13.12.1996

EINE ÖKONOMISCHE THEORIE, DIE EIN HALBES JAHRHUNDERT ÜBERDAUERT HAT

zurück

EINE ÖKONOMISCHE THEORIE, DIE EIN HALBES JAHRHUNDERT ÜBERDAUERT HAT

■ Keynes oder Der Geist der praktischen Verantwortung

IN der Geschichte der politischen Ökonomie ist John Maynard Keynes neben Marx der einzige Autor, dessen Name zu einem -ismus wurde. Und trotz heftiger Attacken der Vertreter des Neoliberalismus bleibt der Keynesianismus auch fünfzig Jahre nach dem Tod des Autors der „Allgemeinen Theorie“ eine lebendige Denkrichtung. Keynes, der brillante Kopf, ein kultureller Schöngeist und zugleich ein politisch aktiver Mensch, war vom Geist der Verantwortung erfüllt: Der Zweck der Ökonomie liegt für ihn allein darin, dem Menschen zu dienen. Damit verstört er zutiefst alle, die nur auf den Markt setzen und strikt dagegen sind, daß die Staatsbürger sich in die Angelegenheiten einmischen, die sie direkt betreffen.

Von MICHEL BEAUD und GILLES DOSTALER *

John Maynard Keynes ist 1946, vor fünfzig Jahren, im Alter von 62 Jahren gestorben. Zuletzt war er noch während des Zweiten Weltkrieges aktiv an den Verhandlungen beteiligt, in denen die britische Regierung Wirtschafts- und Handelsverträge durchsetzen wollte, die eine dauerhafte internationale Ordnung sichern sollten.

Keynes war Zeit seines Leben ein außerordentlich aktiver Mensch.1 In Cambridge hielt er Vorlesungen, betreute die Arbeiten seiner Schüler und leitete seinen Diskussionskreis für politische Ökonomie, darüber hinaus war er noch für die Finanzen des King's College verantwortlich, dem er als Fellow angehörte. Zum Schreiben zog er sich nach Tilton in Sussex zurück, wo er sich zugleich um sein Landgut kümmerte; in London nahm er eine ganze Reihe politischer, administrativer, finanzieller und journalistischer Aufgaben wahr.

Keynes hielt stets engen Kontakt zu seinen Freunden aus dem Bloomsbury- Kreis, einer Gruppe von Künstlern und Literaten, zu denen Virginia Woolf, Lytton Strachey, Duncan Grant und andere gehörten. Nachdem er durch Spekulationsgeschäfte und die Einkünfte aus seinen Büchern und Zeitschriftenartikeln ein gewisses Vermögen erworben hatte, betätigte er sich auch als Kunstmäzen: Er gründete ein Theater, subventionierte eine Balletcompagnie und unterstützte einige befreundete Künstler. Während des Zweiten Weltkriegs präsidierte er einem Komitee zur Förderung der Musik und der Künste, aus dem später das Arts Council of Great Britain wurde. Bei seinem Tode hinterließ er eine bedeutende Sammlung von Gemälden und wertvollen Büchern.

Man könnte John Maynard Keynes also unter ganz verschiedenen Aspekten würdigen, aber in der aktuellen Phase eines ungehemmten Laisser-faire-Denkens muß man die zentrale Rolle hervorheben, die das Prinzip der Verantwortung in seinem Denken einnahm. Daß Keynes der bedeutendste Ökonom unseres Jahrhunderts war, haben selbst seine Gegner und Kritiker anerkannt, und doch ging er davon aus, daß der Ökonomie eine nachgeordnete Stellung gegenüber Ethik und Politik zukomme. Aufgabe des Ökonomen sei es, seinen Teil der Verantwortung gegenüber Problemen seiner Zeit ebenso wahrzunehmen wie Politiker, Journalisten und Führungskräfte im öffentlichen oder privaten Sektor.

So wird in der Vielzahl seiner Werke und Tätigkeiten eines deutlich: John Maynard Keynes hat stets entschieden und beharrlich versucht, seine Zeitgenossen von der Notwendigkeit grundlegender Reformen zu überzeugen, zum einen um die Bedrohung der menschlichen Zivilisation durch globale Katastrophen abzuwenden, zum anderen um allen Menschen die materiellen Grundlagen eines besseren Lebens zu sichern. Im Vorwort zu seinen „Essays in Persuasion“ schreibt er, daß „die Mehrzahl dieser Aufsätze mit dem militanten Ehrgeiz verfaßt wurden, die öffentliche Meinung zu beeinflussen.“2

Grundsätzlich war für Keynes die Ökonomie nicht etwa Selbstzweck, sondern ein politisches Werkzeug im Dienst der Gemeinschaft: „Es wäre phantastisch, wenn die Ökonomen es schaffen würden, sich als bescheidene Fachleute zu begreifen, etwa auf derselben Stufe mit Zahnärzten.“3 In seinen kritischen Arbeiten ging es um den Krieg, die Instabilität der internationalen Beziehungen, die Arbeitslosigkeit, die finanzpolitische Orthodoxie und das blinde Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Marktes.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs war Keynes Berater des britischen Finanzministeriums bei der Versailler Friedenskonferenz. Er verurteilte die revanchistische Haltung, die sich in den hohen Reparationsforderungen an Deutschland ausdrückte. Er hielt es für wichtiger, Europa wieder aufzubauen und für allgemeinen wirtschaftlichen Wohlstand zu sorgen, statt die deutsche Wirtschaft zu zerstören. Seine Überzeugung, der Vertrag von Versailles werde zu einer unheilvollen Entwicklung in Europa beitragen, führte zu seinem Ausscheiden aus der britischen Delegation. Resultat dieser Auseinandersetzung war seine kurz darauf publizierte Arbeit „Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages“ (1919). Mit diesem Buch wurde Keynes berühmt. Die ökonomischen Probleme, die in Deutschland zum Aufstieg der Nationalsozialisten beitrugen, haben ihm recht gegeben. Aus derselben Haltung heraus arbeitete er seit Beginn des Zweiten Weltkriegs am Entwurf eines internationalen Zahlungssystems, das eine Rückkehr zu dauerhaftem Wohlstand ermöglichen sollte.

In den zwanziger Jahren wandte sich Keynes gegen die Rückkehr zum Goldstandard und die Rückführung des Pfund Sterling auf den Vorkriegskurs, weil diese Währungspolitik seiner Ansicht nach zu Lasten der Arbeiterschaft ausgehen mußte. Seine Aufsätze „Die wirtschaftlichen Folgen Churchills“ (1926) und „Das Ende des Laisser-faire“ (1925) sind scharfe Attacken gegen die ökonomische Orthodoxie4 , gegen das Dogma von der Selbstregulierung der Volkswirtschaften durch die Marktkräfte und die Unterwerfung unter ökonomische Gesetze, die in Wahrheit die Gesetze der Stärkeren seien. In Abgrenzung gegen die Deflationspolitik, die in den zwanziger Jahren und in der Weltwirtschaftskrise betrieben wurde, forderte er eine staatliche Interventionspolitik zum Abbau der Arbeitslosigkeit, er kritisierte die ewige Litanei über die heilige Lehre der ausgeglichenen Bilanzen und führte heftige Attacken gegen eine Politik, die auf Lohnsenkungen setzt, den Schwächsten der Gesellschaft Opfer abfordert und ausgerechnet den Ärmsten die Sozialleistungen kürzt. Die Krönung dieser kämpferischen Bemühungen war in gewisser Weise die Präsentation seines 1936 erschienenen Hauptwerkes, „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“: In den Schlußbetrachtungen zu diesem eindrucksvollen Theoriegebäude macht der Autor deutlich, daß er Arbeitslosigkeit und zu große Einkommens- und Vermögensunterschiede als die entscheidenden Folgen der Funktionsweise moderner Volkswirtschaften sieht.

John Maynard Keynes war also keineswegs ein „reiner Theoretiker“, der sich mit wirklichkeitsfernen abstrakten Modellen begnügt hätte, seine wissenschaftlichen Beiträge waren vielmehr Resultat des beharrlichen Bemühens, Antworten auf entscheidende politische und soziale Fragen zu finden. Bei den heutigen Ökonomen findet sich eine solche Haltung viel zu selten.

Keynes' Denken war vielfältig und komplex, es zeigt eine innere Entwicklung, die in manchen Bereichen zu nuancierteren Aussagen, in anderen dagegen zu Widersprüchen führte. Die „keynesianische Revolution“ – der Begriff wurde erst nach dem Tode von Keynes geprägt5 – besteht in einer Wiederbelebung der Theoriebildung. Der Keynesianismus hingegen, der sich in der Nachkriegszeit durchsetzte und auf den man sich fast allenthalben berief, ist uneinheitlich und widersprüchlich. Die Spannweite reicht von einem Rezeptionspol, der den radikalen Bruch zwischen dem Keynes'schen Denken und der orthodoxen Theorie betont und den vor allem Joan Robinson besetzt hat, bis zum Gegenpol der liberalen Keynesianer, die ihre keynisanische Makroökonomie in einem Rahmen rekonstruierten, die der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Paul Samuelson als „neoklassische Synthese“ bezeichnet hat.

Ob Radikale oder Reformer, in einem sind sich die Erben von Keynes einig: Allein durch das Spiel der wirtschaftlichen Kräfte ist die Vollbeschäftigung nicht zu garantieren, weshalb Eingriffe des Staates zur Wirtschaftsförderung und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durchaus gerechtfertigt sind. Allerdings sind die einen Vertreter eher für einen radikalen ökonomischen und sozialen Wandel, während die anderen eher an eine Verbesserung der wirtschaftspolitischen Steuerungsinstrumente denken.

Das Goldene Zeitalter der Wirtschaftspolitik

TATSÄCHLICH hatte sich, nach einer der längsten Krisen in der Geschichte des Kapitalismus, während des Krieges in allen Ländern der staatliche Interventionismus verstärkt. Nach Kriegsende blieb diese Rolle des Staates akzeptabel, denn dieser mußte die drängenden Probleme von Wiederaufbau und Modernisierung lösen wie auch das Wirtschaftswachstum sichern und steuern, und dies angesichts einer neuen Herausforderung für den Westen in Gestalt der Sowjetunion. Dieser Interventionismus basierte auf einer makroökonomischen Sichtweise (die sich in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung niederschlug), der Betonung der Vollbeschäftigung als vorrangigem Wirtschaftsziel (noch ausgeprägter Ende der vierziger und anfangs der fünfziger Jahre) und der unstrittigen Anerkennung der staatlichen Zuständigkeit für Wirtschaftsfragen. Es begann das Goldene Zeitalter der Wirtschaftspolitik, des Wachstums und der Vollbeschäftigung.

Viele glaubten damals, nun sei eine neue Ära angebrochen, in der man die Wirtschaft mit Hilfe ökonomischer Experten in den Griff bekommen könne. Walter Heller, ehemals Vorsitzender des Wirtschaftsberatungsausschusses von Präsident Kennedy, schrieb 1966: „Im Laufe der sechziger Jahre ist die Wirtschaftswissenschaft erwachsen geworden. Zwei Präsidenten haben ihre Bedeutung für die Stärke der Nation und die Macht des Präsidenten begriffen und genutzt. Daß sie bereit waren, erstmals die ganze Auswahl moderner wirtschaftswissenschaftlicher Instrumente anzuwenden, hat eine entscheidende Rolle bei der ununterbrochenen Expansion gespielt, die in den USA seit Anfang 1961 vorherrschte.“6

Die Haltung der neoliberalen Wirtschaftstheorie gegenüber dem Staatsinterventionismus blieb unverändert. Friedrich Hayek, der Keynes bereits in den dreißiger Jahren kritisiert hatte, bekräftigte das liberale Credo 1944 in seinem Buch „Der Weg zur Knechtschaft“. Zum Totalitarismus führe nicht nur die zentralistische Kommandowirtschaft, sondern auch demokratischer Sozialismus, Planwirtschaft und Wirtschaftslenkung. 1947 gründete er die Gesellschaft vom Mont Pélérin, eine Gruppe neoliberaler Intellektueller, die mehrere Träger des Wirtschaftsnobelpreises hervorbrachte.7

1962 rühmte Milton Friedman in seinem Buch „Kapitalismus und Freiheit“ die „enorme Leistungsfähigkeit des Marktes“8 im Gegensatz zum überholten Prinzip der staatlichen Intervention. Friedmans Arbeiten über das langfristige Einkommen und die Funktion des Verbrauchs9 , über das Geld10 und über den Begriff einer natürlichen Arbeitslosenquote11 kann man auch als Beiträge zur Dekonstruktion des Keynes'schen Theoriegebäudes lesen. Als die erste Bresche geschlagen war, rannten junge Ökonomen mit mathematischen Verfahren gegen die Festung an. Sie wandten sich gegen die makroökonomischen Vorstellungen keynesianischen Typs, verwarfen auch Friedmans Positionen und begründeten eine neoklassische Makroökonomie mit direktem Bezug auf die klassische Lehre, die Keynes stets abgelehnt hatte.12 All diesen Theorien wenden sich mehr oder weniger entschieden gegen staatliche Interventionen.

Erst mit der Krise der frühen siebziger Jahre gewannen die Auseinandersetzungen zwischen Schulen und Theorien ernsthafte Bedeutung. Der Staatsinterventionismus wurde zunehmend unwirksam, Arbeitslosigkeit und Inflation waren auch mit den besten wirtschaftspolitischen Maßnahmen nicht einzudämmen, entsprechend setzten sich die Anschauungen auf der Linie von Laisser-faire und „weniger Staat“ durch. Der Wiederaufstieg des Neoliberalismus wurde gekrönt mit den Wahlsiegen von Margaret Thatcher in Großbritannien (1979) und Ronald Reagan in den USA (1980). Dieser Trend bestätigte sich in den achtziger Jahren im wiederholten Scheitern von Regierungen, die ihre Mehrheit auf der Grundlage linker Programme errungen hatten, wie seit 1989 mit der Auflösung der Regimes sowjetischen Typs. Seitdem setzt man zur Überwindung wirtschaftlicher Schwierigkeiten wieder ganz auf den Markt.

An den Universitäten gab es eine Reihe von Ökonomen, die im Zuge dieser Entwicklung das Interesse an den realen Gegebenheiten verloren. Die Formalisierung und Mathematisierung der Ökonomie, die sich in den dreißiger Jahren herausgebildet und im Krieg verstärkt hatte, führte vor allem nach 1945 zur Entwicklung umfassender ökonometrischer Modelle, die sich bald als unverzichtbare Instrumente der Wirtschaftspolitik erwiesen.

Aber zugleich setzte sich im akademischen Bereich eine scholastische Art von Formalisierung durch; die Folge waren immer komplexere Analysen auf einem theoretischen Fundament, das mit der Realität nicht viel zu tun hatte. Andere trugen zur Entpolitisierung und Akademisierung ihrer Wissenschaft bei, indem sie die Ökonomie auf mathematische Maximierungs- und Optimierungsverfahren reduzierten, die sie auf die ganze Bandbreite menschlicher Verhaltensformen anwandten.13 Diese Formalisierung führte im Verein mit der Renaissance des Neoliberalismus dazu, daß die Ökonomen viel weniger Verantwortung für die gewaltigen Probleme empfinden, vor denen wir am Ende des Jahrhunderts stehen.

Woran unsere Welt krankt, ist wohlbekannt: zügellose Bereicherung, Korruption, Ungleichheiten, Massenarbeitslosigkeit, wachsende soziale Unsicherheit, Armut, Marginalisierung, Umweltzerstörung. Sehr viele Menschen können ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen, zugleich sind zahllose Menschen arbeitslos oder unterbeschäftigt. Zwei entscheidende Probleme hat Keynes schon vor sechzig Jahren kritisch gesehen: „Die hervorstechenden Fehler der wirtschaftlichen Gesellschaft, in der wir leben, sind ihr Versagen, für Vollbeschäftigung Vorkehrung zu treffen, und ihre willkürliche und unbillige Verteilung des Reichtums und der Einkommen.“14

Damals sah die Welt noch deutlich ein Zusammenspiel von nationalen und internationalen Interessen, Privatinitiative und staatlichem Handeln. Vor diesem Hintergrund muß man die von Keynes formulierten Lösungsvorschläge begreifen. Sie haben in einer Welt, die vom Rausch der Globalisierung, Vermarktung und permanenten Innovation erfaßt ist, ganz deutlich an Wirksamkeit verloren. Wer sich heute auf Keynes beziehen will, kann daher nicht mehr auf die Nachfrage als entscheidenden Aufschwungfaktor setzen; zunächst gilt es vielmer, „eine grundlegendere Diagnose“15 zu stellen, um dann nach besseren Lösungen zu suchen und „rechtzeitig auf den Gang der Ereignisse einzuwirken“16 .

Die multinationalen Konzerne nutzen den Wettbewerb zwischen den Staaten, Regionen und Gesellschaften, denen sie auch die Folgen ihrer Strategien aufbürden. Mit der Bildung neuer regionaler Einheiten verändern sich die Eingriffsmöglichkeiten der Nationalstaaten. Alle Akteure, ob national oder international, sind den Spannungen und Erschütterungen der globalen Geld- und Finanzmärkte ausgesetzt. Die alte Dualität national-international, auf die sich die Wirtschaftspolitik wie die volkswirtschaftliche Theorien keynesianischen Typs bezogen, wird inzwischen von der Internationalisierung, der Regionalisierung und Globalisierung überformt und radikal verändert. Das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit hat sich zugunsten des Kapitals verschoben.

Zugleich unterliegen immer mehr Bereiche der Gesellschaft, von der Zeugung bis zum Tod, von der Ausbildung bis zur Kultur und zur Freizeit, der kommerziellen Logik. Jeden Tag werden neue Bedürfnisse erzeugt, neue Verkaufsformen erfunden. Immer stärker bestimmt das Geld das Leben der Individuen, aber auch die staatlichen Institutionen und internationalen Organisationen, selbst der karitativen Einrichtungen. Güter und Dienstleistungen, die gratis und keine Waren sind, werden zur Ausnahme.

Diese Entwicklung verläuft unterschiedlich in Stadt und Land, Norden und Süden, Westen und Osten, in den Archipelen des Wohlstands und den Ozeanen der Armut. Und doch wird das Geld überall zum wichtigsten Mittel gesellschaftlicher Organisation, und alle Gesellschaften sind zunehmend abhängig vom Zustand des internationalen Geld- und Finanzsystems. Der Industriekapitalismus, der seine Blütezeit im reichen Westen hinter sich hat, wird zum Hochtechnologie-Kapitalismus, der Wissenschaft und Forschung ständig zu neuen Leistungen antreibt. Gentechnik, Elektronik, Informatik, Forschungen über die belebte und unbelebte Materie – all diese Wissenschaftsdisziplinen unterliegen in Regie weltweit organisierter Oligopole einem Prozeß der permanenten Innovation. Fortwährend entstehen neue Bedürfnisse und zugleich die Waren zu ihrer Befriedigung. Da die Nationalstaaten und internationalen Organisationen auf jedes systematische Bemühen um eine Zukunftssicherung verzichten verfügen heute einige wenige Oligopole über die großen technischen Systeme. Und nur im Rahmen dieser Systeme wird man uns in unmittelbarer Zukunft informieren und unterhalten, transportieren und beschützen, ernähren und betreuen.

Alleinstehende und Familien, die kein Geld haben und deren Bedürfnisse sich nicht durch Waren befriedigen lassen, kommen dabei weniger denn je zum Zuge. Soziale Unsicherheit, Armut, Marginalisierung und Elend sind nicht so sehr Krisenfolgen als vielmehr die Kehrseite der Medaille der Modernisierung, ihren Warenströmen und ihrem Überfluß. Nach dem kurzen Zwischenspiel der sozialdemokratischen Regierungen tritt die Schattenseite des modernen Industriekapitalismus heute wieder deutlicher hervor.

Soziale Grundwerte und staatliches Handeln

DIE Reaktionen und Antworten auf diese Situation sehen ganz verschieden aus. Wir erleben das Wiederaufleben der Fundamentalismen und Tendenzen zur nationalen Isolation, aber auch soziale Kämpfe und Proteste und Versuche der Zusammenarbeit unter bestimmten Nationen, örtliche und regionale Initiativen ebenso wie neuerwachte nationale Bestrebungen.

Was jedoch fehlt – und zugleich dringend geboten wäre –, ist eine Strategie. Natürlich muß eine solche Strategie unter den heutigen Bedingungen differenziert ausfallen und auf den verschiedensten Ebenen zwischen lokal und global ansetzen, und sie muß ein breites Handlungsspektrum bieten. Aber ihre innere Konsistenz kann sie nur gewinnen, wenn sie klar und feierlich ganz bestimmte Grundwerte der menschlichen Gesellschaft bekräftigt und sich auf einige wenige Leitlinien und Prioritäten festlegt.

Weltweit wie in der Mehrzahl der Länder hat die soziale Ungleichheit ein unannehmbares Ausmaß erreicht: Sie ist entwürdigend, sie zersetzt die Gesellschaft, und sie ist wirtschaftlich kontraproduktiv. Obwohl die wirtschaftlichen Mechanismen des Marktes gewiß nicht zu ersetzen sind, wäre es ein verhängnisvoller Irrtum, sich ausschließlich auf die Marktkräfte zu verlassen. Formen des staatlichen Handelns, nicht nur auf nationaler Ebene, sind daher unverzichtbar, wenn wir unsere heutigen (humanitären, sozialen und ökologischen) Probleme bewältigen und die Zukunft gestalten wollen.

Was die Zielprioritäten betrifft, wäre dabei eine Strategie zu erarbeiten, bei der jede einzelne Aktion einen Lösungsschritt in den verschiedenen Krisenbereichen darstellen würde: im Bereich der innergesellschaftlichen Krisen (Arbeitslosigkeit, Armut, Ungleichheit, Marginalisierung), der Krisen zwischen verschiedenen Gesellschaften und der Krise im Verhältnis der Menschen zu ihrem Planeten.17 Dazu müßten neue demokratische Einrichtungen (vor allem auf globaler, multinationaler Ebene) geschaffen werden, und man müßte lernen, die verschiedenen Ebenen des Vorgehens zu koordinieren und das Zusammenwirken unterschiedlicher Ansätze zu nutzen.

Über solche Entwürfe hinaus ist jedoch entscheidend, daß die Zukunft nicht von den Märkten und von Finanzmächten abhängig bleibt, die niemandem Rechenschaft schuldig sind. Und zu diesem Zweck brauchen wir einen Plan, ein Programm für die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts.

dt. Edgar Peinelt

* Professoren für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Paris VII (Denis Diderot), bzw. an der Universität von Québec in Montréal. Von ihnen ist erschienen: „La Pensée économique depuis Keynes“, Paris (Le Seuil) 1993.

Fußnoten: 1 Die umfassendsten Biographien sind: Donald E. Moggridge, „Maynard Keynes: An Economist's Biography“, London (Routledge) 1992, sowie Robert Skidelsky, „John Maynard Keynes“, London (Macmillan) 1983, 1995 (der dritte Band erscheint in Kürze). 2 Die „Essays in Persuasion“ wurden erstmals 1931 publiziert, eine erweiterte Fassung erschien als Band IX der Collected Writings of John Maynard Keynes, Bde. 1-30, London (Macmillan) 1971-1989. Das Zitat stammt aus der Einleitung dieses Bandes, S. 17. 3 Aus dem Essay „Economic possibilities for our grandchildren“ (1930), in „Essays in Persuasion“, S. 332. 4 In seiner „Allgemeinen Theorie“ spricht er von den Vertretern dieser Orthodoxie, etwa dem Engländer David Ricardo (1772-1823), als den „klassischen Ökonomen“. 5 Doch bereits im Januar 1935 hatte Keynes an seinen Freund George Bernard Shaw geschrieben, die gerade vollendete „Allgemeine Theorie“ werde die Art und Weise revolutionieren, wie die Welt wirtschaftliche Fragen betrachtet. Nach seiner Voraussage würde das rund zehn Jahre dauern. 6 Walter W. Heller, „Das Zeitalter der Ökonomen, Neue Dimensionen der Wirtschaftspolitik“, Tübingen (Mohr) 1968. 7 Von einem „Nobelpreis“ zu sprechen, ist eigentlich falsch; es handelt sich vielmehr um den Nobel- Gedenkpreis für Wirtschaftswissenschaften, der seit 1969 von der Bank von Schweden gestiftet wurde und der dazu beiträgt, die Ökonomie in den Rang einer Naturwissenschaft zu erheben. 8 „Capitalism and Freedom“, Princeton University Press, S. 200; dt.: „Kapitalismus und Freiheit“, München (dtv) 1977. 9 „A Theory of the Consumption Function“, Princeton University Press 1957. 10 Unter anderen „The Optimum Quantity of Money“, Chicago (Aldine) 1969, (dt.: „Die optimale Geldmenge“, München, Moderne Industrie 1980), sowie (gem. m. Anna Schwartz) „ Monetary History of the United States“ Princeton University Press 1963. Friedman setzt der keynesianischen Theorie die Mengentheorie des Geldes entgegen, die Keynes in seiner „Allgemeinen Theorie“ verworfen hatte. So erklärt sich die Bezeichnung Monetarismus. 11 „The Role of Monetary Policy“, American Economic Review, Bd. LVIII, 1968, S. 1-17. 12 Die führende Figur dieser neuen Schule, der amerikanische Ökonom Robert E. Lucas, erhielt 1995 den „Wirtschaftsnobelpreis“. 13 Zum Beispiel Gary S. Becker (der Träger des „Wirtschaftsnobelpreises“ von 1992), „The Economic Approach to Human Behaviour“, University of Chicago Press 1976. 14 John Maynard Keynes, „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“, Berlin (Duncker & Humblot) 1994 (1936), S. 314. 15 „Im gegenwärtigen Augenblick erwarten die Menschen mehr als sonst eine grundlegende Diagnose“ schrieb Keynes 1935 in den Schlußbetrachtungen zu seiner Allgemeinen Theorie, a. a. O., S. 323. 16 In diesem Geist hat Keynes die Aufsätze geschrieben, die in den „Essays in Persuasion“ zusammengefaßt sind, s. Anm. 2. 17 So könnte zum Beispiel ein Weltprogramm zur Erhaltung des Trinkwassers, unter Einsatz umweltverträglicher Methoden, im Norden Arbeitsplätze und Kaufkraft erzeugen und im Süden die Lebensbedingung verbessern und die Zukunft sichern helfen.

Le Monde diplomatique vom 13.12.1996, von MICHEL BEAUD und GILLES DOSTALER