gegen die Regierung und besetzen die beiden internationalen Flughäfen von Bangkok. Die PPP wird verboten. Abhisit Vejjajiva wird Ministerpräsident.

2010 Die mehrere Wochen andauernden Proteste der Rothemden in Bangkok werden von der Armee niedergeschlagen. Insgesamt 88 Menschen sterben.

Le Monde diplomatique vom 09.07.2010, von Xavier Monthéard