13.12.1996

Visionen, Aversionen und fehlende Konzepte

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Visionen, Aversionen und fehlende Konzepte

Von NINA BASCHKATOW *

DIE Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) feiert ihr fünfjähriges Bestehen. Eine stolze Leistung für eine Institution, die im Dezember 1991 visions- und diskussionslos gegründet wurde und die man damals bestenfalls als politischen Trick gesehen hat, schlimmstenfalls als ein verkapptes Mittel, um die nach dem Zerfall der Sowjetunion neu entstandenen Republiken wieder in den russischen Machtbereich zu bringen. Allerdings behindern die von der UdSSR übernommenen Strukturen den schwierigen Entwicklungsprozeß des Staatenbundes.

Die Union der fünfzehn Sowjetrepubliken entstand schrittweise zwischen 1924 und 1936. Auf lokaler und regionaler Ebene wurde die kulturelle Vielfalt gefördert, doch der Patriotismus blieb dem „kommunistischen Vaterland“ vorbehalten; Klassenzugehörigkeit und Ideologie sollten die Menschen stärker prägen als ihre ethnische Identität. Das Wirtschaftssystem basierte auf interregionaler Arbeitsteilung – ein Stalin zugeschriebener machiavellistischer Plan, der Unabhängigkeitsbestrebungen unterbinden sollte.

Doch solche Ambitionen konnte Stalin schon mit seinem omnipräsenten Polizeiapparat ersticken. Die Industrialisierung der dreißiger Jahre entsprach eher dem allgewaltigen Zentralismus der damaligen Zeit, aber auch einem Größenwahn, der sich in riesigen Kombinaten manifestierte, die eine – freiwillige oder erzwungene – Umsiedlung großer Teile der Bevölkerung erforderten. Zu diesem Völkergemisch kamen die ehemaligen Insassen der Arbeitslager, die nach ihrer Freilassung vor Ort blieben, dazu viele Kriegsevakuierte und auch Menschen, die in geographischer Mobilität ihre einzige Freiheitschance sahen.

Kann man die UdSSR als ein ganz normales Kolonialreich sehen? Man könnte es nur, wenn das zaristische Rußland mit den britischen, französischen, spanischen oder portugiesischen Kolonialreichen vergleichbar gewesen wäre. Doch in diesen klassischen Imperien herrschte eine klare Unterscheidung zwischen Mutterland und überseeischen Besitzungen. Die Kolonisierten waren „exotische“ Wesen, deren Kultur mit dem Mutterland, das die Ressourcen der Kolonien ausbeutete, nichts gemein hatte. Zarenreich wie UdSSR stellten hingegen politisch wie ökonomisch eine Einheit dar und verfügten über eine gemeinsame Infrastruktur; auch fehlte eine klare Vorstellung von „Mutterland“. Die verschiedenen Völker nahmen am politischen und kulturellen Leben des Imperiums teil. Zahlreiche Revolutionsführer waren Nichtrussen, darunter viele Männer der ersten Stunde (Leo Trotzki, Josef Stalin, Felix Dserschinski); der Tscheka, der Geheimpolizei, gehörten zahlreiche Letten an.

Dieses Gebilde zerbrach nicht durch einen Aufstand „unterdrückter Völker“. Das Vakuum von 1991 führte vielmehr zu einem enormen Identitätsproblem – für die Russen, die sich nie als ethnische Gruppe angesehen hatten, wie für die Nichtrussen, denen allein ihre ethnische Zugehörigkeit blieb, um ihre Andersartigkeit auszudrücken.

Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten wurde am 8. Dezember 1991 von den drei slawischen Staaten (Rußland, Weißrußland und der Ukraine) als Nachfolgerin der UdSSR gegründet, am 21. Dezember traten ihr auf dem Gipfeltreffen von Almaty acht weitere Republiken bei; im März 1994 folgte auch Georgien. Die drei baltischen Staaten lehnen die Mitgliedschaft ab und streben eine Integration in den Westen an. Selten werden Vereinbarungen auf den GUS-Konferenzen einstimmig erzielt, und noch seltener werden sie auch wirksam, weil die Interessen der einzelnen GUS-Mitglieder zu unterschiedlich sind.

So hat Weißrußland größte Schwierigkeiten, sich von Rußland abzunabeln, während für die Ukraine und Turkmenistan die GUS nur eine Zwischenetappe zur friedlichen Sezession darstellt. Für andere Republiken wie Kasachstan ist sie eine geeignete Institution, um neue Formen einer freiwilligen Integration zu entwickeln. Rußland selbst hat keinerlei klare Vorstellungen von der Zukunft der GUS.2 Dennoch gewinnt die Gemeinschaft an Konturen. Die 1991 gegründete Arbeitsgruppe wurde 1992 zum Exekutivsekretariat umgebaut. Auf dem Gipfel von Taschkent wurde im Mai 1992 ein Abkommen über gemeinsame Sicherheit unterzeichnet. Und die seit 1993 bestehende Wirtschaftskommission entwickelt sich zu einer echten politischen Institution, in der jedes Mitgliedsland durch einen Botschafter vertreten ist.

Anfangs ging es vor allem um die Wirtschaftsbeziehungen und Probleme der gemeinsamen Sicherheit. In der GUS leben 60 Millionen Menschen jenseits ihres ethnischen Zugehörigkeitsgebietes, 25 Millionen von ihnen sind Russen.3 Auch die meisten anderen Nationalitäten sind russophon, denn ein Usbeke in Moldawien oder ein Armenier in Georgien lernte die Lingua franca des Reiches leichter als die lokale Sprache. Diese Menschen werden jetzt häufig in allen Republiken zu Opfern der Nationalitätenpolitik, etwa der Bevorzugung von Einheimischen bei der Arbeitsvergabe oder der Beschränkung der Amtssprache auf die Landessprache.

In Rußland wird über diese Probleme so heftig diskutiert, daß die GUS inzwischen zum Hemmschuh einer vernünftigen Entwicklung geworden ist, weil sie das Mißtrauen gegenüber dem Kreml noch schürt. Im Lager der russischen Nationalisten, wo sich der isolationistische gegen den „großrussischen“ Flügel durchgesetzt hat, gilt die UdSSR als Ursache aller Katastrophen des russischen Volkes; nach ihrem Zusammenbruch sieht man endlich die Chance, die Ressourcen für die eigene Entwicklung einzusetzen. Dagegen halten die westlich orientierten Kräfte die Integration der GUS für vorteilhaft, weil nur ein demokratisches Rußland ihr organisierendes Zentrum sein könne. Es gelte nur, alle Mitglieder von den Vorteilen dieser Struktur – auch den ökonomischen – zu überzeugen, damit sie in einem demokratisierten Rußland ihren logischen Partner erkennen.4

Die neuen Staaten geben der Bewahrung ihrer Unabhängigkeit absoluten Vorrang, weshalb sie auch zunehmend bilaterale Verträge vereinbaren. Und doch hat sich zwischen 1992 und 1994 das Klima in der GUS verändert. Seit März 1992 gibt es im russischen Außenministerium eine spezielle GUS-Abteilung. Überall, sogar in der Ukraine, stehen Vereinbarungen mit Moskau auf der Tagesordnung. Rußland denkt freilich keineswegs daran, sich für die anderen Mitgliedsstaaten aufzuopfern. Die russischen Politiker dringen zwar – mit Unterstützung von Armenien und Kasachstan – auf eine militärische Integration, bremsen jedoch auf ökonomischem Gebiet.

Mit dem Verschwinden der UdSSR übernahm jeder der Nachfolgestaaten einen Teil des hinterlassenen militärisch- industriellen Komplexes (militärisches Gerät, Ausbildungszentren, militärische Einrichtungen). Aber nirgends reichte das zu einer autonomen Infrastruktur aus; die Verteidigung jedes Landes ist also auf die Koordinierung der gemeinsamen Kräfte angewiesen. Ein besonderes Problem war eine gesicherte Kontrolle der Nuklearwaffen.

Auch auf militärischem Gebiet verhält sich Rußland anders als die übrigen Republiken. Für diese sind eine nationale Armee und die Kontrolle der eigenen Grenzen wichtige Attribute ihrer Unabhängigkeit. Die Militärunion leuchtet ihnen um so weniger ein, als es keinen gemeinsamen Gegner gibt: Die Bedrohung im Transkaukasus5 unterscheidet sich von der in Mittelasien oder in den westlichen Gebieten der ehemaligen UdSSR. Allein schon die vorhersehbare Weigerung der Ukraine, sich an einer gemeinsamen Militärstruktur zu beteiligen (zu den gespannten Beziehungen zwischen Ukraine und Rußland siehe den Artikel von Alain Guillemoles), unterminiert die Idee eines gemeinsamen GUS-Sicherheitskonzeptes.

Rußland hingegen fühlt sich verwundbar, weil es seine unendlich langen Außengrenzen nicht verteidigen kann. Zudem kann die russische Gesellschaft nicht noch eine Welle von zurückflutenden Soldaten verkraften. Der Aufbau neuer gemeinsamer Militärstrukturen, für den sich Rußland stark macht, scheiterte aber auch an den Finanzen. Die neue, im November 1993 beschlossene russische Militärdoktrin definiert die lokalen Konflikte auf dem Gebiet der früheren UdSSR als zentrales Sicherheitsrisiko für die gesamte GUS. Mit diesem Argument rechtfertigt der Kreml die fortdauernde Präsenz russischer Truppen in seinen Randgebieten – zur „Sicherung des Friedens“. Dieses Konzept trifft in der Ukraine, in Aserbaidschan, Usbekistan und Turkmenistan auf besonders heftigen Widerspruch.

Im November 1994 hat sich Rußland gegenüber Armenien, Georgien, Tadschikistan und Kirgisistan durchgesetzt: Man drängte die widerspenstigen Republiken zu einer Militärunion, zu gemeinsamen friedenssichernden Operationen und schließlich – im April 1994 – zur gemeinsamen Verteidigung der Grenzen in Mittelasien und Weißrußland unter russischem Oberbefehl (im August 1995 traten dieser Militärunion auch noch Georgien und Armenien bei).

Die militärische Zusammenarbeit in der GUS basiert zwar noch immer auf dem Abkommen von Taschkent, doch ist man von den ursprünglichen Zielen weit entfernt. Die finanzielle Bürde trägt Rußland, die anderen Mitgliedsländer sind am gemeinsamen Oberkommando vorwiegend formell beteiligt. Die Staatschefs weigern sich, Informationen über ihre nationalen Armeen auszutauschen. Die Frage der Nato-Osterweiterung hat allerdings die Lage verändert.

Die Beteiligung Rußlands an der Partnerschaft für den Frieden und die Idee einer Verteidigungscharta haben die Hoffnung belebt, daß Rußland zum Vollmitglied im europäischen Sicherheitssystem werden könnte. Andererseits wurden auch die Kräfte alarmiert, die sich von Europa distanzieren und stärker auf die vorhandenen Machtmittel setzen – die also am liebsten gemeinsam mit den GUS-Partnern ein Gegengewicht zur Erweiterung des Atlantischen Bündnisses bilden würden.

Die Lockungen der Wiedereingliederung

DIE Wirtschaftsbeziehungen führen zu weiteren unvermuteten Schocks. Die Republiken, die zahlreiche bilaterale Abkommen eingingen, um ihre Unabhängigkeit abzusichern, haben die Marktwirtschaft kennengelernt. Der Faktor Erdöl erschüttert das Gleichgewicht so sehr, daß es wichtiger wird, sich den Zugang zu den aserbaidschanischen Vorkommen zu sichern, als Armenien zu unterstützen. In ihrem Versuch, den russischen Einfluß zu begrenzen, stellen die einstigen Unionsrepubliken fest, daß die „richtigen“ Ausländer schlimmer sein können und daß nationale Unabhängigkeit kein ökonomisches Kriterium ist. Die multinationalen Konzerne setzen ihre Logik der Grenzenlosigkeit durch, ohne sich um nationale Empfindlichkeiten zu kümmern.6

Der russische Staat sieht sich gezwungen, zum Ausgleich der Schulden anderer GUS-Mitglieder auf Unternehmensbeteiligungen einzugehen. Ihm wäre Bargeld lieber, doch es ist die einzige Methode, wie er die 6 Milliarden Dollar Schulden von anderen GUS-Partnern überhaupt eintreiben kann. Als die westlichen Berater zuallererst Moskaus direkte finanzielle Zuwendungen kritisierten, wurden sie zwar Ende 1991 eingestellt, doch 1992 und 93 unterstützte man die GUS-Partner weiterhin indirekt, insbesondere durch Energieverkäufe unter Weltmarktpreis, aber auch durch großzügige Kreditvergabe innerhalb der Rubel-Zone. 1992 entsprachen die Handelskredite für diese Republiken etwa 70 Prozent der russischen Exporte in die GUS. 1993 belief sich die Summe der direkten Handelskredite und der Kredite der Zentralbanken der verschiedenen Republiken an einheimische Betriebe (zur Bezahlung russischer Zulieferer) zwischen 9 und 10 Prozent des russischen Bruttosozialprodukts.7

Seit 1993 setzt Rußland trotz der Zahlungsrückstände seine Erdöl- und Gaslieferungen unverändert fort. Jede Drohung mit einem Lieferstopp wird – auch vom Westen – als „wirtschaftliche Erpressung“ angeprangert. Für Energiekäufe schuldeten die GUS-Mitglieder und die baltischen Länder Rußland Ende 1995 insgesamt 5 Milliarden Dollar. Hinzu kommen Geldeinlagen und Arbeitserträge, die in allen früheren Sowjetrepubliken gebunden sind, sowie Militärhilfen und Kosten für gemeinschaftliche Einrichtungen wie das Raumfahrtzentrum in Baikonur.8

Trotz dieser Schwachpunkte gibt es reale Möglichkeiten für eine Konsolidierung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Die Komplementarität der verschiedenen nationalen Ökonomien entspricht der allgemeinen Tendenz zu einer Internationalisierung und Globalisierung der Wirtschaft. Dennoch kommt die Integration auf einer soliden Basis – das Credo der Wirtschaftsfachleute – nicht recht voran. Bis auf weiteres bleiben die GUS- Mitglieder inklusive Rußland eine „Notgemeinschaft“.9

Der Normalbürger wünscht sich eine gewisse Integration, was die Politik berücksichtigen muß. Für Millionen Bürger der ehemaligen Sowjetunion heißt Reisefreiheit nicht, zum Einkaufsbummel an die Côte d'Azur zu fliegen, wie es ein paar Neureiche können. Schon ein einfacher Besuch bei Verwandten ist zu einem schwierigen und oft entwürdigenden Unternehmen geworden. Zwar gibt es jetzt Kontakte zu einer neuen intellektuellen und künstlerischen Welt, doch zur alten sind sie verlorengegangen. Die Menschen wollen nicht die alte Sowjetunion zurückhaben, sondern die Freiheit.

Ihr gemeinsames historisches Erbe begünstigt die Annäherung. Auch wenn es nicht immer harmonisch zuging, haben sich Generationen von Russen, Ukrainern, Georgiern usw. an ein Zusammenleben gewöhnt. Sie haben alle den Schock der Reformen und der Privatisierungen erfahren, die von ausländischen Beratern durchgesetzt wurden. Mit der Zeit erweist sich, daß Rußlands Aggressivität sich eher in Worten als in Taten äußert. Man geht zunehmend auf Initiativen aus den Nachbarstaaten ein oder verlangt sogar nach ihnen, wie Usbekistan hinsichtlich der Krise in Tadschikistan (siehe den Artikel von Vicken Cheterian).10

Der Westen entdeckt langsam, daß es weder einfach noch billig ist, einen Ersatz für Rußland zu finden. Inzwischen wird auch akzeptiert, daß Rußland strategische Interessen in den früheren Unionsrepubliken hat und daß es unlogisch ist, jeden Schritt auf dem Weg zu einer Westintegration zu begrüßen, vergleichbare Schritte in der GUS jedoch als neoimperialistischen Akt zu werten.11 Vielmehr ist die Herausbildung einer integrativen Struktur auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, die demokratisch zustande kommt und weltoffen ist, eine Sicherheitschance für die Region und ein Stabilitätsfaktor für die betreffenden Länder.

dt. Eveline Passet

*Kodirektorin von „The European Agency“, Brüssel.

Fußnoten: 1 Vgl. Nina Bachkatov und Andrew Wilson, „Les Enfants de Gorbatchev“, Paris (Calman-Lévy) 1988, S. 97f. 2 Siehe Margot Light, „Foreign Policy Thinking“, in „International Factors in Russian Foreign Policy“, Oxford (Clarendon Press), S. 57ff. 3 Siehe Transition, Prag, 1. November 1996, S. 31. 4 F. Shelov-Kodeyaev, „Strategy and tactics of Russian Foreign Policy“, zitiert in J. Lough, RFE/RL Research Report, Prag, 14. Mai 1993, S. 53-60. 5 Siehe Vicken Cheterian, „Les mille et une guerres du Caucase“, Le Monde diplomatique, August 1994. 6 Die Londoner Trans World Metals beabsichtigt, ein grenzüberschreitendes russisch-ukrainisches Hüttenwerk zu gründen, vgl. Financial Times, London, 11. September 1996. 7 Siehe Anders Bornefalk, „The rouble zone: a case of irrationality“, Ukrainian Economics Review, Kiew, Vol. 1, Nr. 1/2, 1995. 8 Siehe Transition, Prag, 23. August 1996. 9 Siehe Sergej Satyrin, „Problems and prospects of economic reintegration within the CIS“, Review of Economies in Transition, Unit for Eastern European Economies, Bank von Finnland. 10 Siehe „Inside Russia and the FSU“, Monthly Intelligence Bulletin of the European Press Agency, Brüssel, Vol. 4, Nr. 8, August 1996. 11 Siehe Hannes Adomeit, „Russia as a great power in world affairs, images and reality“, International Affairs, New York, Januar 1995.

Le Monde diplomatique vom 13.12.1996, von NINA BASCHKATOW