10.04.2014

Venezuela, Land ohne Mitte

zurück

Venezuela, Land ohne Mitte

von José Natanson

Audio: Artikel vorlesen lassen

Seit der politischen Konsolidierung des Chavismus vor einem Jahrzehnt ist Venezuela ein Land ohne Mitte. Einem stabilen Anteil von 45 bis 50 Prozent Regierungsanhängern steht ein nicht minder stabiler Oppositionsblock gegenüber (40 bis 45 Prozent). Die Wahlen werden von einem kleinen Prozentsatz Unentschiedener und vor allem durch die Wahlbeteiligung entschieden. Es ist also kein Zufall, dass sie sehr hoch ist: Bei den Wahlen 2013 lag sie bei 80 Prozent.

Geht sie auch nur leicht zurück, kommt das dem Antichavismus zugute. Tatsächlich erklärt sich die einzige Niederlage des Regierungslagers bei insgesamt 15 Wahlen und Abstimmungen – nämlich beim Referendum über die Verfassungsreform 2007 – eher durch die Wahlenthaltung eines Teils der chavistischen Basis als durch einem Stimmenzuwachs für die Opposition. Schon deshalb ist die Situation in Venezuela vollkommen anders als die in anderen Ländern Lateinamerikas im Transformationsprozess. Die Verallgemeinerungen, die in der letzten Zeit verbreitet wurden, haben diese Tatsache tendenziell übergangen.

In Argentinien beispielsweise ist der harte Kern sowohl der Regierungsanhänger als auch der Opposition sehr viel kleiner und die Zahl der Unentschiedenen größer, wodurch die Situation offener und fluktuierender wird. Den Regierungen in Bolivien und in Ecuador hingegen ist es gelungen, Mehrheiten von mehr als 60 Prozent hinter sich zu bringen, während die Opposition schwach und gespalten ist. Das allerdings kann auch damit zu tun haben, dass es sich um sehr junge Entwicklungen handelt und diese Hegemonie der Regierungen eine Phase ist – vergleichbar mit der Situation, in der sich der Chavismus vor dem Auftauchen eines ernstzunehmenden Oppositionsführers wie Henrique Capriles befand.

Dieses Kräfteverhältnis zwischen Regierungsblock und Opposition muss man als Erstes im Blick haben, wenn man die Ereignisse der letzten Monate verstehen will, bei denen eine Reihe von Studentenprotesten mit der Forderung nach mehr Sicherheit in eine Serie von Gewaltakten mit zahlreichen Toten mündete. Ein zweiter wichtiger Faktor ist die Spaltung der Opposition. Eine Fraktion der Antichavisten hat sich ja immerhin von der Gewalt distanziert, auch wenn sie nicht unbedingt gemäßigt ist – aber in Venezuela ist nichts gemäßigt, allenfalls das Klima. Zu dieser Fraktion zählen, gewiss nicht zufällig, Politiker mit regionaler Regierungsverantwortung wie die Gouverneure Henrique Capriles und Henry Falcón. Die andere Fraktion, die sich um Leopoldo López und Corina Machado1 schart, arbeitet mit allen Mitteln auf den vorzeitigen Sturz der Regierung hin.

Spannungen innerhalb der Opposition gab es schon immer. Nach einer radikalen Phase, die von einem Putschversuch gegen Chávez 2002 über den Generalstreik (vor allem im Erdölsektor) 2002/2003 bis zu der extravaganten Entscheidung reichte, sich nicht an den Parlamentswahlen 2005 zu beteiligen, traten die militantesten Oppositionspolitiker, die aus den mumifizierten Resten der alten Parteien stammten, in die zweite Reihe zurück und überließen die Bühne neueren und demokratischeren Akteuren, die sich um Henrique Capriles versammelten.

Capriles, Gouverneur des Bundesstaats Miranda, unterlag dem Chávez-Nachfolger Maduro bei den Präsidentschaftswahlen 2013 mit weniger als 2 Prozentpunkten Rückstand. Dies ließ die Opposition, die erstmals seit dem Referendum von 2007 die Macht greifbar nahe sah, wieder hoffen. Doch bei den Kommunalwahlen im Dezember fuhr der Chavismus erneut einen klaren Sieg ein, was die Unbesiegbarkeit der Regierung zu bestätigen schien. Vor diesem Hintergrund gewannen innerhalb der Opposition wieder die radikalsten Strömungen die Oberhand.

Da sich die Streitkräfte heute anders als 2002 loyal gegenüber der Verfassung verhalten und die Regierung mehr Anhänger mobilisieren kann als in der Vergangenheit – bei allen Fehlern ist es dem Chavismus doch zweifellos gelungen, Volksmacht aufzubauen –, greifen die extremistischsten Sektoren der Opposition auf Destabilisierungstechniken zurück, die der ecuadorianische Soziologe Franklin Ramírez als „neue Technologien des Umsturzes“ bezeichnet hat.2 Dabei ist nach wie vor die Frage gültig: Wo hört Opposition auf, und wo beginnt der Staatsstreich?

Ebenso schwierig ist es, zu definieren, wo die Grenze zwischen unnötiger Repression eines legitimen Protestes einerseits und der Pflicht der Regierung, die Ordnung aufrechtzuerhalten und Chaos zu vermeiden, andererseits genau verläuft: Die Tatsache, dass in Venezuela Angehörige des Militärgeheimdienstes mit scharfer Munition auf Demonstranten geschossen haben, bestätigt nur, dass diese Situation, in der es auf beiden Seiten Todesopfer gibt, nicht einfach und nicht eindeutig ist. Offensichtlich agieren gewalttätige Gruppen auf eigene Faust, und das nicht nur innerhalb der Opposition.

Chile ist Zen, Venezuela Kung-Fu

Die Lage im Land ist ohnehin kritisch. Die Wirtschaft erlebt eine Krise, der weder die Verstaatlichungen und Wechselkurskontrollen noch die drastische Abwertung des Bolívar im Februar Herr werden konnten. Im vergangenen Jahr lagen, nach Daten der lateinamerikanischen Wirtschaftskommission Cepal, die Inflation in Venezuela bei 57 Prozent und das Wachstum bei 1,2 Prozent.

Wie bei einem guten karibischen Rum, der aus verschieden Rumsorten mit unterschiedlichen Lagerzeiten gemacht wird, vermischt sich in Venezuela alles: Die offensichtlichen Versorgungsprobleme, die die Regierung zu verantworten hat, weil es ihr nicht gelungen ist, die Abhängigkeit von Lebensmittelimporten zu verringern (Venezuela importiert nach wie vor 75 Prozent der Nahrungsmittel, die es konsumiert), verbindet sich mit den nicht weniger offensichtlichen Versuchen der Opposition, Chaos zu verbreiten (so etwa durch die künstlich erzeugte Klopapierkrise). Und es gibt noch mehr Beispiele: Obwohl die soziale Ungleichheit deutlich abgenommen hat, nimmt – was die Soziologen in den Wahnsinn treiben muss – die Gewalt beständig zu. In Caracas liegt die Mordrate bei 80 Fällen auf 100 000 Einwohner, womit die Stadt zu den gefährlichsten Orten der Welt gehört.

Im einzigen südamerikanischen Land, das die unbegrenzte Wiederwahl eines Amtsträgers zulässt, verbindet sich im Regierungslager ideologische Überfrachtung mit geschmacklosem Luxuskonsum und Korruptionsskandalen. Das trifft zwar nicht auf die Personen Chávez und Maduro zu, aber eben doch auf einige Regierungsvertreter. Und dies alles geschieht im Rahmen einer keineswegs innovativen, ganz offenkundig ineffizienten Verwaltung, einer Militarisierung von wichtigen Teilen des Staatsapparats und eines ermüdenden Gepolters der regierungsnahen Medienpropaganda.

Werfen wir noch einmal einen Blick zurück. Als Hugo Chávez 1999 an die Regierung kam, sah er sich mit einem tiefen Riss durch die Gesellschaft konfrontiert, der schon vor ihm da gewesen war – und der das Phänomen Chávez auch bis zu einem gewissen Punkt erklärt: Unter dem Überbau eines scheinbar perfekten Zweiparteiensystems lag die trübe Realität von sozialer Ungerechtigkeit, Regellosigkeit und Gewalt. Diese – und nicht ein perfektes Schweden, das es sowieso nie gegeben hat – war das Kellergeschoss, auf dem der Chavismus den ersten Populismus des 21. Jahrhunderts errichtete. „Populismus“ insofern, als eine energische Führungsfigur im Bündnis mit den besitzlosen Massen den sozialen Riss in eine politische Polarisierung verwandelte; und „21. Jahrhundert“, weil der Konflikt nicht mehr im Klassenkampf besteht, sondern in der Dialektik der Ausgrenzung.

Wie der französische Soziologe Robert Castel3 bemerkt, ist in den postindustriellen und globalisierten Gesellschaften der „fernwestlichen“ kapitalistischen Peripherie die Ausbeutung als wichtigstes gesellschaftliches Problem von der Ausgrenzung abgelöst worden. Mit anderen Worten: Es geht nicht länger um die Stellung innerhalb einer bestimmten sozialen Struktur, sondern um die Möglichkeit, überhaupt dazuzugehören. Deshalb findet die Inklusion, die im klassischen Populismus über Arbeit garantiert werden soll, heute über Sozialprogramme statt – seien es nun die venezolanischen Misiones, die argentinische Asignación Universal oder die brasilianische Bolsa Família. Dabei ersetzt der Staat die Gewerkschaften als Raum der politischen Organisation.

Vielleicht versteht man die venezolanische Situation besser, wenn man sie mit der chilenischen vergleicht, die in vielerlei Hinsicht als ihr Gegenstück erscheint. Chile übernimmt im lateinamerikanischen Rollenspiel die Position der Mäßigung und Gelassenheit. Chile ist New Age: Es versucht seine innere Mitte zu wahren. Chile ist Zen, Venezuela Kung-Fu. Aber Chile brennt im Inneren, weil die Gesellschaft schon seit Längerem Veränderungen einfordert, die von der Politik ignoriert werden. Ob nun wegen des kulturellen Erbes der Pinochet-Jahre, wegen der offenkundigen Wirtschaftserfolge des Neoliberalismus oder wegen der Selbstgenügsamkeit einer politischen Klasse, die sich nicht zu erneuern vermag (als Beweis mag dienen, dass die letzten Kandidaten der Mitte-links-Parteien Expräsidenten waren) – fest steht, dass niemand die Kombination kennt, mit der sich der Tresor öffnen lässt. Als besäße Chile keine Kraft für Veränderungen.

Der Wahlsieg Michelle Bachelets, ein offenkundiges Zeichen, wie sehr Veränderung nottut, kam mit einer Wahlenthaltung von sage und schreibe 58 Prozent zustande. Das wirft Fragen auf über die Vitalität dieser Minderheitendemokratie und legt Vergleiche mit dem von Konflikten gebeutelten, aber partizipativen und demokratischen Venezuela nahe. Bachelet hat jedenfalls alle Vorteile auf ihrer Seite: Sie wurde mit dem höchsten Stimmenanteil der letzten 70 Jahre gewählt, hat hervorragende Umfragewerte und die Unterstützung eines breiten Parteienbündnisses, zu dem erstmals auch die Kommunistische Partei gehört; zudem verfügt sie über eine parlamentarische Mehrheit von vier Siebteln in beiden Kammern, was ausreicht, um Gesetze abzuschaffen und zu modifizieren (einschließlich sogenannter Rahmengesetze). Es ist aber nicht genug, um die Verfassung zu reformieren oder eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen.

Wenn Bachelet auf die gesellschaftlichen Forderungen eingeht und sich gegenüber dem absehbaren Widerstand der Rechten behaupten will, wird sie wohl keine andere Wahl haben, als sich direkt auf die Mobilisierung der Bevölkerung oder auf plebiszitäre Mechanismen zu stützen.

Vielleicht sollte Lateinamerika heute weniger nach einer unwahrscheinlichen Mäßigung in Venezuela fragen als vielmehr nach einer begrüßenswerten Radikalisierung Chiles. Anders ausgedrückt: Wird Michelle Bachelet chavistischer?

Fußnoten: 1 López, ehemaliger Bezirksbürgermeister von Chacao, Caracas, ist seit dem 18. Februar wegen Aufrufs zur Gewalt inhaftiert; gegen die parteilose Parlamentsabgeordnete Machado wird ermittelt. 2 Franklin Ramírez Gallegos, „La insurrección de abril no fue sólo una fiesta“, Quito (Taller El Colectivo) 2005. 3 Robert Castel, „Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat“, Hamburg (Institut für Sozialforschung) 2005. Aus dem Spanischen von Raul Zelik José Natanson ist Redaktionsleiter der argentinischen Ausgabe von Le Monde diplomatique. © Le Monde diplomatique, Cono Sur

Was wann geschah

1992 Oberstleutnant Hugo Rafael Chávez Frías scheitert mit einem Putschversuch.

1998 Chávez wird mit absoluter Mehrheit zum Präsidenten gewählt.

April 2002 Ein Putschversuch gegen Chávez, an dem auch der (zurzeit inhaftierte) Oppositionsführer Leopoldo López beteiligt ist, scheitert.

Dezember 2002 Die Opposition initiiert einen Generalstreik, der bis Februar 2003 dauert. Er trifft vor allem den Ölsektor und löst eine massive Kapitalflucht aus.

März 2003 Die Regierung schränkt den Devisenhandel ein.

August 2004 Ein Referendum zur Amtsenthebung von Chávez scheitert.

Dezember 2005 Die Opposition boykottiert die Parlamentswahlen.

Juni 2010 Dem oppositionellen Sender RCTV wird die Lizenz entzogen.

2012 Die Inflationsrate steigt, unter anderem aufgrund der zunehmenden Lebensmittelknappheit, auf über 20 Prozent.

März 2013 Chávez stirbt an Krebs.

April 2013 Nicolás Maduro gewinnt die Präsidentenwahlen knapp gegen den Oppositionskandidaten Henrique Capriles.

Dezember 2013 Bei den Kommunalwahlen liegen die Chavisten wieder vorn. Die Inflationsrate übersteigt 50 Prozent.

Anfang 2014 Der radikale Flügel der Opposition um Leopoldo López und Corina Machado vollzieht die Trennung von dem gemäßigten Flügel um Henrique Capriles.

12. Februar Studentenproteste werden zum Auftakt wochenlanger Demonstrationen mit 40 Toten auf beiden Seiten.

16. Februar Drei US-Diplomaten werden beschuldigt, einen Staatsstreich zu unterstützen, und des Landes verwiesen.

18. Februar Leopoldo López stellt sich der Justiz und wird verhaftet.

24. Februar Fünf Angehörige des Geheimdienstes werden des Mordes beschuldigt und festgenommen.

13. März Im Stadtviertel Chacao wird ein Protestlager gewaltsam geräumt.

25. März Eine Delegation der Unasur führt Gespräche mit Vertretern der verschiedenen politischen Gruppierungen und der Wirtschaft. Die venezolanische Währung wird teilweise freigegeben und um 87 Prozent abgewertet.

26. März Die Oppositionsführerin Corina Machado verliert ihr Abgeordnetenmandat. Drei Generäle der Luftwaffe werden wegen Putschverdachts festgenommen.

4. April Das Wohnungsbauministerium wird von Demonstranten in Brand gesetzt, die Polizei greift nicht ein.

Le Monde diplomatique vom 10.04.2014, von José Natanson