08.05.2014

Putins großes Spiel

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Putins großes Spiel

Russland bricht mit dem Westen und orientiert sich nach Osten. Damit riskiert es sehr viel von Jean Radvanyi

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Zwei Ereignisse dieses Jahres 2014 waren für die russische Außenpolitik von prägender Bedeutung. Das erste war die Winterolympiade in Sotschi, deren Organisation durch das Regime von Wladimir Putin zum Anlass für eine volle Breitseite kritischer Berichterstattung in den westlichen Medien wurde. Das zweite Ereignis war die Krise in der Ukraine. Die Olympiade und die Ukraine-Krise illustrieren gewissermaßen die zwei Seiten der neuen Außenpolitik des Kreml: Im einen Fall setzt man auf Soft Power, also auf „sanfte Macht“, im anderen Fall greift man eher traditionellerweise auf Gewaltmethoden zurück.

Die Winterspiele in Sotschi sollten der Welt zeigen, dass Russland in der Lage ist, eine große Veranstaltung von weltweiter Bedeutung mit modernsten Mitteln zu organisieren und sowohl den reibungslosen Ablauf der Wettbewerbe als auch die Sicherheit der Teilnehmer zu garantieren – selbst in einer so unruhigen Region wie dem Kaukasus. Damit wollte Russland sein internationales Image aufbessern, was für Moskau ein entscheidender Faktor ist, um sich wieder als wichtiger Akteur in einer multipolaren Welt zu behaupten.1

Doch obwohl die Spiele organisatorisch perfekt abliefen, blieb der erwünschte Effekt aus. Die einflussreichen westlichen Medien hatten es nicht schwer, die öffentliche Meinung gegen Russland zu mobilisieren, indem sie vorzugsweise über Probleme im Vorfeld der Spiele berichteten und insbesondere über die repressiven Gesetze, die seit der Rückkehr Putins ins Präsidentenamt verabschiedet worden sind: zum Beispiel das Gesetz zur Überwachung von NGOs und zur Kontrolle des Internets oder das Gesetz gegen „Homosexuellen-Propaganda“, das bereits für das Reden über Homosexualität in Anwesenheit von Minderjährigen eine Geldstrafe vorsieht. Da halfen auch einige Zugeständnisse in letzter Stunde nichts mehr: etwa die Freilassung der Pussy-Riot-Sängerinnen und des Oligarchen Michail Chodorkowski oder die Zusage, Homosexuelle würden während der Spiele unbehelligt bleiben.

Die Winterspiele von Sotschi werden für immer mit den blutigen Vorgängen auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, verbunden bleiben. Beide Ereignisse liefen zeitlich parallel ab, und gleich nach der olympischen Abschlussfeier begann die Krimkrise, die mit der militärischen Besetzung und Integration ukrainischen Territoriums in die russische Föderation endete. Die vollkommen hirnrissige Reaktion des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch und die Entscheidungen, die in Moskau, Kiew und Brüssel getroffen wurden, führten zu einer Kraftprobe zwischen den Großmächten und zu einer antirussischen Kampagne, wie es sie seit Jahrzehnten nicht gegeben hat.2

Noch vor den Sanktionen, die der Westen als Antwort auf die Annexion der Krim verhängte, hat das Image Russlands im Ausland derart gelitten, dass keine patriotische Mobilisierung im Inland das wieder wettmachen kann.

Die Organisation der Winterspiele hat sich für die russische Außenpolitik als verspäteter Einsatz von Soft Power erwiesen. Unter Soft Power versteht man die Ausübung von Einfluss mit Mitteln der Ideologie, Kultur und Wissenschaft, also nicht mit gewaltsamen Methoden. 2012 hatte Wladimir Putin selbst einen Artikel über die Instrumente einer solchen „sanften Machtausübung“ verfasst und beklagt, dass Russland auf diesem Gebiet hinter den westlichen Mächten, die diese Klaviatur exzellent beherrschten, zurückliege.

Tatsächlich sind die Darstellungen von Ereignissen auf der internationalen Bühne inzwischen genauso wichtig wie die Ereignisse selbst. Angesichts dessen übte der russische Präsident heftige Kritik an der Art und Weise, wie mehrere Länder, allen voran die USA, andere Staaten mit solchen „weichen“ Mitteln unter Druck setzen, um ihnen ihre Entscheidungen aufzuzwingen. Die Aktivitäten von „Pseudo-NGOs“ und anderen Organisationen, „die mit ausländischer Hilfe diesen oder jenen Staat zu destabilisieren versuchen“, nannte er deshalb „nicht hinnehmbar“.3

Die „bunten Revolutionen“ in Georgien (2003) und in der Ukraine (2004) führten zu einer Wende nicht nur in der russischen Außenpolitik, sondern auch in der Innenpolitik. Die Organisations- und Meinungsfreiheit wurden durch neue Gesetze immer stärker eingeschränkt. Gleichzeitig begann Russland, sein Image im Ausland zu pflegen. Man erneuerte das bestehende Netz von Sprach- und Kulturinstituten durch den Ausbau der Stiftung zur Verbreitung der russischen Sprache (Russki Mir, „Russische Welt“) und begann zugleich, die russische Diaspora zu umwerben.4 Als der Einsatz dieser Instrumente keine großen Erfolge brachte, verlegte man sich wieder stärker auf traditionelle Methoden, speziell auf wirtschaftlichen und militärischen Druck.

Für Fjodor Lukjanow, Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs, liegt die Hauptschwäche seines Landes weniger in kommunikativer Unfähigkeit als in einem fundamentalen Mangel: „Derzeit fehlt es der soft power an der Substanz, die sie bräuchte, um das von Moskau propagierte Entwicklungsmodell attraktiv zu erscheinen zu lassen.“ Die Sowjetunion habe sich noch auf die Ideologie als verbindende Kraft und auf eine plausible strategische Alternative stützen können, Russland dagegen bringe nicht mehr zustande als „eine traditionalistische und konservative Rhetorik, die dem Fortschritt eindeutig entgegensteht“.5 Was das für die Ukraine bedeutet, erläutert Lukjanow so: „Russland ist nicht die Sowjetunion. Das Land erhebt weder den Anspruch auf die Weltherrschaft noch auf eine ideologische Dominanz. Moskau umreißt lediglich das Einflussgebiet, das es für sich als lebensnotwendig ansieht – und die Ukraine gehört zweifellos dazu. Dabei ist man nicht bereit, Kompromisse einzugehen.“6

Auf die Versuche ehemaliger Sowjetrepubliken, näher an die Europäische Union und die Nato heranzurücken, reagierte Moskau unverzüglich mit Wirtschaftssanktionen und Strafzöllen – exemplarisch im Zuge des „Gaskriegs“ mit der Ukraine. Die ukrainische Webseite Newsplot präsentierte 2013 eine Karte, auf der 15 Fälle von „Nahrungsmittelkriegen“ verzeichnet sind, die Moskau zwischen 2005 und 2013 gegen seine Nachbarn geführt hat. Die Wirtschaftsblockaden richteten sich zum Beispiel gegen georgischen Wein, gegen Milchprodukte aus Weißrussland und gegen ukrainische Schokolade.

Mit eiserner Faust gegen die westliche Expansion

Seit einigen Jahren zögert Russland auch nicht mehr, bestimmte Konflikte mit Waffengewalt zu lösen. Im August 2008 war es allerdings der georgische Präsident, der Moskau mit der Bombardierung der südossetischen Stadt Zchinwali und der dortigen russischen Kaserne die Möglichkeit zu einer harten Reaktion servierte. Russische Truppen besetzten im Handstreich den gesamten Westen Georgiens, und Moskau erkannte die beiden abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien an. Das war ein Verstoß gegen die 1991 eingegangene Verpflichtung, die territoriale Integrität der Mitglieder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), also der ehemaligen Sowjetrepubliken, zu respektieren. Nach den Ereignissen in Kiew übernahm Russland im März 2014 zunächst die militärische Kontrolle über die Krim, um sie anschließend nach einem hastig anberaumten Referendum zu annektieren.

Der Kreml bemüht sich erst gar nicht, die Gründe für den neuerlichen Einsatz von Gewaltmitteln zu verschleiern. Die Herausforderung, die er damit an die ganze Welt richtet, geht über das Problem in der Ukraine weit hinaus. Im Grunde fordert er, alle Regeln bezüglich der internationalen Sicherheit neu zu definieren. Diese Position hat Wladimir Putin schon bei der 43. Internationalen Sicherheitskonferenz in München im Februar 2007 ganz klar formuliert: Moskau werde die Doppelzüngigkeit bestimmter westlicher Staaten nicht mehr hinnehmen, die auf die absolute Gültigkeit der internationalen Regeln pochen, diese aber bedenkenlos brechen, wann immer es ihnen in den Kram passt.

In den USA glaubten einige Politiker, die Schwächung Russlands nach dem Ende der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Pakts ausnutzen zu können, um ihr Land als einzige Weltmacht zu etablieren. Aber in der Zwischenzeit hat sich die Welt verändert, und es wäre an der Zeit, die Grundlagen der Sicherheitsarchitektur neu zu verhandeln; insbesondere angesichts der Entstehung neuer Machtzentren, wie der Brics-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). Und natürlich muss man auch Russland zubilligen, dass es legitime strategische Interessen hat und verteidigen darf, was ja auch die USA und die großen europäischen Länder in ihren Einflusssphären seit jeher für sich beanspruchen.

2008 bot der Westen der Ukraine und Georgien den Eintritt in die Nato an, Ende 2013 verhandelte die Europäische Union mit Kiew über ein Assoziierungsabkommen. Dies waren Schritte mit dem Ziel, die russische Einflusssphäre bis an die russischen Grenzen zurückzudrängen. Und die Politiker in Washington und in Europa waren sich darüber auch völlig im Klaren. Diese Strategie einer Art Roll-back, die der ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski seinerzeit formuliert hat, wurde von bestimmten Kreisen in den USA niemals aufgegeben.7

Ein Nato-Beitritt der Ukraine würde bedeuten, dass die westliche Allianz den Hafen von Sewastopol kontrollieren könnte. Daher müsse Russland, so erläutert Putins außenpolitischer Berater Sergei Karaganow, jede Expansion der Nato „mit eiserner Faust stoppen“, wie man es schon 2008 in Georgien getan habe.8 Mit der Annexion der Krim und der Konzentration von Truppen an der Ostgrenze der Ukraine signalisiert Moskau dem Westen, dass es seine Schwächephase überwunden hat und seine strategischen Interessen verteidigen wird, egal wie hoch der diplomatische und wirtschaftliche Preis ist. Aber ist Russland dazu wirklich in der Lage?

Bis vor Kurzem hat Russland in Europa seinen wichtigsten Partner gesehen, auf kultureller und personeller Ebene ebenso wie in wirtschaftlicher Hinsicht. Noch 2013 war die Europäische Union der wichtigste russische Außenhandelspartner, und zwar bei Exporten wie bei Importen. Doch schon seit Längerem demonstriert Russland – das wie die Türkei den Vorteil hat, sowohl zu Europa als auch zu Asien zu gehören –, dass es bestrebt ist, die Balance zwischen seiner Westorientierung Richtung Europa und seinem Blick nach Osten Richtung Pazifik neu auszutarieren. Das Konzept ist nicht neu: Es wurde bereits 1986, in der Endphase der Sowjetunion, von Michail Gorbatschow in Wladiwostok formuliert. Auch Boris Jelzin und nach ihm Wladimir Putin waren bemüht, die Beziehungen nach Asien auszubauen. Und neuerdings kommen mehrere Faktoren hinzu, die eine erneute Austarierung der strategischen Ost-West-Balance wieder aktuell machen.

Der augenfälligste Faktor ist die eindrucksvolle Dynamik der Pazifikregion. Die Russen hoffen, dass ein verstärktes Engagement in ihrem Fernen Osten – mittels Joint Ventures und Investitionen – ihre schwächelnde Wirtschaft aus der Krise ziehen wird. Deshalb hat Putin 2012 das Gipfeltreffen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (Asia-Pacific Economic Cooperation, Apec), der Russland seit 1998 angehört, nach Wladiwostok geholt. Das verstärkte Interesse an der Pazifikregion zeigt auch, dass man sich in Moskau über die krisenhafte Entwicklung im fernöstlichen Teil des Landes voll im Klaren ist. Die Bevölkerung schrumpft unaufhaltsam: Seit Ende der 1980er Jahre hat das Riesengebiet über 20 Prozent seiner Einwohner verloren. Damit droht die Gefahr, dass die strategisch wichtige Region der enormen Dynamik Chinas schutzlos ausgeliefert ist.

Ein zweiter Faktor, der die Forderungen nach einer strategischen Neuausrichtung verstärkt, ist die Verschlechterung der Beziehungen zu den europäischen Institutionen. Im Zuge ihrer Osterweiterung wollte die EU Russland ihre Spielregeln aufzwingen, vor allem im Schlüsselbereich der Energieversorgung: Seit 2004 versuchte die EU, mehreren GUS-Staaten Konzepte anzudienen, die deren Abhängigkeit von russischen Öl- und Gaslieferungen durch eine Diversifizierung der Lieferanten verringern sollte. Diese Vorschläge erfolgten zuerst im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik und seit 2009 über die sogenannte Östliche Partnerschaft. Moskau reagierte darauf mit einer Umstrukturierung seiner Exportwege in den Westen (Bau der Gaspipelines Nord Stream und Blue Stream, geplante Gaspipeline South Stream), zugleich aber lenkte es einen Teil seiner Lieferungen Richtung Asien.9 Auf diese Weise ist China 2011 zu Russlands wichtigstem Handelspartner aufgestiegen.

Ein weiterer entscheidender Faktor ist die Tatsache, dass die EU nie bereit war, offen über die doch so essenzielle Beziehung zu ihrem großen Nachbarn im Osten zu diskutieren, weil sie in dieser Frage tief gespalten ist. Sie hat also nie eine umfassende Entwicklungs- und Sicherheitsstrategie für ein „Großeuropa“ unter Einschluss Russlands ins Auge gefasst. Brüssel kritisierte immer nur bestimmte Äußerungen Moskaus und blieb ansonsten auf Distanz. Gleichzeitig wird das Misstrauen des Kreml noch dadurch verstärkt, dass der Nato, die immer stärker in die US-Strategie eingebunden ist, eine neue Rolle zugeschrieben wird. Dass die EU diese Position ausgerechnet in einer Zeit bezogen hat, als die europäischen Institutionen und die europäische Wirtschaft in eine schwere Krise schlitterten, hat den Kräften in Russland Auftrieb gegeben, die für eine beschleunigte Annäherung an die aufstrebenden Mächte in Asien plädierten. Was zugleich bedeutete, die Beziehungen zu einer geschwächten EU zurückzufahren, die außerstande scheint, eine eigene, von Washington unabhängige Strategie zu entwickeln.

Diese Neuorientierung wird von Moskau häufig als ein Instrument dargestellt, mit dem man Druck auf die Europäer ausüben könne. Aber in technischer und organisatorischer Hinsicht stößt dieses Konzept auf erhebliche Schwierigkeiten. Zunächst einmal muss man in den östlichen Regionen schwere infrastrukturelle Defizite in den Bereichen Wohnungsbau, Verkehr und Energieversorgung beseitigen. Die Regierung scheint dieses Problem inzwischen anzupacken und hat ein Ministerium für die Entwicklung des Fernen Ostens gegründet.

Viele Experten beurteilen die Erfolgsaussichten jedoch skeptisch: Der Finanzbedarf ist enorm, und die Ausgaben für den extravaganten Wladiwostok-Gipfel 2012 wecken Zweifel, ob die Investitionen effektiv eingesetzt werden. Immerhin hat man mit dem Aufbau eines Ölpipeline-Netzes in Richtung Pazifik begonnen (Eastern Siberia–Pacific Ocean oil pipeline, Espo), doch bei der Herstellung und dem Transport von Flüssiggas läuft Moskau einem technischen Rückstand hinterher. Deshalb wird es noch lange dauern, bis Russland genauso viel Öl und Gas nach Asien liefern kann wie nach Europa.

China ist zwar bereit, einen Teil der Kosten für die nötigen Investitionen zu tragen, aber durch gesteigerte Energielieferungen nach China wird die Rolle Russlands als bloßer Rohstofflieferant nur zementiert und die nötige Modernisierung weiter hinausgezögert. Hinzu kommt, dass die straffe Zentralisierung alle lokalen Initiativen blockiert. Deshalb fordern immer mehr Regionen in Sibirien einen autonomen Entscheidungsspielraum, ohne den sich eine echte Dynamik in der Region nicht entwickeln könne. Doch für solch unkonventionellen Lösungsansätze ist im System Putin offenbar kein Platz.10

Und noch eine weitere Schwierigkeit kommt hinzu: Moskaus Unfähigkeit, gute Beziehungen zwischen den verschiedenen Staaten des ehemaligen Sowjetreichs herzustellen. Die GUS hat sich nicht zu dem gemeinsamen östlichen Markt unter russischer Vorherrschaft entwickelt, von dem Boris Jelzin 1991 träumte. Und die Versuche, eine Kerngruppe moskautreuer Staaten zusammenzubringen, blieben bislang erstaunlich zaghaft.

Begleitet von einem unfassbaren terminologischen und organisatorischen Kuddelmuddel, hat man nicht weniger als vier ineinander verschachtelte wirtschaftliche Gruppierungen geschaffen: die Zollunion, den Gemeinsamen Wirtschaftsraum, die Euroasiatische Wirtschaftsgemeinschaft (Eurasec) und die Freihandelszone innerhalb der GUS. 2015 soll noch die „Eurasische Union“ hinzukommen, die auf einen Vorschlag des kasachischen Präsidenten Nasarbajew von 1994 zurückgeht.

Jelzins Traum hat sich nicht erfüllt

All diese Organisationen gruppieren sich um einen Kern, der aus Russland, Weißrussland und Kasachstan besteht. Hinzu kommen je nachdem drei oder vier zentralasiatische Staaten (Usbekistan beschränkt sich bestenfalls auf eine Beobachterrolle) und im Fall der Wirtschaftsgemeinschaft und der Freihandelszone auch noch Moldawien und die Ukraine.

Von einem richtigen Funktionieren kann freilich bei keiner dieser Gruppierungen die Rede sein, was hauptsächlich an den widersprüchlichen Forderungen Russlands liegt. Moskau will in erster Linie seine Handlungsfreiheit wahren und seine Kontrolle über Staaten sichern, die aus seiner Sicht zur russischen Einflusssphäre gehören. Das führt aber vor allem dazu, dass sich die anderen Staaten dem russischen Druck zu entziehen versuchen, indem sie verstärkt den Kontakt zu einflussreichen Drittländern suchen, um ihre Handelspartner zu diversifizieren: etwa zu den USA, zu Europa, zum Iran und besonders zu China.

Eines scheint gewiss: Diese kompliziert verschachtelte Organisationsstruktur spiegelt die Schwierigkeiten Russlands beim Ausbalancieren seiner Beziehungen zu seinen mittlerweile unabhängigen Nachbarn. Und die Krise in der Ukraine dürfte diese Probleme noch verschärfen.

Denn Putin hat es für richtig befunden, parallel zur Annexion der Krim eine beispiellose Kampagne zu starten, mit der er die Verteidigung der russischen Landsleute beschwört, die seit dem Zerfall der Sowjetunion außerhalb des Mutterland leben. Mit ihren verbalen Attacken auf Oppositionelle, die wie in den schlimmsten Zeiten der Sowjetunion als „ausländische Spione“ denunziert werden, ruft die im ganzen Land lancierte Medienkampagne düstere Erinnerungen wach. Fürs Erste hat diese Kampagne dafür gesorgt, dass sich die Bevölkerung in ihrer überwältigenden Mehrheit um den Präsidenten schart, was dieser offenbar als seine Rache für die oppositionelle Bewegung vom Winter 2011/2012 wahrnimmt.11 Aber langfristig könnten die Folgen verheerend sein, und zwar im Lande selbst wie jenseits seiner Grenzen.

In mehreren russischen Regionen – wie im Kaukasus und an der Wolga, aber auch in Sibirien – gibt es aktive Minderheiten, die den zentralistischen Tendenzen des Regimes höchst kritisch gegenüberstehen. Das Spektrum dieser moskaukritischen Gruppen reicht vom radikalen Islamismus bis zu regionalen Autonomiebewegungen. Niemand kann voraussagen, wie sich die Welle des Nationalismus auf diese Gruppen auswirken wird. Derzeit sieht es so aus, als sei das autoritäre Regime gegen diese zentrifugalen Kräfte gefeit. Aber was geschieht, wenn es eine neuerliche Schwächung erlebt, etwa bei einer politischen Wachablösung oder im Gefolge der nächsten Wirtschaftskrise?

Als bedrohlicher könnten sich jedoch die Reaktionen erweisen, die durch die Annexion der Krim in anderen Ländern ausgelöst wurden. In Estland und Lettland liegt der Anteil der Russen an der Bevölkerung immer noch bei fast 25 Prozent (viele von ihnen sind Staatenlose). In beiden Staaten wurde das Krim-Referendum als Bedrohung empfunden; und dasselbe gilt für Moldawien – wo der Konflikt um Transnistrien schwelt – und für Kasachstan, das im Norden eine überwiegend russischsprachige Bevölkerung hat.

Der kasachische Präsident Nasarbajew ist seit 1991 ein unverbrüchlicher Verbündeter Moskaus, aber werden seine Nachfolger das auch sein? Nachdem Georgien 2008 aus der GUS ausgetreten ist und die Ukraine am 19. März 2014 den Austritt beschlossen hat, wäre schon eine schlichte Distanzierung Kasachstans für Russland ein harter Schlag: Die mehr als zwanzig Jahre währenden Bemühungen, im „nahen Ausland“, wie man in Moskau zu Anfang der 1990er Jahre die 14 übrigen ehemaligen Sowjetrepubliken nannte, eine Neuordnung nach russischen Vorstellungen durchzusetzen, wären gescheitert.

Erstes Anzeichen einer diplomatischen Isolierung Moskaus war die Abstimmung in der UN-Vollversammlung am 27. März. Gegen eine Verurteilung der Annexion der Krim stimmten von den „befreundeten“ Staaten lediglich Armenien und Weißrussland. China enthielt sich ebenso wie Kasachstan. Kirgisien und Tadschikistan nahmen an der Abstimmung erst gar nicht teil.12

Wenn das Siegesgeschrei verstummt ist, mit dem die russischen Demonstranten die Rückkehr der Krim ins Mutterland feiern, könnte sich bald herausstellen, dass die Annexion der Halbinsel für Moskau ein Pyrrhussieg gewesen ist.

Fußnoten: 1 Vgl. dazu Guillaume Pitron, „Der olympische Fluch“, Le Monde diplomatique, Februar 2014. 2 Olivier Zajec, „L’obsession antirusse“, Le Monde diplomatique, April 2014. 3 Wladimir Putin, „Russland in einer sich wandelnden Welt“, Moskowskie Nowosti, Moskau, 27. Februar 2012 (in russischer Sprache). 4 Siehe Tatiana Kastouéva-Jean, „ ‚Soft power‘ russe: discours, outils, impact“, Russie.Nei.Reports, Nr. 5, Institut français des relations internationales (Ifri), Oktober 2010. 5 Fjodor Lukjanov, „Les paradoxes du soft power russe“, La Revue internationale et stratégique, Institut français des relations internationales et stratégiques (Iris), Nr. 92, Paris 2013. 6 Fjodor Lukjanow, „Wozu braucht Russland die USA?“, Russia Beyond the Headlines, 1. April 2014, deutsche Ausgabe: de.rbth.com/meinung/2014/04/01/wozu_braucht_russland_die_usa_28765.html. 7 Zbigniew Brzezinski, „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“, Weinheim (Beltz) 1997. 8 Financial Times, London, 5. März 2014. 9 Im Mai soll ein langfristiges Gaslieferabkommen mit Peking unterzeichnet werden, mit dem sich Moskau zur Lieferung von jährlich 38 Milliarden Kubikmeter verpflichtet. Siehe „Putin Expected to Sign China Gas Deal“, Bloomberg, 10. April 2014. 10 Vgl. dazu „La Sibérie, eldorado russe du XXIe siècle?“, La Revue internationale et stratégique, Institut français des relations internationales et stratégiques (Iris), Nr. 92, Paris 2013. 11 Siehe Jean Radvanyi, „Continuité de façade en Russie“, Le Monde diplomatique, April 2012. 12 Der Resolution stimmten 100 Staaten zu, 11 stimmten dagegen, 58 enthielten sich. Aus dem Französischen von Ursel Schäfer Jean Radvanyi ist Professor am Institut national des langues et civilisations orientales (Inalco) und Kodirektor des Centre de recherches Europe-Eurasie (CREE). Zuletzt erschien von ihm „Retour d’une autre Russie“, Lormont (Le Bord de l’eau) 2013.

Le Monde diplomatique vom 08.05.2014, von Jean Radvanyi