10.12.2010

Algier, Place des Martyrs

zurück

Algier, Place des Martyrs

Ein vergessenes Welterbe, halbfertige Museen und viel Gekungel im öffentlichen Bauwesen von Allan Popelard und Paul Vannier

Nach acht Uhr abends erlischt das Leben in Algiers Straßen. Die Kellner bauen die Tische auf den Gehwegen ab, und die Händler schließen die Ladenrollos. In dem verwaisten Stadtzentrum sieht man jetzt nur noch Polizisten, die Autofahrer kontrollieren. Im kollektiven Gedächtnis der Algerier sind die Erinnerungen an das „schwarze Jahrzehnt“1 und die Angst vor Autobomben2 und Sprengstoffanschlägen tief verankert.

Der Ausnahmezustand, 1992 in Kraft gesetzt, gilt immer noch. Größere Menschenansammlungen sind verboten. Um den Islamismus in Schach zu halten, hat der algerische Staat einige seiner Forderungen erfüllt: Zwischen 2006 und 2008 mussten in Algerien 1 200 Getränkeläden, die Alkohol verkauften, auf offizielle Anordnung schließen.3 Die Nutzung öffentlichen Raums wird jedes Jahr mehr eingeschränkt. Die Leute verbringen ihre Freizeit abends vorwiegend in den eigenen vier Wänden.

Tagsüber beleben zahlreiche kleine Restaurants die Straßen der zentralen Viertel von Bab El Oued und Belcourt. Doch sobald die Nacht über Algier hereinbricht, bleiben einzig die Bars der großen Hotels und die Nachtklubs in den schicken Stadtteilen geöffnet. Abends kann also nur noch ausgehen, wer zur „besseren Gesellschaft“ gehört. Die hat sich ihre eigenen, exklusiven Rückzugsräume geschaffen. In Sidi Yahia, unterhalb des wohlhabenden Viertels Hydra, reihen sich die Markenboutiquen und Markisen der Szenecafés aneinander. Wenn sich junge Paare in der Öffentlichkeit treffen, dann hier, denn die Caféterrassen im Stadtzentrum und den ärmeren Vierteln bleiben einzig den Männern vorbehalten.

Bis vor kurzem standen im ehemaligen Flussbett von Sidi Yahia nur ein paar Häuser. Erst durch private Initiativen hat sich das Viertel zum beliebten Treffpunkt der „jeunesse dorée“ von Algier entwickelt. Die ärmeren Stadtteile bleiben ihrem Schicksal überlassen. Symbol und Symptom dieser Fahrlässigkeit ist die Kasbah.

Obwohl sie als historischer Kern von Algier 1992 zum Unesco-Welterbe erklärt wurde, verfällt das Viertel zusehends. Immer mehr Häuser stürzen ein; was übrig bleibt, sind Schuttberge. Die brüchigen Fassaden werden durch provisorische Gerüste, Metallstreben und Holzkonstruktionen notdürftig abgestützt. Die Bewohner versuchen sich vor den neugierigen Blicken der Nachbarn und Passanten zu schützen, denn durch die klaffenden Löcher in den Hauswänden kann man den Leuten direkt in die Zimmer schauen. In den Innenhöfen wird das ganze Ausmaß des Zerfalls deutlich: Überall sind die alten Holzvertäfelungen abgerissen, die Fliesen zerbrochen.

Das Labyrinth aus kleinen Gassen und Treppen ist weitgehend verlassen, für viele Algerier ist die Kasbah eine Terra incognita. Nach der Unabhängigkeit Algeriens 1962 haben viele Familien dem alten Viertel im Zentrum den Rücken gekehrt, um in die modernen und komfortableren Häuser der Europäer zu ziehen.4 Danach übernahmen vor allem Zuwanderer vom Land das Viertel; sie brachen die Türen auf und nahmen verlassene Häuser in Beschlag. Heute ist die Kasbah zu einer großen Schleuse geworden: Hier lebt man nur so lange, bis man woanders etwas Besseres gefunden hat.

Manchmal verwüsten die Leute ihre Wohnungen absichtlich, um schneller vom städtischen Umquartierungsprogramm zu profitieren; Wasserschäden sind zum Beispiel eine beliebte Methode. Monsieur Lahsen, Mitarbeiter der Fondation Casbah, einer Organisation, die sich für den Erhalt des Viertels einsetzt, meint, dass auf diese Weise bereits 350 Häuser zerstört wurden. Restauriert werden nur einzelne Häuser, wie der Palast des osmanischen Statthalters Mustafa Pascha aus dem 18. Jahrhundert. Um den Rest kümmern sich die Behörden nicht.

Und doch liegt das wahre Algier hier, an dem Place des Martyrs, direkt unterhalb der Kasbah. In dieser Stadt, die von den französischen Kolonisatoren stark geprägt wurde und die, wenn in der Abenddämmerung das Weiß der Häuserfassaden grau wird, Paris so ähnelt, ist die Kasbah das letzte Zeugnis ihres arabisch-osmanischen Erbes. Warum aber misst der algerische Staat ihr keinerlei Bedeutung bei?

Mit der Kasbah wird auch ihre Geschichte vergessen

Dass die Kasbah immer schon als Hort der Sittenlosigkeit galt, spielt dabei sicher eine Rolle. Hier, am Ort der Bordelle und der dunklen Geschäfte, scherte sich keiner um die Moral – egal ob sie von der Regierung oder den Islamisten verkündet wurde. Hier leisteten die Leute vom Land mit ihrer unverfälschten Art den städtischen Sitten Widerstand. Die Vernachlässigung der Kasbah hat auch damit zu tun, wie die Führer der Nationalen Befreiungsfront (FLN) nach der Unabhängigkeit ihre politische Vormachtstellung legitimierten.5

Diese Legitimation stützte sich nicht auf Demokratie und freie Wahlen, sondern auf den Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich. Die Widerstandskämpfer in der Kasbah hatten ohne Zweifel großen Anteil am Sieg über die französischen Besatzer, aber während der Schlacht um Algier 1957 schlugen die Fallschirmjäger des französischen Generals Massu den Aufstand in der Kasbah nieder; der algerische Widerstand brauchte zwei Jahre, um sich davon zu erholen. Das historische Viertel im Herzen von Algier ist also der Ort einer militärischen Niederlage.

Den Unabhängigkeitskrieg gewannen die Algerier auf politischem Weg, nicht militärisch. Nach dem Staatsstreich von Houari Boumedienne 1965 zogen es die militärischen Machthaber allerdings vor, diesen Umstand zu verschleiern.6 Es gibt kein offizielles Gedenken an die „Schlacht um Algier“, dessen Hauptschauplatz die Kasbah war, wohl aber wird der Demonstrationen vom Dezember 1960 gedacht.7 Die Kasbah hat in der nationalen Geschichtsschreibung Algeriens noch keinen Platz gefunden. Sie ist in gewisser Hinsicht Opfer einer politischen Legitimationsstrategie, die auf einer staatlich verordneten Amnesie beruht.

„Algier einzunehmen bedeutete, ganz Algerien einzunehmen, sämtliche rivalisierenden Gruppen kämpften um die Kontrolle über die Hauptstadt“, schreibt der Historiker Benjamin Stora. Als die Bewohner von Algier im Juni 1965 Boumediennes Panzer in die Stadt einrollen sahen, dachten sie zuerst, es seien Requisiten aus dem Film „Die Schlacht um Algier“ von Pontecorvo, der zu dieser Zeit gedreht wurde.8 Doch es waren keine französischen Panzer, die zur Darstellung der Ereignisse im Krieg herangeschafft wurden, sondern in den Tanks steckten echte Soldaten, und zwar algerische. Eine zweite Schlacht um Algier bahnte sich an, weniger gewalttätig, aber ebenso entscheidend für die Zukunft des Landes.

Schon während des Unabhängigkeitskriegs hatte es Spannungen gegeben zwischen der Armée de la Libération Nationale (ALN), die innerhalb Algeriens den Widerstand gegen die französischen Truppen aufrechterhielt, und den militärischen Verbänden außerhalb des Landes unter der Führung von Boumedienne. Die „Externen“ behielten schließlich die Oberhand und sorgten dafür, dass der Beitrag der „Internen“ aus den Geschichtsbüchern gestrichen wurde.

„Warum lässt man wohl die Kasbah sich selbst zerstören?“, lautet die rhetorische Frage eines alten Anwohners. „Die meisten, die seit der Unabhängigkeit in Algerien an der Macht sind, haben den Krieg gegen Frankreich selbst gar nicht mitgemacht. Welches Interesse haben die schon, mit dem Aufbau der Kasbah diejenigen zu würdigen, die hier gekämpft haben?“ Die Kasbah erinnere an „den Putsch von 1965, und damit an die illegitimen Anfänge des algerischen Staates“.

Die zerstörte, an den Rand der Geschichte gedrängte Kasbah macht auch den Unterschied zwischen dem Algier der 1960er Jahre und dem Algier von heute deutlich: Damals war die Stadt das Zentrum des Widerstands der Drittweltbewegung, heute ist sie einfach die Hauptstadt eines autoritären Regimes.

Das Gesicht und die urbane Ordnung Algiers sind nicht zuletzt der räumliche Ausdruck einer bürokratischen Politik. Die Stadt breitet sich immer mehr aus. Zwischen den riesigen Schlafstädten am Stadtrand drängen sich kleine Parzellen, in denen die fruchtbaren Felder der Mitidja-Ebene bestellt werden, die sich südwestlich von Algier erstreckt. Um der Enge zu entkommen, sind viele in die Vororte gezogen, und die Wohlhabendsten haben ihre Wohnsitze aus dem Stadtzentrum um die Grande Poste und die Rue Didouche Mourad direkt in die schickeren Viertel auf den Hügeln über Algier verlegt. Die Armen leben von jeher in den Elendsvierteln oder Hochhaussiedlungen am Stadtrand.

Der Staat als launischer Vermieter

Ebenso wie mit den Einkünften aus dem Erdöl versucht der algerische Staat seit der Unabhängigkeit, mit der Umverteilung der städtischen Ressourcen die eigene Legitimation zu stärken. Madani Safar Zitoun, Soziologe an der Universität Algier, erinnert daran, dass die 1962 von den „Pieds-noirs“ verlassenen Häuser eine Art „koloniale Kriegsbeute“ darstellten, die das Regime verteilte.

„Wir leben in einem autoritären Staat“, meint Zitoun. „Hier basiert alles auf Klientelismus. Der Staat erkauft den sozialen Frieden, indem er einen Teil seines Reichtums in Form von Hilfen und Zuschüssen verteilt. Das kann bis zur Hälfte des Gegenwerts einer Wohnung gehen. Außerdem setzt der Staat seine Mietforderungen nicht durch, obwohl 70 Prozent der Mieter im sozialen Wohnungsbau keine Miete zahlen. Das Geheimnis dieses stabilen Regimes ist seine populistische Wohnraumpolitik. Davon profitieren alle.“

Der 50-jährige Mohammed empfängt uns auf der Schwelle seiner „Zwei Zimmer mit Küche“. Stolz erzählt er, dass er das Häuschen, in dem er mit seiner Frau und fünf Kindern lebt, eigenhändig gebaut hat: den Zementboden, das Ziegeldach und die Mauern aus Backstein. Es gibt sogar Strom und eine Klimaanlage, „der ganze moderne Komfort“. Allerdings steht sein Haus mitten in einem Slum.

Dieses illegale Quartier aus den 1990er Jahren gehört zu der östlich von Algier gelegenen Schlafstadt Bab Ezzouar. 350 Menschen hausen hier. Neben dem Gulli häuft sich der Müll. Nach und nach haben die Bewohner ihre behelfsmäßigen schiefen Hütten zu festen Behausungen ausgebaut, von denen manche wie richtige zweistöckige Häuschen aussehen. Im Innern drängen sich vielköpfige Familien in winzigen Zimmern. Viele sind ehemalige Bauern, die vor der ländlichen Misere in die Stadt geflohen sind, aber hier wohnen auch Angehörige der algerischen Mittelklasse – Geschäftsleute, Lehrer oder Polizisten, wie Mohammed. In diesen „Beamtenslums“ „leben wir nicht, weil wir arm wären. Schauen Sie nur auf den Parkplatz – da gibt es lauter schicke Autos“.

Vor ein paar Jahren lebte Mohammed noch bei seinen Eltern, zusammen mit sieben Brüdern und deren Familien: „Wir konnten unmöglich alle dort bleiben.“ Wenn das Geld nicht reicht, um eine Wohnung zu kaufen oder zu mieten – die Miete für eine durchschnittliche Zweizimmerwohnung im Vorort ist so hoch wie der monatliche staatliche Mindestlohn – landen viele im Slum, vor allem junge Paare. Die Wartezeit für eine Sozialwohnung beträgt durchschnittlich 20 Jahre. Dank staatlicher Umsiedlungsprogramme müssen allerdings Bewohner von illegalen Siedlungen oft nur fünf Jahre warten. Noch ist der Anteil der illegalen Viertel im Stadtgebiet gering, aber er nimmt ständig zu, weil sich herumgesprochen hat, wie man die Wartezeit für eine Sozialwohnung enorm verkürzen kann.

In der Kolonialzeit herrschte in Algerien auch schon Wohnraummangel: Am Vorabend des Unabhängigkeitskriegs hausten bereits 125 000 „muslimische Franzosen“ in Elendsvierteln.9 Danach wurde es immer schlimmer. In 40 Jahren hat sich die Einwohnerzahl von Algier verdreifacht. Zur Landflucht und dem normalen Bevölkerungswachstum kamen zudem die „Sicherheitsflüchtlinge“ während des algerischen Bürgerkriegs. Zwischen 1992 und 2001 suchten viele Tausende Schutz in der Hauptstadt.

Im Verlauf dieser „Bürgerkriegsurbanisierung“ hat sich die klientelistische Verteilung von Land und Wohnraum allgemein eingebürgert. Die Islamische Heilsfront (FIS)10 und die FLN kämpften um die Kontrolle über die Stadt und deren Einwohner und versuchten aus der massiv gestiegenen Wohnraumnachfrage politischen Profit zu schlagen.

Nach ihrem ersten triumphalen Erfolg bei den Kommunalwahlen von 1990 ließen die FIS-Repräsentanten die Leute großzügig ihre selbst gebauten Häuschen errichten – ohne Eigentumsurkunde oder Baugenehmigung. In einem solchen Viertel in Bab Ezzouar sieht es aus wie im Wilden Westen: verlassene, vom Sand verwehte Gassen, eine halbfertige Moschee, eine leere Bäckerei und ein paar übrig gebliebene ockerfarben gestrichene Häuschen, verziert mit griechischen Pilasterelementen.

Nach dem Abbruch der Wahlen 1992 ging das Spiel auf kommunaler Ebene unter verschärften Bedingungen weiter. In einem Klima der Gewalt diente die Verteilung von Grundstücken den Vertretern der Exekutive vor allem dazu, sich Unterstützung zu sichern.

Seit dem Ende des Bürgerkriegs ist das Wohnraumproblem noch dringlicher geworden. Präsident Bouteflika hat zwar die gleichen Versprechungen gemacht wie seine Vorgänger: Der Bau von einer Million Wohnungen innerhalb von fünf Jahren und das „Ende der Wohnungsnot“ waren im Jahr 2009 zentrale Themen seines Wahlkampfs.11 Die Hütten in Bab Ezzouar wurden im Juli 2010 weitgehend abgerissen und ihre Bewohner in neue Wohnungen am Stadtrand umgesiedelt. Aber im Westen von Algier, auf dem Hügel von Bologhine, wohnen immer noch tausende Menschen in einem riesigen Slum.

Die häufigen Ausschreitungen in den Armenvierteln zeigen, dass der soziale Pakt, der einmal die politische Klasse Algeriens mit der Bevölkerung verband, sich auflöst. Für den Journalisten Nordine Grim von der Tageszeitung El Watan ist die Wohnungsnot in Algerien nicht nur Resultat eines Missverhältnisses zwischen Angebot und Nachfrage, schuld sei auch die inkonsequente Regierungspolitik: „In Algerien gibt es 7,2 Millionen Wohnungen für 34 Millionen Menschen. Bei einer durchschnittlichen Haushaltsgröße von fünf Personen sollte eigentlich genügend Platz für alle sein. Die Wohnungsnot ist also nicht nur ein Problem der Verfügbarkeit von Wohnraum, sondern vor allem ein Verteilungsproblem. Die eigentliche Herausforderung ist der Klientelismus und die Korruption.“

In der Verwaltung kämpfen verschiedene machtnahe Netzwerke um die Kontrolle über die städtischen Ressourcen. Mohamed Larbi Merhoum hat es selbst erlebt: Als Träger des nationalen Architekturpreises nahm er 2007 am Wettbewerb für ein Universitätsgebäude in Algier teil. Bei der ersten bautechnischen Bewertungsrunde erreichte Merhoum den ersten Platz, doch bei einer zweiten Überprüfung lehnte man sein Projekt aus Kostengründen ab.

Das Bauvorhaben des Wettbewerbssiegers, eines tunesischen Architekturbüros, war allerdings dreimal so teuer wie Merhoums Projekt. „Der Unterschied zwischen denen und mir ist, dass sie im Ausland sitzen und zu 90 Prozent in Devisen bezahlt werden wollen. Ich dagegen bin in Algier und kriege algerische Dinar.“ Im Ausland sei die Kontrolle der Geldflüsse sehr viel schwieriger, und ein Teil des Geldes sollte sehr wahrscheinlich als „Provision“ zurück in die Privatschatulle der Auftraggeber fließen.

Farce um einen Museumsbau

Weil Merhoum später nachweisen konnte, dass das tunesische Büro nicht einmal im eigenen Land eine gültige Lizenz besaß, konnte er bei der zuständigen Kommission für öffentliche Aufträge Widerspruch einlegen. Der Wettbewerb wurde neu ausgeschrieben, aber Merhoum durfte nicht mehr daran teilnehmen. 2009 ging der Auftrag schließlich an ein südkoreanisches Büro – zum doppelten Preis des von Merhoum vorgeschlagenen Bauvorhabens.

Städtisches Bauland und öffentliche Gelder für den Bau wecken viele Begehrlichkeiten. Interne Machtkämpfe toben, die umso unübersichtlicher sind, als die Zuständigkeiten bei der Vergabe von Grundstücken nicht genau definiert sind. „Bei dieser Frage kämpfen gleich drei Institutionen um die Vormachtstellung“, sagt Merhoum. „Das Ministerium für Raumordnung, das Ministerium für Städtebau und die Wilaya, die Stadtverwaltung. Bei den Entscheidungen über größere Bauprojekte in Algier spielen die persönlichen Ambitionen der zuständigen Beamten und deren Fähigkeit, ihre Netzwerke zu mobilisieren, eine große Rolle.“

Die Rivalität um die Kontrolle über Bauland, die Einfluss und Profit garantiert, führt nicht selten zum kompletten Stillstand von Bauvorhaben. Die kommunalen Abgeordneten „werden dabei entweder ausgeschlossen oder sind selbst in die undurchsichtigen Machenschaften verstrickt. Aber gegen dieses System aus Seilschaften begehren sie nie auf.“

Auf der Rue Larbi Ben M’Hidi, zwischen der Kinemathek und dem Nationaltheater, steht das halbfertige Gebäude des Musée de l’Art Moderne d’Alger (Museum für Moderne Kunst, MAMA). Hier zeigt sich, in welchem Ausmaß die herrschende Elite die Stadtplanung für ihre eigenen Interessen missbraucht.

Anfang 2006 entschied die Regierung, in den ehemaligen Galeries de France, einem neomaurischen Gebäude vom Anfang des 20. Jahrhunderts, ein Museum für moderne Kunst einzurichten – das erste dieser Art in Algerien und das zweite in Afrika überhaupt. Den nationalen Wettbewerb für die Umsetzung des Projekts gewann der in Algier ansässige und von der Académie des Beaux-Arts ausgezeichnete Architekt Halim Faïdi. Als Algier im Jahr 2007 arabische Kulturhauptstadt wurde, forderte das Kulturministerium von Faïdi eiligst die Planung eines provisorischen Innenausbaus. Alles andere, versprach man, komme später.

Faïdi übernahm die neue Aufgabe und ließ seine Pläne für das Gesamtprojekt vorerst in der Schublade. Nach der Einweihung wurden die Arbeiten jedoch nicht wieder aufgenommen. „Im Moment gibt es im Gebäude nicht einmal ein Büro für den Direktor und auch keine Lagerräume für den Bestand des Museums“, erzählt Faïdi. „Die Sicherheitsauflagen wurden einfach ignoriert – was passiert, wenn es brennt? Wie soll man unter diesen Umständen davon ausgehen, irgendwann auch Leihgaben ausländischer Museen ausstellen zu können? Das Ministerium will die Leute glauben machen, das MAMA sei ein Museum, dabei ist es höchstens eine Galerie! Das alles ist nur Staffage, ein bauliches Trompe-l’oeil!“

Algier, „die weiße Stadt“, ist zum Schauplatz eines Schattenspiels geworden. Hinter der fleckenlosen Leinwand der revolutionären Geschichte ziehen die Oligarchen des algerischen Regimes die Fäden.

Fußnoten: 1 Als „décennie noire“ wird in Algerien die Zeit des Bürgerkriegs zwischen 1992 und 2001 bezeichnet. 2 Bei zwei Autobombenanschlägen auf das Gebäude des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) und den obersten Gerichtshof in Algier am 11. Dezember 2007 kamen mindestens 31 Menschen ums Leben. 3 Tageszeitung El Watan, Algier, 1. Dezember 2008. 4 Nach 1962 verließen über eine Million französischstämmige Siedler („pieds-noirs“), die teils schon seit Generationen in Algerien lebten, das Land in Richtung Frankreich. Siehe auch Pierre Daum, „Rue Abderrahmane, Algier. Zu Besuch bei den letzten Franzosen, die geblieben sind“, Le Monde diplomatique, Mai 2008. 5 Bis heute wird die politische Landschaft Algeriens von der FLN dominiert, die bis 1989 Einheitspartei war. 6 Am 19. Juni stürzte der damalige Verteidigungsminister Houari Boumedienne den zivilen Präsidenten Achmed Ben Bella und festigte damit die Vorherrschaft des Militärs über den zivilen politischen Arm des FLN. Siehe Benjamin Stora, „La Gangrène et l’oubli“, Paris (La Découverte) 1998. 7 Am 11. Dezember 1960 kam es zuerst in Algier, dann auch in anderen Städten Algeriens zu Großdemonstrationen für die FLN und die provisorische Regierung des unabhängigen Algeriens, die 1958 in Kairo gebildet worden war. 8 „La Bataille d’Alger“ von Regisseur Gillo Pontecorvo hatte bei den Filmfestspielen von Venedig 1966 Premiere. In Frankreich war der Film bis 1971 verboten. 9 Siehe Benjamin Stora, „Le nationalisme algérien avant 1954“, Paris (CNRS Editions) 2010, S. 192. 10 Die FIS etablierte sich nach der Einführung des Mehrparteiensystems 1989 als islamistische Opposition. Nachdem sie bei der ersten Runde der Parlamentswahl im Dezember 1991 einen großen Erfolg erzielte, brach die Armee im Januar 1992 den Wahlprozess ab; die FIS wurde verboten. 11 Siehe den Auszug des Wahlprogramms unter www.mhu.gov.dz/pdf/pq.pdf.

Aus dem Französischen von Jakob Horst

Allan Popelard und Paul Vannier sind Geografen.

Große Pläne

Das algerische Regime scheint zwischen der Wiederbelebung der Drittweltbewegung der 1960er Jahre und den Versuchungen eines Islam-Populismus zu schwanken. Das zeigt sich an zwei großen Bauvorhaben in der algerischen Hauptstadt: der arabisch-südamerikanischen Bibliothek und der großen Moschee.

Das Bibliotheksprojekt entstand auf dem ersten Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs Südamerikas und der Arabischen Liga im Mai 2005 in Brasília. Einige der beteiligten Staaten gehören zu den Schwellenländern, die für eine neue, multipolare Weltordnung stehen: Algerien, Brasilien, Ägypten, Argentinien und Venezuela sind Mitglieder in der Gruppe der 15 (G 15), einem Forum, das 1989 aus der Blockfreienbewegung hervorging und als Gegengewicht zur G 7 dienen sollte. Mit der Bibliothek in Algier – nach einem Entwurf des großen brasilianischen Baumeisters Oskar Niemeyer – soll die „Zusammenarbeit und der kulturelle Austausch“ der G 15 gefördert werden.1

Die Wahl Niemeyers, der mit 103 Jahren wahrscheinlich eines seiner letzten Projekte durchführt, war kein Zufall. Er hat schon öfter in Algerien gearbeitet: Die Stadionkuppel in der „Cité Olympique“ und die Houari-Boumediene-Universität sind Niemeyer-Entwürfe. Zudem verbindet ihn eine persönliche Beziehung mit dem algerischen Präsidenten Abdelasis Bouteflika. Mit der Wahl des Architekten, der „die algerische Revolution revolutionieren“ wollte, knüpft Algier an die goldenen 1960er und 1970er Jahre an, als Algerien zur Avantgarde einer internationalen Emanzipationsbewegung gehörte.

In der Hochburg der Unabhängigkeitsbewegung lebten damals die großen Denker und Vorkämpfer der Revolution: Frantz Fanon, Ernesto Che Guevara2 , Eldridge Cleaver und die Führer der Unabhängigkeitsbewegungen aus Angola, Guinea und Mosambik. Das panafrikanische Festival3 von Algier 1969 war ein Höhepunkt des „tiers-mondisme“ – und gleichzeitig dessen Endpunkt.

Das zweite wichtige Bauprojekt in Algier ist die große Moschee. Dieses 2008 begonnene Projekt soll 1 bis 3 Milliarden US-Dollar kosten und 2013 fertiggestellt sein. Außer dem Gebetssaal für 120 000 Gläubige soll das Gebäude auch noch ein Museum für islamische Kunst und Geschichte, eine Koranschule, ein Kongresszentrum, ein Hotel, mehrere Bibliotheken, Restaurants und ein Einkaufszentrum beherbergen.

Die Moschee, das Lieblingsprojekt von Präsident Bouteflika, zeugt von dessen Ehrgeiz, der Hauptstadt seinen Stempel aufzudrücken. Damit tritt Bouteflika in die Fußstapfen seines Vorgängers Chadli Benjedid, der 1982 zum 20. Jahrestag der Unabhängigkeit auf einem Hügel über der Stadt ein riesiges Märtyrermahnmal errichten ließ.

Mit der neuen Riesenmoschee soll Algier zum religiösen Zentrum des Maghreb aufsteigen und die Konkurrenz in Casablanca übertrumpfen.4 Sie steht außerdem für das von den Islamisten seit 20 Jahren kritisierte Monopol des Staats auf alle religiösen Belange.

Und welches der beiden Projekte ist dem Staat wichtiger? Ein Blick auf den Stadtplan genügt: Das Grundstück für die arabisch-südamerikanische Bibliothek liegt im Viertel Zéralda am Stadtrand – die neue Supermoschee mit dem mit 270 Metern welthöchsten Minarett wird im Herzen der Stadt gebaut.

Fußnoten: 1 www.m-culture.gov.dz/mc2/fr/gp_4.php. 2 Siehe Ahmed Ben Bella, „So erlebte ich den Che“, Le Monde diplomatique, Oktober 2007. 3 Der amerikanische Regisseur William Klein hat dieses Ereignis in seinem Dokumentarfilm „Festival panafricain d’Alger 1969“ festgehalten. 4 Die 1993 fertiggestellte Hassan-II.-Moschee in Casablanca ist bisher die drittgrößte Moschee der Welt, nach Mekka und Medina.

Le Monde diplomatique vom 10.12.2010, von Allan Popelard und Paul Vannier