13.10.2006

Die Mitte als Ort der Möglichkeiten

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Die Mitte als Ort der Möglichkeiten

China wird immer kapitalistischer. Es wäre jedoch ein gewaltiges Missverständnis, in dieser Entwicklung nur eine Art von Verwestlichung zu sehen. Denn im chinesischen Denken hat sich die traditionelle Offenheit für mehrere sich bietende Optionen erhalten von François Jullien

Vielleicht werden wir nie aufhören, China diese Mischung aus Faszination, Angst und Abwehr entgegenzubringen, für die unter anderem zweifellos die universitäre Sinologie verantwortlich ist. Allzu oft kultiviert sie eine bloße Gelehrsamkeit und verzichtet darauf, grundlegende Fragen aufzuwerfen. Sie überlässt den Medien das Feld, die gelegentlich die Grenze zur „Sinomanie“ überschreiten. Illustrierte schwärmen ihren Lesern vor, wie man sich mit chinesischer Kalligrafie selbst verwirklichen kann, Firmenchefs beziehen ihre Eroberungsfantasien aus den Strategien des Sunzi1 , ganze Wohnungen werden nach den Regeln des Feng-Shui eingerichtet.

Will man weder sich in den Elfenbeinturm zurückziehen noch den rein ideologischen Diskursen erliegen, gibt es nur einen Weg: Wir müssen mit großer Behutsamkeit und Geduld zugleich sinologische Forschung betreiben und philosophische Überlegungen anstellen. Denn jenseits der Gemeinplätze und plakativen Vereinfachungen tun sich komplizierte Fragen auf, wie etwa die, der ich hier nachgehen möchte: Welche Möglichkeiten und welche Grenzen liegen in der Verwestlichung Chinas?

Erinnern wir uns daran, dass China nicht von sich aus auf den Westen zuging, sondern der Westen nach China kam, und dies gleich zweimal: erst im 16., dann wieder im 19. Jahrhundert. Die erste Begegnung war eine eher friedvolle: Die Missionare hatten gemeint, die Chinesen würden sich genauso bereitwillig zum Christentum bekehren lassen wie die Indianer Amerikas. Sie gaben ihr Vorhaben jedoch bald wieder auf. Bei der zweiten Begegnung standen sich die Gewehrläufe gegenüber. Das chinesische Kaiserreich verlor 1842 den rein wirtschaftlich motivierten Ersten Opiumkrieg gegen Großbritannien. Danach musste sich das Land auf die Schnelle und unter leidvollen Erfahrungen wirtschaftlich, technisch und wissenschaftlich alles aneignen, was dem Westen zu seiner Überlegenheit verholfen hatte. Diesen historischen Kontext muss man im Blick behalten, denn der gegenwärtige rasante Aufstieg Chinas verleitet durchaus dazu, diese traumatische Begegnung zwischen China und dem Westen auszublenden. Tatsächlich jedoch hat dieses Trauma bis heute unterschwellige Auswirkungen auf alle internationalen Beziehungen Chinas.

Zwar wurde China schon vor dem 19. Jahrhundert mehrfach erobert, doch die Eindringlinge waren einfache Nomadenvölker aus angrenzenden Regionen, die sich dann ganz gern von den Chinesen „zivilisieren“ ließen. Mit den europäischen Invasoren hingegen sah sich China zum ersten Mal in seiner Geschichte mit einer Macht konfrontiert, die sich mit dem Erobern nicht zufriedengab, sondern dem Land ihre Zivilisation aufzwang.

So stellte sich China zu Beginn des 20. Jahrhunderts – in der bedrückendsten Phase seiner Abhängigkeit – die Frage, wie es zum Westen aufholen und ihn überholen könne. So kam es zu einer Reihe von Übernahmen und Anverwandlungen westlicher Modelle, zunächst hauptsächlich auf wissenschaftlichem und politischem Gebiet.

Zwei mentale Klaviaturen

Wie steht es heute um diesen Prozess der Angleichung an den Westen? China ist dabei, die Aufholjagd zu gewinnen. Bald wird es zum Überholen ansetzen. Doch wie verträgt sich die Orientierung am Westen mit dem, was wir als „chinesische Tradition“ wahrnehmen? China scheint die Fähigkeit zu besitzen, beides nebeneinander stehen zu lassen, oder vielmehr das eine im Hintergrund, im Schatten des anderen, mitlaufen zu lassen. Oder um es mit Mao Zedong zu sagen: „auf beiden Beinen zu gehen“ – gemeint waren Industrie und Landwirtschaft – indem man das „westliche Bein“ bewegt und sich auf das andere stützt. So wird heute beispielsweise sowohl Akupunktur und Pflanzenheilkunde als auch Medizin nach westlichen Maßstäben praktiziert, traditionell chinesisch oder europäisch gekocht. Und auch an den Universitäten gibt es Institute für westliche Philosophie neben solchen für chinesisches Denken. Als könnte man in China auf zwei mentalen Klaviaturen gleichzeitig spielen – eine Fähigkeit, die sich in den letzten hundert Jahren herausgebildet hat.

Oft heißt es, das moderne chinesische Management sei in Sachen Planung und Entscheidungsfindung unserem westlichen sehr ähnlich. Ich will das gar nicht bestreiten. Aber das darf uns nicht vergessen lassen, dass die Chinesen zwar die aus der Übereinstimmung entstehenden Ressourcen nutzen, sich gleichzeitig aber auch die Möglichkeit offenhalten, auf ein im eigenen Land über Jahrtausende tradiertes Wissen zurückzugreifen. Dadurch haben sie außerdem den Vorteil – den sie sich auch systematisch zunutze machen –, die Schnittmenge aus diesen Ressourcen zu gewinnen.

Das Ergebnis ist an den internationalen Beziehungen abzulesen. Nehmen wir den Fall eines europäischen Unternehmens, das in China einen Vertrag aushandelt. Zunächst kann sich alles sehr gut anlassen, zumal die europäischen Manager es mit chinesischen Partnern zu tun haben, die, wie sie selbst, an einer renommierten Universität in Europa oder den USA studiert haben, perfekt Englisch sprechen und in der Projektarbeit überaus routiniert sind.

Doch während die flüssige und Vertrauen erweckende Universalsprache Wirtschaftsenglisch alles zu harmonisieren scheint, merkt man (bisweilen etwas spät), dass sich heimlich etwas anderes eingeschlichen hat und zunehmend auch zum Einsatz kommt, etwas, das eine allmähliche Veränderung der Situation (oder vielmehr ihres Potenzials) bewirkt und dazu führt, dass die eine Seite immer stärker, die andere immer unsicherer wird und schließlich aus dem Konzept gerät.

Die Chinesen kommen mit der kulturellen Zweigleisigkeit gut zurecht und haben längst erkannt, was sie daraus machen können. Das geht blitzschnell. In chinesischen Buchhandlungen findet man inzwischen reihenweise Titel rund um das Thema „chinesisches Denken“. Und nicht selten bekommt man zu hören: „Natürlich hat eure westliche Logik ihre Berechtigung, aber es gibt auch ein anderes Denken, das chinesische.“ Man betont das Nebeneinander von Chinesischem und Europäischem – und damit den Unterschied. Vor zehn Jahren gab es in China noch eine Art stillschweigendes Einverständnis darüber, dass man sich der westlichen Kultur wohl oder übel werde unterordnen müssen. Aber ist das heute noch so? Immer öfter wird einem gesagt: „Eure europäischen Denknormen, das war einmal …“

Viele Chinesen sind überzeugt, dass die Zeit der europäischen Dominanz hinter ihnen liegt. Denn diese Phase verdankte ihren Erfolg bestimmten Expansionsbedingungen und die sind nicht mehr gegeben. China entwickelt sich unaufhaltsam – durch einen lautlosen Wandel – zu einem der führenden Länder der Welt. Zumal es keineswegs versuchen wird, sich mit irgendwelchen Ansprüchen durchzusetzen, die sich abwehren ließen. Es wird es auf seine Art tun, also kaum greifbar, diffus, ganz allmählich, aus einer Position der scheinbaren Schwäche heraus.

Aus chinesischer Sicht kehrt ja die Welt im Grunde bloß zum normalen Gang der Dinge zurück. Wir sind einfach am Ende einer langen historischen Phase der Abschweifung angekommen, während der die europäische Zivilisation alles andere hinwegfegte. Jetzt ist eben der Augenblick gekommen, an Vorangegangenes wieder anzuknüpfen.

Man darf nämlich nicht vergessen, dass China bis zum 14./15. Jahrhundert technisch genauso weit, wenn nicht sogar weiter war als Europa (Dschunken, Schwarzpulver und Buchdruck zeugen davon). Joseph Needham2 hat nachgewiesen, dass noch im 16. Jahrhundert den Ingenieuren und Mathematikern Europas, wie beispielsweise Leonardo da Vinci, durchaus ebenbürtige chinesische Denker gegenüberstanden.

Allerdings hat sich in China nie (wie sollte es auch!) ein mathematisch-naturwissenschaftliches Modell herausgebildet, das die Griechen (Archimedes) vorgezeichnet haben und das Galilei weiterentwickelt hat. Er hat die Mathematik von der bloßen Zusammenstellung von Rechenoperationen, wie es sie auch in China gab, in jene „ideale“ Formelsprache überführt, in der Gott, wie man glaubte, die Welt geschrieben hatte und die bahnbrechende Fortschritte in der Naturbeherrschung brachte.

China war selbstverständlich nie „unbeweglich“ (das scheint höchstens aus der Entfernung so). Das Land hat sich immerzu gewandelt – „Verwandlung“ (hua) ist das Schlüsselwort chinesischen Denkens. Aber in China kommt wohl auch dem einzelnen Ereignis nicht die Bedeutung zu, die es im Westen hat: Ereignis Christus, Ereignis Galilei. In der chinesischen Sichtweise wären solche Ereignisse vielleicht sogar katastrophale Störungen, gleichsam kulturelle „Entgleisungen“. Insofern wird das chinesische Trauma sehr verständlich: Unsere jüngste kulturelle „Entgleisung“ (die moderne Wissenschaft und ihre technische Anwendung) hat sich in der Tat so verheerend ausgewirkt, dass China dem nichts entgegenzusetzen hatte. Es musste sich beugen.

Interpretieren ist etwas anderes als konstruieren

Aber gibt es nicht etliche Bereiche – wenigstens in der Politik –, in denen China noch weit, sehr weit davon entfernt ist, sich nicht mehr „verbiegen“, das heißt, nach unseren Modellen richten zu müssen? Mir wurde gelegentlich vorgeworfen, ich würde das chinesische Denken „konstruieren“. Ich möchte deshalb meine Position verdeutlichen. Zunächst und allgemein methodisch gesprochen: Ich „konstruiere“ das chinesische Denken nicht, sondern versuche den Unterschied fruchtbar zu machen, der das chinesische Denken vom europäischen trennt, um so die Ressourcen auf beiden Seiten hervortreten und sie in einen Dialog eintreten zu lassen.

Davon abgesehen, denken wir nicht immer in Unterscheidungen? Fragen uns, was Aristoteles von Platon, Hegel von Kant unterscheidet etc. Wenn ich so vom „chinesischen Denken“ rede, konstruiere ich nicht eine Einheit, sondern gehe wie ein Philologe von einzelnen, historisch einzuordnenden Texten aus: Das „chinesische Denken“ ist für mich ganz einfach das, was auf Chinesisch ausgedrückt wurde (so wie das griechische Denken das auf Griechisch Ausgedrückte ist).

Ebenso verwende ich die aus der chinesischen Kaiserzeit stammenden Kommentare zu diesen Texten natürlich nicht, weil ich der Ideologie eines bestimmten Reiches anhängen würde, sondern weil man erst in der Kaiserzeit mit der Abfassung von Kommentaren begann. Das ist die Quellenlage, aus dieser Zeit sind eben nur kaiserliche Kommentare überliefert. Man kann sich um einen Zugang zur chinesischen Lektüre dieser Texte bemühen – anstatt eigene Vorstellungen und Fantasien auf sie zu projizieren. Das schließt keineswegs aus, dass man danach zur eigenen Deutungsfreiheit zurückkehrt und die Ideologie kritisiert, der sie erliegen3 .

Andererseits beanspruche ich als Philosoph das Recht auf den Begriff. Das heißt keineswegs, dass man die Vergangenheit – ihre Spannungen und ihre Komplexität – vernachlässigt oder ausblendet. Aber es führt zu einer Verlagerung der Fragestellung auf die theoretische Ebene. Grob gesagt gibt es zwei Arten, Sinologie zu betreiben: Bei der einen Methode hält man sich an die historisch überlieferten Daten und ihre Anordnung. Traditionell steht am Anfang „Leben und Werk“ der großen Autoren (zurzeit ist Zhuangzi in Mode). Darüber hinaus kann man auch den Versuch wagen, theoretische Erkenntnisse zu erarbeiten. Ausgehend von Michel Foucaults Konzept der „Heterotopie“ wäre China von Europa aus betrachtet etwas „Äußeres“ oder, mit Emmanuel Lévinas, eine „Exteriorität“. Von hier aus, aus dieser doppelten Perspektive, kann man das versuchen, was ich die Selbstreflexion des Menschlichen genannt habe.

Nehmen wir zum Beispiel den Begriff der Freiheit. Woher stammt er, wie kam er zu seiner politischen Bedeutung? Er stammt, wie wir wissen, aus Griechenland: Freiheit meinte ursprünglich das, was die griechischen Städte (polis) im Falle einer Niederlage gegen den Eroberer, den Großen König (der Perser) zu verlieren drohten. Bei diesen Kämpfen gegen einen äußeren Feind bildete sich der Begriff der Freiheit (eleutheria) heraus.

Eine Situation, wie sie die griechischen Städte erlebten, kannte das kaiserliche China nicht. Es hat nie geeint für seine Unabhängigkeit kämpfen müssen. Seine Denker entwickeln auch kein verinnerlichtes Freiheitsbewusstsein, wie es die griechischen Philosophen und zur Zeit des endgültigen Niedergangs der Städte vor allem die Stoiker aufgegriffen haben – Letztere erheben die Freiheit zum Lebensziel schlechthin.

Statt eines inneren, auf Autonomie beruhenden Freiheitspathos (jeder stellt sein eigenes Gesetz auf) scheinen mir die chinesischen Denker des Altertums einen Gedanken zu entwickeln, den ich als die Idee der Disponibilität bezeichnen möchte: sich offen halten für alle Möglichkeiten. Das, wovor sich der Weise hütet, ist „Parteilichkeit“: Sie würde bedeuten, dass er, indem er sich auf einen bestimmten Aspekt der Dinge festlegt, den anderen verfehlt. So heißt es über Konfuzius: „Wenn es angezeigt war, ein Amt zu übernehmen, dann übernahm er es; wenn es angezeigt war, es niederzulegen, legte er es nieder.“

Damit ist alles gesagt. Weisheit bedeutet laut Konfuzius nichts anderes als die „Weisheit des Augenblicks“. In der Tat, alles ist eine Frage des richtigen Moments, des wohlverstandenen Opportunismus oder, wenn man so will, des Mittelwegs, sofern man diesen nicht im üblichen europäischen Sinn versteht.

Drei Jahre Trauer beim Tod des eigenen Vaters ist nicht zu viel

Denn der Mittelweg ist eben keine universelle, überall und jederzeit anwendbare Trivialform der Weisheit (auch wenn einige grundlegende chinesische Texte in diesem Sinne übersetzt wurden). Es gibt mindestens zwei verschiedene Arten, den Mittelweg aufzufassen. Man kann ihn als Gleichgewichtspunkt zwischen zwei Extremen sehen. In diesem Sinne ist Freigebigkeit der Gipfelpunkt (akme) einer tugendhaften Haltung zwischen Geiz und Verschwendungssucht (Aristoteles). Diese geometrische Sicht ist in Europa schon bald einem deutlich schwächeren Verständnis gewichen: dem Mittelmaß des „nichts übertreiben“ – eine laue, farblose, ängstliche Weisheit, die das Risiko scheut.

Die chinesische Sicht ist da sehr viel interessanter. Die richtige Mitte bedeutet für den Chinesen, dass man das eine ebenso tun kann wie das andere, indem man gleichermaßen offen ist für beide Extreme (das „gleichermaßen“ macht die „Mitte“ aus), und nicht, indem man sich vorsichtig auf halber Distanz vom einen und vom anderen hält.

Wang Fuzhi, ein Denker des 17. Jahrhunderts, kommentierte: Drei Jahre Trauer beim Tod des eigenen Vaters, das ist nicht zu viel; Becher ohne Zahl trinken auf einem Festmahl, auch das ist nicht zu viel. Der Weise kann sich also ganz der Trauer oder der Trunkenheit hingeben, je nach Gelegenheit oder Augenblick. Es kommt nur darauf an, dass er nicht ganz und gar auf eine Seite sinkt, sondern offen bleibt für die andere. Die „Entgleisung“ bestünde erst darin, sich nicht mehr nicht betrinken zu können. Denn dann gäbe es die Möglichkeit der Nüchternheit nicht mehr, ich wäre also abhängig usw.

Doch welchen Raum lässt diese „Disponibilität“ der Entfaltung von Freiheit? Sie wurde in Europa ja erkämpft, weil es ein Ideal der Emanzipation von Knechtschaft und Entfremdung gab. Sie hat den Weg gebahnt, der dann zur Herausbildung von politischen Formen führte. Was in China demnach fehlen würde, wäre dieser gesamte Hintergrund der politischen Ideale, der Europa ausmacht und den wir schon gar nicht mehr wahrnehmen, weil er für uns so selbstverständlich geworden ist. Das Nachdenken über politische Freiheit hat sich schließlich, von Plato bis Montesquieu (und schon bei Herodot), stets in Vergleichen zwischen unterschiedlichen politischen Herrschaftsformen abgespielt, in der Gegenüberstellung von Herrschaftsformen, die die Freiheit begünstigten, und solchen, die sie bedrohten.

Doch wie verhält es sich in China? Hier beschränkte sich das Denken auf die Monarchie. Nur über sie wurde nachgedacht: Was ein guter oder schlechter Fürst ist, was Ordnung ist und ihr Gegenteil. Es wäre müßig, hier nach anderen möglichen Formen – Aristokratie, Demokratie usw. – zu suchen. Daher auch die allgemeine Überzeugung, dass die uneingeschränkte Macht eines Einzelnen für den Fortbestand der Ordnung unerlässlich sei. Dieser war einst der Fürst, heute ist es die Partei. Und das erklärt auch, weshalb trotz aller Gräuel, die sie zu verantworten hat, und trotz vorhandener demokratischer Bestrebungen die kommunistische Partei immer noch so etwas wie ein Bezugssystem ist.

Die Chinesen, wie etwa Wang Bi, ein meisterhafter Denker des 3. Jahrhunderts, gingen so weit, dass sie auf die Frage: „Was tun, wenn ein Tyrann herrscht?“ geantwortet haben: Vor allem nichts unternehmen und den Dingen ihren Lauf lassen. Die Idee ist, es sei besser, den Tyrannen das Volk tyrannisieren zu lassen bis zum bitteren Ende, bis er sich in seiner Tyrannei gewissermaßen selbst stürzt. Mit der Vorstellung einer Revolution, die sich auf einen rechtmäßigen Volksaufstand beruft und eine neue politische Ordnung errichten will, hat das überhaupt nichts zu tun.

Ob es einem passt oder nicht: Der Revolutionsgedanke ist eine europäische Idee. China hat sie nicht selbst hervorgebracht, sondern Ende des 19. Jahrhunderts von Europa übernommen. Es gibt natürlich im Chinesischen ein Wort dafür: geming. Doch es bedeutet ursprünglich „das Mandat abschneiden“, das heißt, eine korrumpierte Dynastie durch eine andere, würdigere ersetzen.

Nicht am Urteil erkennt man die Weisheit

Die geltende Ordnung wird dabei freilich nicht verletzt. Es geht nicht um eine Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse und eine Neuordnung nach bestimmten Zielvorstellungen. Chinas Drama ist mit Händen zu greifen: Einerseits ist ausnahmslos alles politisch, weil man an keinem Ort dem Zugriff der Macht und ihrer Kontrolle entkommt. Andererseits hat China das Politische und sein Emanzipationspotenzial nie reflektiert. Als Ausweg bietet sich allenfalls der taoistische Rückzug in die Bambuswälder an. Großer Spielraum besteht aber selbst da nicht, der Schatten des Herrschers reicht bis dorthin.

Dieser Unterschied überschneidet sich mit einem anderen. Zentral und elementar für das griechische Denken ist das Wahrheitsproblem, ihm konnte kein griechischer Denker entkommen, nicht einmal die Skeptiker oder einer wie Protagoras4 , der jegliches Wahrheitskriterium negierte. Sie alle orientieren sich, und mögen sie noch so kritisch und illusionslos sein, an der Wahrheit und am Wahrheitsanspruch. Und wir sind ihre Erben. Wie sonst wäre die europäische Philosophie zu verstehen, wenn man sie nicht einerseits auf die Untrennbarkeit von Sein und Wahrheit bei Parmenides5 und andererseits auf die platonische Unterscheidung von wahrer Einsicht und bloßem Meinen zurückführt? Dazu kommt die Bedeutung der dialektischen Auseinandersetzung bei der Wahrheitssuche: Nach diesem großen Gedanken der Griechen kann ein Diskurs eine Idee nur formulieren, aber man benötigt mindestens zwei widerstreitende Argumentationen, um deren Wahrheit zu beweisen. Was aber geschieht, wenn eine solche Auseinandersetzung, wie zum Beispiel in China, nicht stattfindet?

In den Haupttexten des alten China (übrigens sowohl des Konfuzianismus als auch des Taoismus) stellt man fest, dass Wahrheit keine wirkliche Rolle spielt. Nicht am wahren Urteil entscheidet sich die Weisheit – die Weisheit „urteilt“ ohnehin nicht.

Gegen Ende des chinesischen Altertums kommen zwar gelegentlich Debatten auf, es werden Ansichten widerlegt, also Positionen aufgebaut, vor allem bezüglich der Frage nach der menschlichen Natur. Doch die beteiligten Denker bekunden alle das gleiche Misstrauen gegenüber einer Haltung, die ihnen wie eine sterile Parteinahme vorkommt, sogar wie eine Falle: Die Wahrheit sollte etwas sein, was man immer wieder wenden kann. So geht das Spiel von Rede und Gegenrede unendlich weiter, bis es sich irgendwann erschöpft. Der wahre Weise verficht keinen eigenen Standpunkt, und schon gar nicht liegt ihm daran, anders zu denken als die anderen; er denkt im Gegenteil „wie alle Welt“, indem er alle Standpunkte in seinen mit einschließt.

Es geht nicht um Wahrheit, sondern um den Weg

Das also ist die „Disponibilität“ des Weisen, die damit auf das Gleiche hinausläuft wie das alles übergreifende Konzept des „Weges“, des tao. China hat zwar auch „seine Griechen“ gehabt, in dem Sinn, dass bei bestimmten chinesischen Denkern Parallelen zu griechischen Auffassungen auftauchen. So arbeiteten beispielsweise die späten Mohisten, die sich für Geometrie und Optik interessierten, auch Definitionen und Kriterien der Widerlegung aus. Sie kannten sogar den Gedanken der „Adäquatheit“ – im Chinesischen dang –, also dessen, was einer guten scholastischen Definition Wahrheit verleiht.

Doch sie blieben dabei stehen und leiteten aus der Reflexion über die Vergänglichkeit, das Werden und Sich-Wandeln keine Wahrheit ab. Außerdem hat ihr Denken keine „Wurzeln geschlagen“, sie verschwanden schon bald wieder aus der Geschichte. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts interessierte man sich in China wieder für diese Leute, und zwar nach dem Import der europäischen Logik – sozusagen als Rückkopplungseffekt.

Europas Stärke oder – schließlich geht es mir um Ressourcen und nicht um „Alterität“ – Europas Fruchtbarkeit liegt hingegen darin, eine Ebene des Verstehens, des denkbaren Ideals hervorgebracht zu haben, die über den Augenschein und die unmittelbare Erfahrung hinausgeht und damit auch über die bloße Frage nach den tatsächlichen Kräfteverhältnissen. Das hilft auch – unter anderem natürlich – zu verstehen, warum in Europa die Figur des Intellektuellen hervortreten konnte und in China nicht. Denn wie soll intellektuelle oder politische Dissidenz entstehen, wenn es nicht möglich ist, sich an etwas anderem als den tatsächlichen Kräfteverhältnissen zu orientieren?

Von welcher Warte aus soll ich über die Vergangenheit ein Urteil fällen und mich gegen sie stellen, wenn ich mich nicht, und sei es auch nur ein wenig, auf eine andere Ebene berufen kann, wenn nicht transzendente Werte ins Spiel kommen dürfen? Gerechtigkeit zum Beispiel, oder Wahrheit.

Man kann nicht verstehen, was heute in China vorgeht, wenn man diese Gegebenheiten und Zwänge nicht miteinbezieht. Sicher, man muss blind und taub sein, um heute die Existenz einer Opposition in China zu leugnen. Aber warum ist es ihr bisher nicht gelungen, sich als Alternative darzustellen? Wegen der für Gewaltherrschaften typischen Polizeimethoden, sagen mir die Leute. Und sie haben natürlich Recht, zählen mir die Opfer des totalitären chinesischen Systems auf. Aber reicht das aus, um die Frage erschöpfend zu beantworten?

Kann man darüber hinwegsehen, dass bestimmte Voraussetzungen nötig waren, damit in Europa der kritische Staatsbürger auf den Plan treten konnte? Wenn man ständig in Begriffen des Ausgleichs und der Harmonie (des „Weges“) denkt, wie es in China jahrtausendelang geschah, wenn man so viele Gelehrtengenerationen lang die indirekte politische Rede gepflegt hat und sich vorwiegend in Anspielungen und Andeutungen erging, was für ein Kraftakt muss es da sein, auch nur – aber eben offen – zu sagen: j’accuse, „ich klage an“?

Fußnoten: 1 Militärstratege des 5. Jahrhunderts v. Chr., bekannt vor allem für seine Schrift „Die Kunst des Krieges“. 2 Britischer Sinologe (1900 bis 1995), Autor einer Enzyklopädie der chinesischen Wissenschaftsgeschichte. 3 Siehe François Jullien, „Umweg und Zugang. Strategien des Sinns in China und Griechenland“, Wien (Passagen) 2000. 4 Griechischer Sophist (485 bis 411 v. Chr.) 5 Der griechische Philosoph Parmenides (Ende des 6. bis Mitte des 5. Jahrhundert v. Chr.) trifft eine grundlegende Unterscheidung zwischen Wahrheit (aletheia) und Meinung (doxa), wobei er die erste dem Sein, die zweite dem Nicht-Sein zuordnet. Aus dem Französischen von Josef Winiger François Jullien, Philosoph und Sinologe, ist seit 1987 Professor für ostasiatische Sprachen und Kulturen an der Universität Paris VII. Er ist Autor unter anderem von „Der Umweg über China: ein Ortswechsel des Denkens“, Berlin (Merve) 2002, und „Dialog über die Moral. Menzius und die Philosophie der Aufklärung“, Berlin (Merve) 2003. Der vorliegende Text ist die schriftliche Fassung eines Gesprächs mit Alain Gresh. Textredaktion von Thierry Marchaisse.

Le Monde diplomatique vom 13.10.2006, von François Jullien