13.12.1996

Der wahre Moment der Momentaufnahme

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Der wahre Moment der Momentaufnahme

Von EDGAR ROSKIS *

FRANÇOIS SANTONI, der gegenwärtig „polizeilich gesuchte“ nationale Sekretär für Südkorsika von A Cuncolta naziunalista (dem legalen Aushängeschild des FNLC – canal historique), behauptete am 28. Oktober 1996 in L'Est républicain, die Versammlung von Tralonca sei „bis ins einzelne mit der Regierung abgesprochen“ gewesen, „sowohl was die Art des Auftritts als auch was die politischen Äußerungen angeht“. Man erinnert sich noch an die Bilder dieser spektakulärsten „Pressekonferenz“, die je von den korsischen Nationalisten organisiert wurde. In der Nacht vom 11. auf den 12. Januar 1996 hatten sich etwa sechshundert vermummte Kämpfer in Uniform und schwerbewaffnet (namentlich mit zum Teil in Stellung gebrachten Raketenwerfern) um einen ebenfalls maskierten „Sprecher“ versammelt, der beauftragt war, bei theatralischer Beleuchtung durch eine Gaslaterne eine „Waffenruhe“ zu verkünden.

„Wozu diese Masken“, fragte sich Claude Sampère, Journalist bei France 2 und Autor einer Korsika gewidmeten Sendung, „wenn sogar die Nachrichtenassistentin unserer Redaktion genau weiß, wer sich hinter jeder Maske verbirgt.“ Auch er zweifelt an der „Klandestinität“ dieser Zusammenkunft und bestätigte damit die Behauptungen Santonis. In der Tat kann man sich schwer vorstellen, daß dieses Treffen, das so viele Journalisten anlockte, der Wachsamkeit des Staates entgangen sein soll. Das Siegel der „Vertraulichkeit“ ebenso wie das komplizierte Zulassungsverfahren, das man durchlaufen mußte, wollte man zu den Auserwählten gehören, hatte vielen den Mund wässrig gemacht. Ob allerdings eine Regierung diese sensationelle Inszenierung, die beeindruckenden Rituale, die faszinierende Beleuchtung, die furchterregenden Kostüme, Requisiten und Figuren gesponsert hat ist weniger interessant als die Frage, inwieweit die Gäste dieses nächtlichen Maskenballs willfährige Werkzeuge einer trivialen „Informationsveranstaltung“ waren.

Die Wirklichkeit als Reißer

SZENARIEN dieser Art, in denen der Kameramann wie gebannt seinem Gegenstand die Herrschaft über jene „Details“ überläßt, die gewöhnlich seinen Aufnahmen ihre spezifische Handschrift verleihen (Licht, Zeitpunkt, Blickwinkel, Bildanordnung) und normalerweise den Ruf seiner unabhängigen Autorschaft begründen, erinnern an andere Zeremonien: an irische Begräbnisse von „Märtyrern“ der IRA oder INLA, denen die Gefährten zur „letzten Ehre“ ein paar Salven abfeuern; an „getarnte“ Trainingslager der Armenischen Befreiungsarmee (Asala) im Libanon; an Paraden von Hamas-Kämpfern in Gaza, die mit langen Messern und glänzenden Maschinenpistolen behängt sind; an martialische Aktionen der „ninjas“, Spezialeinheiten der Polizei in Algerien; an die zapatistischen Kämpfer um Subcomandante Marcos.

Als Titelbild ihrer internationalen Ausgabe vom 3. Juni 1996 verwandte die amerikanische Wochenzeitschrift Time unter einer reißerischen Überschrift („Monster der Mafia“, „sadistischer Verbrecherboß“) ein sensationelles Foto: die Verhaftung von Giovanni Brusca, Chef des sizilianischen Corleone-Clans, brutal, grausam, fett und daher „das Schwein“ genannt. Brusca wird beschuldigt, 1992 bei Palermo das Attentat auf den Richter Giovanni Falcone organisiert, ja selbst die Bombe gezündet zu haben, die Falcone, seine Frau und drei Leibwächter in den Tod riß. Bärtig, ausdruckslos, die Hände auf dem Rücken gefesselt, wird „das Schwein“ von Time zur Schau gestellt; zwei bewaffnete Polizisten, auch sie wieder schwarz maskiert, haben ihn untergefaßt. Ihre Schatten heben sich vor einem helldunklen Hintergrund ab, besonders der des Mafioso, der offenbar von einem Theaterscheinwerfer angeleuchtet wird. Auf den ersten Blick könnte man an eine Vorführung in einem Kommissariat glauben, an ein Verhör vor starken Lampen, wie im Film.

Doch nein. Der aufmerksame Leser wird entdecken, daß der Hintergrund dieses Bildes digital verändert wurde: „background digitally altered“, bestätigt das Magazin kleingedruckt auf der Innenseite. Aus einem technisch unvollkommenen Negativ, aufgenommen von dem Fotografen Tony Gentile von der italienischen Agentur Sintesi am Ausgang des Polizeireviers von Palermo, hat Time ein Kinoplakat mit Titeln und Namen in roten, gelben und weißen Lettern gemacht. Einem Schnappschuß hat es ein glattes, zeitloses und feinkörniges Bild vorgezogen; einer visuellen Information einen Werbeeffekt. Was Time, diesmal mit Hilfe eines Computers, rekonstruiert hat, ist nichts anderes als ein Fototermin (photo opportunity), wie die amerikanischen „Pressedienste“ sie Berufsfotografen neben anderen ähnlichen Erleichterungen anbieten, wobei sie die Nettigkeit bisweilen so weit treiben, daß sie gleich noch die optimale Brennweite, Belichtungszeit und Blende angeben.

Die Erfindung einer empfindlichen Emulsion, der Bromsilbergelatine, im Jahr 1880 löste die Revolution der Momentaufnahme aus, „ein regelrechter Bruch im Imaginären, in dem sich gleichermaßen die Entstehung des Films, des Fotojournalismus und der Massenfotografie ankündigte“.1 Die Beherrschung der äußeren Erscheinung konnte nun von einem Subjekt, das gewohnt war, sorgfältig eine Pose einzunehmen, auf einen Autor übergehen, der ein scharfes Werkzeug besaß und imstande war, die Zeit anzuhalten, ihre unliebsamen und nicht unbedingt glorreichen Augenblicke einzufangen, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen und nicht mehr nur sklavisch zu begleiten. Damit begann die Geschichte des visuellen Journalismus, der, keiner Macht verpflichtet, als eine Art Gewissen der bürgerlichen Gesellschaft fungiert. Jacob Riis (1849-1914) zeigte einer ungläubigen New Yorker Mittelschicht das Elend der Slums von Manhatten, Eugene Smith (1918-1978) deckte den Skandal der verseuchten Minamata-Bucht auf, Margaret Bourke- White (1904-1971) offenbarte der Welt das Schauspiel der befreiten Todeslager; die Dokumentarfilme von Frederick Wiseman führen der amerikanischen Nation die Grausamkeit ihrer Institutionen vor Augen, während etwa ein nach dem 18. November dieses Jahres aufgenommenes Amateurvideo die israelische Gesellschaft mit der feigen Brutalität ihrer Grenzsoldaten konfrontiert.

Unbequem, flink, boshaft, unzensiert, untergräbt jede echte Momentaufnahme die offizielle Zeitrechnung. Für die politisch Mächtigen war es von absoluter Wichtigkeit, sie zu domestizieren, sich ihre Technik anzueignen, um ihr eine andere Richtung zu geben – ihre eigene nämlich. Nachdem sie ihren Rückstand gegenüber einer Information, die ihrer Kontrolle entglitten war, inzwischen wieder wettgemacht haben, bestärken die gewieftesten „Informationsveranstalter“ die Reporter in dem Glauben an ihre Willensfreiheit, in der Illusion, zu „kreieren“, was man sorgfältig für sie vorbereitet hat, wie etwa die treuherzigen Joggingauftritte Bill Clintons, die seine Jugend und Dynamik symbolisieren sollen.

Die künstliche Produktion größtmöglicher Authentizität

DIE gelungenste „Momentaufnahme“ dieser künstlichen Veranstaltungen ist gewiß die von Joe Marquette (Associated Press) vom Dezember 1995, wo man den amerikanischen Präsidenten in Begleitung der weiblichen Basketball-Nationalmannschaft laufen sieht.2 Im Anschein größtmöglicher Spontaneität findet sich darauf alles, was für eine wohlverstandene „Information“ nötig ist: sieben Frauen, drei davon Schwarze, eine ausgewogene Auswahl patriotischer „minorities“, alle in einem Sweatshirt mit dem Aufdruck „USA“ – im Gefolge des demokratischen Leaders.

Der pfiffigste „Schnappschuß“ stammt von Marcy Nighswander (ebenfalls Associated Press) und erschien am 23. Dezember 1993 im International Herald Tribune; er zeigt Präsident Clinton im Drillichzeug anläßlich einer Jagdpartie in Maryland, begleitet von dem demokratischen Abgeordneten Bill Brewster, der gut sichtbar ein Gewehr hält. Eine augenzwinkernde Anspielung an die Adresse der Lobby der National Rifle Association auf die soeben verabschiedete Lex Brady (die den freien Besitz von Feuerwaffen teilweise einschränkt).

Der Besucher von Disneyland Paris, von Disneyworld (Orlando, Florida) oder von Disneyland (Los Angeles, Kalifornien) begegnet auf seinen Streifzügen durch die technologisch hochgerüsteten Attraktionen (Computersteuerung, Hologramme, Simulatoren, animatronics) auch einem hübschen altmodischen Gegenstand: einem schmiedeeisernen Schild, bestehend aus einem anachronistischen Bilderrahmen auf einer langen gedrehten Stange. Diese von der Firma Kodak gestifteten Schilder markieren im Park die strategisch günstigsten Punkte, die sogenannten picture spots. Im Rahmen steckt ein von der Sonne ausgebleichter Farbabzug, der dem Besucher von dieser Stelle aus das abgebildete „tolle Foto“ verspricht; man lädt ihn also ein, das selber zu reproduzieren, was bereits eine Reproduktion ist. Man kommt eben nicht umhin, sich bei jedem Bild zu fragen, wer sein eigentlicher Autor ist.

dt. Andrea Spingler

* Journalist, Honorarprofessor am Fachbereich Kommunikationswissenschaften der Universität Paris X (Nanterre).

Fußnoten: 1 André Gunthert, in „La révolution de la photographie instantanée, 1880-1900“, eine von der Französischen Nationalbibliothek und der Société française de photographie herausgegebene Broschüre zur gleichnamigen Ausstellung, die Gunthert gemeinsam mit Sylvie Aubenas organisiert hat (bis zum 4. Januar 1997 in der Galerie Colbert, im Rahmen des Pariser „Monats der Fotografie“). Die Schlußszene von „Pretty Baby“ (Louis Malle, 1975), in der man sieht, wie der Fotograf Bellock durch das Erscheinen der ersten leichten Kodaks in seinem Beruf wie in seinem Liebesleben entthront wird, illustriert sehr gut diese „Revolution“. 2 Veröffentlicht in Libération, 4. Januar 1996, unter der Überschrift „Clinton en forme pour l'année électorale“.

Le Monde diplomatique vom 13.12.1996, von EDGAR ROSKIS