10.09.2010

Rund ums Schwarze Meer

zurück

Rund ums Schwarze Meer

von Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin

Sinope (Türkei)

Als sich am 1. Mai diesen Jahres die Gewerkschafter auf dem Atatürk-Platz versammelten, hatten die Fischkutter im Hafen von Sinope das Banner der Anti-Atom-Bewegung geflaggt: „Sinop Nükleer istemiyor!“ – „Sinope will kein Atomkraftwerk!“

Das Bauvorhaben, das seit Jahren in Planung ist, erregt den Zorn der Bürger dieser türkischen Kleinstadt am Schwarzen Meer. Noch ist die 700 Kilometer lange Küste von Istanbul bis Sinope in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten, doch von Sinope bis hin zur georgischen Grenze ist das Ufer über fast 600 Kilometer Länge vollständig zubetoniert. Eine Autobahn trennt die Städte vom Meer. Überall sprießen neue Siedlungen wie Pilze aus dem Boden. In den halbfertigen Häusern wohnen die Leute aus den Bergen, die erst kürzlich zugezogen sind, in der Hoffnung auf ein besseres Leben.

Die Autobahn wurde zum Teil auf Land gebaut, das dem Meer abgerungen wurde und heute von Erosion bedroht ist. Alle paar Kilometer hat man zwar vorsorglich Deiche aus Beton errichtet, aber damit wurde die Lage womöglich noch verschlimmert, denn die Deiche blockieren die Strömungen, Sedimente lagern sich ab und das Problem verlagert sich nur ein paar hundert Meter weiter. Manchmal gehen im Schutz der Dämme Fischkutter vor Anker, doch weil man, um diese neuen Häfen zu erreichen, erst die Autobahn überqueren muss, gibt es dort keinerlei Service. Viele Boote, die hier liegen geblieben sind, machen einen verlassenen Eindruck.

Die einst florierende türkische Fischerei im Schwarzen Meer ist bedroht, nicht nur weil Russland der Türkei eine strenge Begrenzung der Fangzonen auferlegt hat. Vor allem ist das Regionalmeer, an das sechs Länder angrenzen – Rumänien, Bulgarien, die Türkei, Georgien, Russland und die Ukraine – stark von Eutrophierung betroffen, das heißt, es wächst zu viel organisches Material im Wasser, vor allem Algen. Dieses Phänomen ist eine direkte Folge der landwirtschaftlichen Überdüngung. Die Mineralien ersticken das Meer und zehren den verfügbaren Sauerstoff auf; dieser Vorgang läuft im Schwarzen Meer verstärkt ab, da es sich vor allem aus großen Flüssen wie dem Dnjestr und der Donau speist und daher relativ salzarm ist.

Verschiedene zwischenstaatliche Organisationen wie die Schwarzmeerkommission weisen seit Jahren auf das Problem hin; aber da sie keinerlei Handlungsbefugnis haben, können sie nur Empfehlungen aussprechen.1 Der Schutz von Natur und Umwelt scheint den Anrainerstaaten nicht besonders am Herzen zu liegen.

Nachdem die Küste zubetoniert war, begann die türkische Regierung auf den Ausbau der Stromerzeugung zu setzen. Seit vor 15 Jahren der Energiemarkt privatisiert wurde und der staatliche Erzeuger Türkiye Elektrik Kurumu seinen Monopolstatus einbüßte, wurden zahlreiche Staudammprojekte angeschoben. Zwar lässt die Regierung sämtliche Aktivitäten auf dem neuen Energiemarkt durch eine eigens gegründete Behörde zur Regulierung des Energiemarkts (EPDK) kontrollieren. Doch die Küsten überließ sie – mit Betriebskonzessionen von 49 Jahren Laufzeit – den privaten Stromkonzernen. Insgesamt wurden nicht weniger als 1 300 Dammbauvorhaben im gesamten Land eingereicht, davon 600 in der Schwarzmeerregion.

„Es gab Proteste, deshalb konnte der Kraftwerksbau in unserem Tal vorläufig aufgeschoben werden“, sagt Selco Günay, der im Firtina-Tal ein kleines Hotel betreibt und Sprecher der lokalen Umweltbewegung ist. „Dieser Damm hätte 0,14 Prozent des landesweiten Energiebedarfs gedeckt, aber nach unseren Schätzungen belaufen sich die Verluste beim Energietransport auf mehr als 30 Prozent im gesamten Stromnetz.“ Die gesamte Einwohnerschaft der Region beteiligt sich an den Anti-Staudamm-Protesten. Die Türkei, die früher Strom aus Bulgarien ankaufen musste, ist inzwischen Selbstversorger; die Energieunternehmen setzen jetzt auf den Export, vor allem in den Kaukasus, während in den großen Städten wie Istanbul die Preise steigen.

Samsun (Türkei)

Die Tscherkessen in Samsun essen seit sechs Generationen keinen Fisch mehr. Warum, das erzählt uns Othan Dögbay, der Vorsitzende des Tscherkessenvereins am Ort: „Unsere Vorfahren siedelten an der gesamten heutigen russischen Küste, von Noworossisk bis nach Sotschi. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wollten die Zaren unbedingt auch Tscherkessien2 erobern. Mit der Zerschlagung der tscherkessischen Stämme in der Schlacht von Kbaada war das Ziel 1864 dann endgültig erreicht. Den Überlebenden blieb keine Wahl. Sie sammelten sich an den Küsten und flüchteten hinüber ins Osmanische Reich.3 Viele sind in diesen ungesunden Gegenden an Malaria und anderen Krankheiten gestorben; andere sind schon während der Überfahrt umgekommen. Man warf die Leichen über Bord. Deswegen essen wir bis heute keinen Fisch.“

Für die türkischen Tscherkessen (insgesamt sollen es zwischen 4 und 5 Millionen sein) gibt es einen wichtigen Grund, sich gegen die Pläne für die Olympischen Winterspiele zur Wehr zu setzen, die 2014 in Sotschi stattfinden sollen: Die Wettkämpfe sollen nämlich zum größten Teil in den Bergen oberhalb des Wintersportorts Krasnaja Poljana abgehalten werden, dort, wo einst die Schlacht von Kbaada stattfand. „Krasnaja Poljana heißt auf Russisch die rote Lichtung, und die Russen behaupten, der Name käme von der Farbe der Farne, die dort wachsen. Aber wir wissen, dass dieser Ort mit dem Blut unserer Vorfahren getränkt wurde“, sagt Dögbay.

Die tscherkessischen Vereine haben sich an das Internationale Olympische Komitee gewandt, aber keine zufriedenstellende Antwort erhalten. Sie verlangen, dass der Genozid an den Tscherkessen anerkannt wird. Anfang April traf sich eine Delegation des tscherkessischen Weltkongresses, der seinen Sitz in den USA hat, mit georgischen Parlamentsabgeordneten. Da die Regierung von Michail Saakaschwili Moskau mit allen Mitteln bekämpft, könnte Georgien das erste Land der Welt sein, das den Völkermord an den Tscherkessen offiziell anerkennt.

Trabzon (Türkei)

Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich die Bevölkerung der Schwarzmeerküste stark verändert. So sind die Pontos-Griechen4 seit dem Vertrag von Lausanne 1923, dem ersten umfassenden und vertraglich vereinbarten Bevölkerungsaustausch der Geschichte, praktisch völlig von den türkischen Ufern verschwunden. Trabzon, das alte griechische Trapezunt, gilt als Hochburg des türkischen Nationalismus. Aus dieser Stadt stammt auch der mutmaßliche Mörder des armenischen Journalisten Hrant Dink, der am 19. Januar 2007 in Istanbul erschossen wurde.5

Gültekin Yücesan leitet das Bürgerrechtskomitee von Trabzon. Im Laufe eines langen Abends erzählte er uns unter anderem, dass seine Heimatstadt für die Armee und die verschiedenen Geheimdienste immer noch eine symbolische Bedeutung hat: „Bei uns ist die militärische Tradition des Kemalismus6 noch nicht tot.“ Trotzdem ist das Stadtbild von einem immer strengeren und immer mehr zur Schau getragenen Islam geprägt. Nur noch in den Bars im Hafenviertel wird Alkohol offen ausgeschenkt. Die Prostituierten sprechen lieber russische Matrosen auf der Durchreise an als die türkischen Männer.

Es gibt einen täglichen Fährverkehr von Trabzon nach Sotschi. Die Schiffe sind uralt und der Fahrplan nicht verlässlich, aber beim Einsteigen drängt sich eine geschäftige Menge am Kai. Unter unseren Reisegefährten sind Russinnen, die im sogenannten Koffergeschäft unterwegs sind und haufenweise Kleidung oder andere leicht verkäufliche Sachen nach Hause transportieren, sowie nach Russland ausgewanderte georgische Arbeiter, die über die Türkei reisen müssen, weil seit dem Krieg von 2008 alle direkten Verbindungen zwischen ihrer Heimat Georgiern und Russland gekappt sind, außerdem viele Kaukasier.

Eine Gruppe sportlich wirkender junger Männer, die sich auf Russisch und in einer kaukasischen Sprache unterhalten, schleppt riesige Ballen an Bord. Bei der türkischen Zollkontrolle stellt sich später heraus, dass in diese Ballen lauter Korane eingewickelt sind. Mit diesem besonderen Gepäck wollen sie im russischen Sotschi aussteigen, wo die Vorbereitungen für die Olympischen Spiele in vollem Gange sind. Von Adler, dem künftigen olympischen Dorf an der Küste, nach Krasnaja Poljana wird eine Autobahn gebaut. Der kleine Badeort Adler liegt direkt an der Grenze zum nach Unabhängigkeit strebenden Abchasien.

Suchumi (Abchasien)

„Von den Winterspielen erhoffen wir uns natürlich auch wirtschaftlichen Segen“, sagt mit einem Lächeln Wjatscheslaw Schilikba, Berater des abchasischen Präsidenten. Abchasien oder „Apsny“, das „Land der Seele“ auf Abchasisch, die einstige Perle der sowjetischen Riviera, hat sich 1994 nach blutigen Auseinandersetzungen mit mehr als 8 000 Toten von Georgien abgespalten. Nach dem Krieg vom August 2008 zwischen der georgischen und der russischen Armee erklärte sich das Land für unabhängig.7 Die Abchasen stellen heute etwa 45 Prozent der 250 000 Einwohner der kleinen Republik, in der Armenier, Russen und Pontos-Griechen leben. Der Großteil der 250 000 Georgier ist aus Abchasien geflohen oder wurde nach dem Krieg von 1994 vertrieben. Eine Rückkehr scheint nicht vorstellbar. „Wenn die Flüchtlinge zurückkommen, wird es wieder Krieg geben“, droht Präsident Sergei Bagapsch. „Die meisten von ihnen haben Blut an den Händen.“

Die Republik Abchasien8 leidet immer noch unter dem georgischen Embargo, dem sich fast alle Länder der internationalen Gemeinschaft angeschlossen haben. Im Hafen der Hauptstadt Suchumi flattert eine riesige abchasische Flagge. Hier laufen regelmäßig Frachtschiffe aus Trabzon ein, die eigentlich das georgische Batumi ansteuern sollen, auf See aber ihren Kurs ändern und nach Suchumi fahren.

Die Hauptstadtbewohner treffen sich in den Cafés am Meer, wo es bislang nur wenige Touristen gibt, auch wenn Moskau kräftig in die kleine Republik investiert. Suchumi will nicht als Bauer im russischen Schachspiel gesehen werden. „Wir haben hier zwei russische Militärstützpunkte, das sind 10 000 Mann, die unsere Bürger vor der georgischen Armee schützen, und zum ersten Mal seit 1994 können wir ruhig schlafen“, sagt Bagapsch. Und in schärferem Ton: „Wenn Abchasien angeblich ein russisches Protektorat ist, ist Georgien dann nicht ein amerikanisches Protektorat? Und warum wird das Kosovo als unabhängiger Staat anerkannt und Abchasien nicht?“

An den Rändern der schönen Hafenstadt mit ihren Palmen und alten Gärten kehrt das Leben langsam zurück: Die Häuser sind wieder bewohnt, auch wenn sie nur teilweise intakt sind; überall eröffnen Cafés und kleine Läden. An der ebenfalls vom Krieg teilweise zerstörten Universität in der Bucht von Suchumi sind momentan 10 000 Studenten eingeschrieben. Gudisa Tskalia, um die zwanzig, studiert hier internationale Politik. Er stammt aus dem 50 Kilometer entfernten Kurort Gudauta und träumt davon, Diplomat zu werden und seine Heimat im Ausland zu vertreten. Im Augenblick wird Abchasien lediglich von Russland, Nicaragua, Venezuela und der Koralleninsel Nauru anerkannt sowie von dem kleinen Club der anderen nicht anerkannten Republiken wie Transnistrien, Südossetien und der Türkischen Republik Nordzypern. Die unter Aufsicht der Vereinten Nationen geführten Verhandlungen mit Georgien liegen auf Eis. Abchasien hat im Juni 2009 sogar den Abzug der UN-Mission erreicht und seine Grenzen für europäische Militärbeobachter geschlossen.

Batumi (Georgien/Adscharien)

Den Grenzübergang zwischen Abchasien und Georgien bildet eine Brücke über den Fluss Inguri, die nur für Fußgänger und Pferdewagen geöffnet ist. Wir treffen auf eine Gruppe in Abchasien ansässiger Georgier, die auf der anderen Seite des Flusses im georgischen Sugdidi einkaufen gehen wollen. Die Einreise hängt vom guten Willen der abchasischen Milizen und georgischen Polizisten ab. In der Grenzregion kommt es nämlich regelmäßig zu Zwischenfällen. Am 8. Juni wurde ein abchasischer Grenzer getötet. Georgien setzt nach wie vor auf die militärische Rückeroberung Abchasiens. Präsident Saakaschwili, der mit der „Rosenrevolution“ vom November 2003 an die Macht kam, versucht die abtrünnigen Republiken Adscharien, Abchasien und Südossetien zurückzugewinnen. Bislang ist ihm das nur mit Adscharien gelungen.

Tiflis will die autonome Republik Adscharien, zu der Batumi gehört, nun zum Aushängeschild Georgiens machen. Sämtliche wichtigen Posten wurden dort mit Leuten aus der Umgebung des Präsidenten besetzt, und der Staat investiert massiv in Batumi. In dem alten Badeort mit seinem nostalgischen Charme entsteht ein Luxushotel nach dem anderen, zuletzt wurde Anfang April ein Sheraton mit 24 Stockwerken eröffnet und weitere Häuser sind im Bau: ein Hyatt, ein Hilton und ein Radisson. Seit dem Krieg von 2008 macht allerdings niemand mehr Urlaub in Batumi, wo es noch mehr Spielkasinos als Hotels gibt. Die Stadt will Gäste aus der Türkei anlocken, wo Glücksspiele schon seit Jahren verboten sind.

Der Überseehafen ganz in der Nähe der Altstadt wird auch gerade neu ausgebaut. Die kasachische Ölholding KazTransOil hat eine Betreiberkonzession über 49 Jahre Laufzeit erhalten. 2009 wurden in Batumi 7 Millionen Tonnen Öl umgeschlagen, die mit der Bahn aus Aserbaidschan, Kasachstan und Turkmenistan kamen.

Im Büro des Hafendirektors hängen die Porträts zweier Präsidenten: von Saakaschwili und seinem kasachischen Amtskollegen Nasarbajew. Zurab Schulgaja war 22 Jahre lang sowjetischer Diplomat und absolvierte den Großteil seiner Karriere in den arabischen Ländern, wo er für wirtschaftliche Zusammenarbeit zuständig war. Anschließend wurde er georgischer Botschafter in Kasachstan. Er erzählt, die kasachische Regierung habe ihn gebeten, aus der Diplomatie auszusteigen und für sie die Leitung des Hafens von Batumi zu übernehmen.

Das mit Russland eng verbündete Kasachstan investiert großräumig in Georgien. Unter Kennern der Region kursieren deshalb zwei Theorien: Entweder, so wird spekuliert, dienen die kasachischen Unternehmen als Strohmänner für russisches Kapital, oder Kasachstan ist im Gegenteil auf der Suche nach neuen Absatzmärkten, um sich aus der allzu engen Bindung an Russland zu lösen. Natürlich leidet die Region unter dem faktischen Abbruch der georgisch-russischen Beziehungen. Aber Schulgaja ist optimistisch: „Alle Kriege haben ein Ende“, versichert er.

Poti (Georgien)

Etwa 50 Kilometer nördlich von Batumi wurde auch der Hafen von Poti, den die russische Schwarzmeerflotte während des Kriegs im August 2008 bombardiert hatte, mit einer 49 Jahre gültigen Konzession an das Emirat Ra’s al-Chaima vergeben. Der Wiederaufbau kommt gut voran. Poti soll das Haupttor zum Kaukasus und nach Zentralasien werden.

Für Maxim Schonin, Mitglied der im ukrainischen Odessa ansässigen Vereinigung der Schwarzmeerhäfen, sind vor allem die neuen Beziehungen zwischen Poti und dem bulgarischen Hafen Varna interessant. Im Rahmen des von der Europäischen Union 1993 initiierten Verkehrs- und Kommunikationsprojekts Traceca (Transport Corridor Europe-Caucasus-Asia) tauschen sich die Anrainerstaaten der östlichen und westlichen Schwarzmeerküste unter Umgehung Russlands aus.9 Hierbei geht es nicht allein um den Transport fossiler Brennstoffe vom Kaspischen Meer und aus Zentralasien, sondern auch um den Zugang nach Kleinasien. Der Hafen von Poti ist die Hauptverbindung nach Armenien, und von dort lässt sich der Iran gut erreichen.

Die Häfen von Odessa und Varna stehen in heftiger Konkurrenz zueinander. Durch den neuen Ost-West-Austausch wird die Ukraine, die seit dem Wahlsieg von Präsident Wiktor Janukowitsch im Februar 2010 wieder voll auf der Linie Moskaus liegt, zunehmend an den Rand gedrängt. Im Vergleich zu den Handelsbeziehungen zwischen Russland und der Türkei ist die Achse Poti–Varna noch recht unbedeutend. Schonin schätzt, dass „fast 80 Prozent der Schiffe, die den Bosporus und die Dardanellen passieren, russisch sind oder nach Russland fahren“.

Sewastopol (Ukraine)

An dem Status von Sewastopol auf der Halbinsel Krim kristallisierten sich über lange Zeit die Spannungen zwischen der Ukraine und Russland. Zu Sowjetzeiten besaß die Stadt einen Sonderstatus. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahre 1991 weigerte sich Russland lange, Kiews Souveränität über Sewastopol anzuerkennen, die den Status einer „geschlossenen Stadt“ behielt und nur mit einem Passierschein betreten werden konnte. 1997 wurde ein Freundschaftsvertrag geschlossen: Moskau stellte das Anrecht der Ukraine auf Sewastopol nicht länger infrage und mietete im Gegenzug den Hafen für seine Schwarzmeerflotte. Im April verlängerte Janukowitsch den Mietvertrag, der nun bis 2042 gilt. In Sewastopol soll es fast 20 000 russische Marinesoldaten geben, die meisten leben hier mit ihren Familien.

An der Reede von Sewastopol, wo immer noch eine riesige Leninstatue steht, befindet sich die hydrologische Station der russischen Marine. Die Farbe ist schon etwas verblasst, und die patriotische Dekoration stammt noch aus Sowjetzeiten, doch Jewgeni Georgiewitsch empfängt uns mit einem breiten Lächeln und festem Händedruck. „Die Schwarzmeerflotte wacht“, versichert der russische Offizier mit ukrainischem Pass. Tatsächlich kamen die Schiffe, die beim bewaffneten Konflikt im August 2008 die georgische Flotte im Hafen von Poti versenkten, aus Sewastopol.

Andrei Schobolew, Besitzer der Tageszeitung Sewastopolskaja Gaseta und Liedermacher, stützt sich mit beiden Ellenbogen auf eine Balkonbrüstung hoch über der Stadt und lässt seinen Blick über die ihm so vertraute Hafenlandschaft schweifen. „Für viele Leute verkörpert Sewastopol immer noch den Stolz der alten Sowjetunion, die Stadt, die während des Kriegs den Nazis widerstanden hat. Die Vergangenheit und ihre Heldenmythen sind immer noch sehr lebendig. Sewastopol kann deshalb nicht ukrainisch sein, aber es ist auch nicht wirklich russisch. Es ist ein Hafen, eine Welt für sich, eine ganz besondere Stadt.“

Chobolev hat eine Vision: Dass die Kriegsstadt Sewastopol eine Friedensstadt wird, mit einer Art exterritorialem Status. Natürlich würde sie weiterhin die russische Schwarzmeerflotte beherbergen, denn jeder weiß, dass Russland seine „Zitadelle im Schwarzen Meer“ niemals aufgeben würde, vor allem seit die Nato ihre Stützpunkte in Bulgarien und Rumänien ausgebaut hat.

Odessa (Ukraine)

Die Beziehungen der Ukraine zu Russland haben sich in den letzten Monaten normalisiert, aber mit Rumänien gibt es wegen des Donaudeltas immer wieder Streit. Das Delta ist nicht nur die Durchgangspforte vom europäischen Flussnetz ins Schwarze Meer, sondern auch eine einzigartige Biosphäre mit 1 200 Pflanzen-, 300 Vogel- und 45 verschiedenen Süßwasserfischarten, die 1991 von der Unesco zum Weltnaturerbe erklärt wurde.

„Der Schutz des Deltas muss in Zusammenarbeit mit der rumänischen Regierung erfolgen, denn Ökosysteme kennen keine Grenzen“, sagt Professor Nikolai Berlinski. „Ich habe vor ein paar Jahren einen Herzinfarkt bekommen, weil ich an der Akademie der Wissenschaften in Kiew so heftig dagegen gekämpft habe, dass der ukrainische Staat das Donaudelta verwüstet.“ Berlinski arbeitet heute am hydrologischen Institut von Odessa. „Ich bin nicht gegen Kanäle und schon gar nicht gegen die Donauschifffahrt, aber das Management des Deltas ist katastrophal.“

2004 begann Kiew mit den Bauarbeiten für den Bystre-Kanal, um einen natürlichen Donauarm auf ukrainischem Gebiet für die Schifffahrt zu öffnen. Ungeachtet zahlreicher Proteste – unter anderem bemängelte die Europäische Kommission nach der Eröffnung des ersten Abschnitts im August 2004 die fehlende Umweltverträglichkeitsprüfung des Bauprojekts im Biosphärenreservat – wurde weitergebaut, und nach drei Jahren war man so weit, dass Frachter und Containerschiffe aus dem Schwarzen Meer die Donau und das europäische Hinterland erreichen konnten. Doch im November 2007 hob der ukrainische Oberste Gerichtshof die Anordnungen vorheriger Instanzen wieder auf, die das Projekt ermöglicht hatten, und die Regierung verpflichtete sich, die Arbeiten zu stoppen, bis alle Umweltauflagen erfüllt sind. Der wirtschaftliche Vorteil des Kanals für die Regierung in Kiew wäre beträchtlich: Die ukrainischen Schiffe, die bis dahin durch den rumänischen Sulina-Kanal fahren mussten, würden Zoll sparen, und der neue internationale Schifffahrtsweg brächte dem Staat zusätzliche Devisen ein. Wegen der massiven Kritik von Umweltorganisationen sind inzwischen mehrere internationale Baufirmen aus dem Projekt wieder ausgestiegen.

„Selbst wenn wir die Umweltbelastung außen vor lassen, war der Bau dieses Kanals eine dumme Idee“, schimpft Berlinski. „Wegen der intensiven Nutzung der Flussufer führt die Donau Tonnen von Sediment mit sich, wodurch sich das Delta jedes Jahr um etwa vierzig Meter vergrößert. Wenn man also einen schiffbaren Kanal mit genügend Tiefgang erhalten will, muss man ständig ausbaggern.“ Die Sedimente, die heute aus dem Bystre-Kanal ausgebaggert werden, werden fünf Kilometer landeinwärts wieder abgeladen, wo sie von der Uferströmung mitgenommen werden, die von Norden nach Süden verläuft. Später werden sich die Sedimente an der Mündung des Sulina-Kanals absetzen, dem anderen Schifffahrtsweg im Delta auf der rumänischen Seite, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann sich Bukarest darüber ärgern wird.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion liegen die beiden Länder zudem im Streit über die Definition der Seegrenze. Das ist eine Frage von höchster Bedeutung, denn unter dem umstrittenen Kontinentalschelf lagern etwa 100 Milliarden Kubikmeter Gas und 10 Millionen Tonnen Öl. Rumänien brachte den Streitfall vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, wo er am 3. Februar 2009 entschieden wurde: 20 Prozent des umstrittenen Gebiets, das sind 2 500 Quadratkilometer, sprach das Gericht der Ukraine zu, und die übrigen 80 Prozent oder 9 700 Quadratkilometer gehören zu Rumänien.

Wylkowe (Ukraine)

Weit entfernt von diesen Konflikten liegt die Kleinstadt Wylkowe mit fast 8 000 Einwohnern, die wegen ihrer Kanäle auch das ukrainische Venedig genannt wird. Zu Beginn der Bauarbeiten am Bystre-Kanal hatte die Regierung angekündigt, das Projekt werde der Region 4 000 Arbeitsplätze bringen. Heute ist die wirtschaftliche Lage nach wie vor katastrophal. „Die Leute ziehen weg, es gibt keine Arbeit mehr, der Hafen und die sowjetischen Fabriken sind geschlossen“, klagt Kapitän Nikolai, ein ehemaliger Marineoffizier, der jetzt Touristenführer ist. „Rosen schneiden für die Holländer, das ist das Einzige, womit man noch Geld verdienen kann.“

Zu den rumänischen Nachbarn am gegenüberliegenden Ufer der Donau gibt es praktisch keine Verbindung. Es existiert weder eine Straße noch eine Brücke, und die Fährverbindung von Wylkowe zur großen rumänischen Deltastadt Tulcea ist unterbrochen. Um nach Rumänien zu gelangen, muss man eine Reise von etlichen Stunden auf sehr schlechten Straßen in Kauf nehmen. „Seit Rumänien in der EU ist, brauchen wir ein Visum“, sagt Kapitän Nikolai. Überall stehen hier jetzt Grenzposten, die in der wilden Schilf- und Sumpflandschaft merkwürdig deplatziert wirken. „Die Grenze ist noch hermetischer verschlossen als zu Sowjetzeiten. Ein neuer Eiserner Vorhang durchschneidet das Delta.“

Fußnoten: 1 Siehe „La région du Danube et de la Mer Noire“, europa.eu, Juni 2005. 2 Ehemalige Kaukasusregion mit hauptsächlich muslimischer Bevölkerung. 3 Vgl. Alexandre Grigoriantz, „Les Caucasiens. Aux origines d’une guerre sans fin“, Gollion (Infolio) 2006. 4 Dieser Begriff leitet sich von der altgriechischen Bezeichnung „Pontos Euxeinos“ für das Schwarze Meer ab. In Russland und auf der Krim gibt es noch bedeutende Gemeinden von Pontos-Griechen. 5 Hrant Dink war Mitbegründer der zweisprachigen Wochenzeitschrift Agos und einer der einflussreichsten Intellektuellen der armenischen Gemeinschaft in der Türkei. Siehe auch Hrant Dink, „Von der Saat der Worte“, Berlin (Verlag Hans Schiler) 2008. 6 Nach Mustafa Kemal Atatürk (1881 bis 1938), dem Gründer der türkischen Republik, benannte Ideologie, die auf Laizismus und Nationalismus beruht. 7 Siehe Neal Ascherson, „Ein Staat für sich allein“, Le Monde diplomatique, Januar 2009, und Vicken Cheterian, „Im kaukasischen Dreiländereck“, Le Monde diplomatique, April 2009. 8 Vgl. Alexander Kokeev, „Der Kampf um das Goldene Vlies. Zum Konflikt zwischen Georgien und Abchasien“, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt am Main 1993. 9 Im September 1998 unterzeichneten zwölf Staaten die „Multilaterale Vereinbarung über den internationalen Transport und die Entwicklung eines europäisch-kaukasisch-asiatischen Korridors“, an der sich inzwischen vierzehn Länder beteiligen: Armenien, Aserbaidschan, Bulgarien, Georgien, Kasachstan, Kirgistan, Iran, Moldawien, Rumänien, Türkei, Ukraine, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Jean-Arnault Dérens ist Chefredakteur des Courrier des Balkans. Zusammen mit Laurent Geslin schrieb er das Buch „Voyage au pays des Gorani. Balkans, début du XXIe siècle“, Paris (Cartouche) 2010; siehe auch www.venisemernoire.org.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2010, von Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin