17.01.1997

Die neue mexikanische Guerillabewegung hat Hochkonjunktur

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Die neue mexikanische Guerillabewegung hat Hochkonjunktur

Von FRANÇOISE ESCARPIT *

ALS am 28. Juni 1996 im Tal von Aguas Blancas1 im Bundesstaat Guerrero die Revolutionäre Volksarmee EPR erstmals von sich reden machte, waren all diejenigen überrascht, die die traditionelle Guerilla in Mexiko bereits abgeschrieben und auf einen neuen Reformismus gesetzt hatten, auf eine „Revolution im Zeitalter nach dem Kalten Krieg“ wie sie von der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee (EZLN) und Subcomandante Marcos verkörpert zu werden schien.

Die Präsenz und die Aktionen der EPR in mehreren südlichen und südöstlichen Bundesstaaten hängen mit der Geschichte der bewaffneten Bewegungen während der vergangenen dreißig Jahre in Mexiko zusammen. Ihre eigentlichen Ursachen liegen jedoch in der Verschärfung der politischen und wirtschaftlichen Krise seit der Einführung der ultraliberalen Wirtschaftspolitik Anfang der achtziger Jahre. Die mehrheitlich aus Indigenas bestehende zapatistische Bewegung hat seit ihrer Gründung im Januar 1994 maßgeblich zu einer Politisierung der unteren Gesellschaftsschichten und zur Entstehung zahlreicher Basisgruppen beigetragen.

Die EPR und ihr politischer Arm, die Revolutionäre Demokratische Volkspartei (PDPR), sind aus zahlreichen Spaltungen städtischer und ländlicher Organisationen hervorgegangen. Diese heterogene, aus Indigenas und Mestizen zusammengesetzte Bewegung bekommt in dem Maße Zulauf, wie die allgemeine Empörung über die „zentristische“ Politik der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) und die Unfähigkeit der Volksbewegung, eine Verbesserung der Lebensbedingungen durchzusetzen, zunimmt. Sie steht aber auch in einer seit Menschengedenken im Bundesstaat Guerrero beheimateten rebellischen Tradition.

1988 hatte die unter Elend und Ungerechtigkeit leidende Landbevölkerung, die die Gewalt der Kaziken nicht mehr ertrug und sich durch die fallenden Agrarpreise zum Anbau von Marihuana und Mohn2 gezwungen sah, den Kandidaten der Nationalen Demokratischen Front3 , Cuauhtémoc Cárdenas, bedingungslos unterstützt. Nach der manipulierten Wahl von Carlos Salinas de Gortari, dem Kandidaten der Partei der Institutionellen Revolution (PRI), zum Staatspräsidenten schlugen die Bauern Cuauhtémoc Cárdenas vor, das korrekte Wahlergebnis mit der Waffe in der Hand „bis in den Tod zu verteidigen“. Cárdenas zog es jedoch vor, den Weg der „Legalität“ zu beschreiten, und brachte damit viele Mexikaner um ihren Wahlsieg.

1989 entstand die Demokratische Revolutionspartei (PRD), um die soziale Bewegung zu organisieren – den „Aufstand an den Wahlurnen“, wie der Politologe Lorenzo Meyer es nannte.5 Doch die PRD zeigte sich dem neuen Elan nicht gewachsen. Immerhin nahmen ihre Aktivitäten auf dem Land unterschiedliche Formen an, bis hin zur Verteidigung lokaler Wahlergebnisse mit Waffengewalt. 400 Menschen fielen dem schmutzigen Krieg zum Opfer, unter anderem wurden 17 Bauern in Aguas Blancas ermordet. Lorenzo Meyer erklärt die Ereignisse damit, daß in der PRD „die Linke überhand genommen“ habe.

Die ersten bewaffneten Gruppen Mexikos entstanden im Bundesstaat Guerrero unter dem Eindruck der kubanischen Revolution, die eine Machtübernahme durch Waffengewalt in den Bereich des Möglichen gerückt hatte. 1963 gab Genaro Vázquez Rojas, ein Schullehrer, den legalen Kampf auf und nahm an der Spitze der Nationalen Revolutionären Bürgervereinigung (ANCR) den bewaffneten Kampf auf. Er starb 1972 an den Folgen eines Autounfalls. 1967 gründete Lucio Cabañas Barrientos, ebenfalls Lehrer, die Partei der Armen (PDLP) sowie die Bäuerlichen Exekutivbrigaden und ging in den Untergrund.

Die bewaffnete Antwort auf einen nicht erklärten Krieg

DIE ANCR forderte „die Entmachtung der herrschenden Oligarchie der Großkapitalisten und imperialistenfreundlichen Großgrundbesitzer und die Einrichtung einer Koalitionsregierung aus Bauern, Arbeitern, Studenten und fortschrittlichen Intellektuellen.“ Die PDLP hingegen verlangte „eine neue politische und wirtschaftliche Ordnung, die Enteignung der Fabriken und des Großgrundbesitzes.“ Mit dem Tod von Lucio Cabañas, der im Dezember 1974 in einen Hinterhalt geriet, ging in den ländlichen Gebieten eine Phase der Guerillabewegung zu Ende. Ihre traurige Bilanz weist allein in Guerrero Hunderte von Toten und über dreihundert „Verschwundene“ auf.

In der gleichen Zeit hatten sich in anderen Regionen etwa vierzig weitere kleine Gruppen gebildet6 , die nach den bitteren Erfahrungen der Jahre 1968 und 1971 davon überzeugt waren, daß Änderungen auf friedlichem Weg unmöglich seien. Sie waren einer gnadenlosen Verfolgung ausgesetzt. Dennoch entgingen sie laut Brigadegeneral Mario Arturo Acosta Chaparro7 ihrer Vernichtung, mußten sich aber aufgrund der erfolgreichen „Neutralisierungsarbeit der Ordnungskräfte und des Geheimdienstes“ zurückziehen. Laut Acosta Chaparro bildeten diese Gruppierungen 1978 in Kuba während des XI. Weltjugendfestivals eine Revolutionäre Nationale Koordination mit Basis im Bundesstaat Guerrero.

Es war eine Zeit, in der die zentralamerikanischen Guerillabewegungen einen großen Aufschwung erlebten. Die Untergrundstrukturen wurden aufrechterhalten, und zahlreiche Gruppen setzten ihren Kampf unter verschiedenen Formen fort. Hatte in Chiapas die Verschlechterung der Lebensbedingungen zum Aufstand geführt, so entfachte in Guerrero und seinen Nachbarstaaten das Massaker vom 28. Juni 1995 und das Desinteresse der Behörden an einer Strafverfolgung das Feuer der Rebellion.

Am 7. August 1996 erklärten die Führer der EPR, ihre Bewegung sei die „bewaffnete Antwort auf einen nicht erklärten Krieg der Regierung und der Oligarchie“. Die Botschaft fand vor allem auf dem Land offene Ohren. Bislang beschränkt sich die EPR auf Angriffe gegen Stützpunkte der Bundesarmee und der Polizei. Wie die meisten bewaffneten Gruppen finanziert sie sich hauptsächlich aus Überfällen, Bankrauben und Entführungen mit Lösegelderpressungen. Die spektakulärste Entführung, die der Procup- PDLP (eine Teilorganisation der PDPR und politisches Aushängeschild der EPR) zugeschrieben wird, traf 1994 Alfredo Harp Holu, den Direktor einer bedeutenden Finanzinstitution.

Die EPR fordert „den Sturz der antidemokratischen Regierung, die Wiederherstellung der Volkssouveränität und der Menschenrechte, eine Lösung der sozialen Probleme sowie die Bestrafung aller für politische Unterdrückung, Gewalt und Korruption Verantwortlichen.“ Sie ruft auf zur „Bildung bewaffneter Selbstverteidigungsgruppen gegen Terrorkommandos der weißen Garden8 , der Polizei und des Militärs“.

Sieben Monate nach ihrem Erscheinen setzt die EPR ihre bewaffneten Aktionen gegen Militär und Polizei in den Staaten Guerrero, Oaxaca und México fort. Während der Kommunalwahlen in Guerrero wahrte sie einen einmonatigen Waffenstillstand, denn „der Wahlkampf steht nicht im Gegensatz zum bewaffneten revolutionären Kampf, sondern trägt zu seiner Stärkung bei und eröffnet dem Volk politische Freiräume zur Verteidigung seiner Interessen.“9 Diese Wahlen brachten der PRD gewaltige Stimmengewinne. Ende Oktober versicherten der Generalkommandeur der EPR und ein Verantwortlicher der PDPR unter Verweis auf die ungesühnten Verbrechen von Aguas Blancas, sie würden Verhandlungen so lange ablehnen, wie die „gesellschaftlichen Kränkungen keine Genugtuung erfahren“. Sie fordern eine Bestrafung des ehemaligen Gouverneurs von Guerrero, Rubén Figueroa, und auf nationaler Ebene eine verfassunggebende Versammlung, die zur Einsetzung einer Übergangsregierung führen soll.

Die Reaktionen auf das Auftauchen der EPR waren unzweideutig. Sie reichten vom Wutausbruch Cuauhtémoc Cárdenas', der im ersten Moment von einer „grotesken Pantomime“ sprach, bis hin zum Bestreben der meisten linken Organisationen, sich vom bewaffneten Kampf zu distanzieren.

Zunehmende Eskalierung und Militarisierung

IN Chiapas bewahrte Subcomandante Marcos zuerst vorsichtiges Schweigen und rief dann dazu auf, den bewaffneten Kampf einzustellen und sich auf die zivile Gesellschaft zu stützen. Ein Kommandeur der EPR hatte in einem der ersten Geheimtreffen mit der Presse erklärt, es reiche nicht, „zu dichten, um die Revolution zu machen“. Er hatte ebenfalls betont, Gruppen der EPR hätten 1994 ihr „Scherflein“ zum Aufstand der Zapatisten beigetragen. Die EZLN antwortete daraufhin, sie benötige die EPR nicht, und Marcos rief ihre Mitglieder auf, sich durch den Nachweis ihrer gesellschaftlichen Verankerung zu legitimieren. Während die EPR ihre Operationen fortsetzt, haben verschiedene Organisationen betont, daß zwar deren Ziel – die Eroberung der Macht durch Waffengewalt – im Gegensatz zum Bemühen der Zivilgesellschaft um einen friedlichen Übergang zur Demokratie stehe, eine Marginalisierung dieser Bewegung aber nicht den Weg zur Einheit ebnen würde.

1997 werden in Mexiko Senat und Abgeordnetenhaus neu gewählt. Die regierende PRI könnte die Mehrheit, die sie seit ihrer Gründung vor über sechzig Jahren innehat, an die ultrakonservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) und die PRD verlieren. Erstmals wird auch der Bürgermeister der mexikanischen Hauptstadt gewählt, der bislang immer durch den Staatspräsidenten ernannt wurde. Die EPR hofft, durch eine Zuspitzung der Lage mehr zu erreichen als die Zapatisten. Ihrer Ansicht nach haben letztere in zwei Jahren Verhandlungen keine substanziellen Zugeständnisse erreicht.

Auch in anderen mexikanischen Staaten gibt es bewaffnete Gruppierungen. Am 20. November 1996 ist im Zentrum und im Norden des Landes, insbesondere im Valle de San Quintin im Bundesstaat Baja California, die Revolutionäre Armee für den Volksaufstand (ERIP) in Erscheinung getreten. Sie ruft zu einer „politischen Lösung“ auf, die sich „im Rücktritt der jetzigen Regierung, der Bildung einer Übergangsregierung sowie einer verfassunggebenden Versammlung ausdrücken soll“. Sie betont, sie werde „die Vernichtung der EZLN nicht hinnehmen“ und zur „Repressionswelle gegen die EPR nicht schweigen“.

Wenn er zu einer politischen Öffnung nicht bereit ist, wird Präsident Zedillo gezwungen sein, sich repressiver Mittel zu bedienen. Darauf ist er durch die umfassende Militarisierung der Hauptstadt und des ganzen Landes bereits vorbereitet. Die Verteidigungsausgaben sind der zweithöchste Posten des Staatshaushalts, und die Regierung hat in den letzten zehn Jahren in den USA Rüstungsgüter im Wert von rund einer halben Milliarde Mark gekauft. Das ist mehr als in den vergangenen fünfunddreißig Jahren.

dt. Birgit Althaler

* Journalistin, Mexiko.

Fußnoten: 1 In diesem Staat an der Pazifikküste wurde nach einem Aufruf der Breiten Front für den Aufbau einer Nationalen Befreiungsbewegung (FAC-MLN) der erste Jahrestag des Massakers an 17 Bauern der Bauernorganisation der Sierra del Sur (OCSS) und der Demokratischen Revolutionspartei (PRD) begangen. Diese waren von der Polizei ermordet worden, als Gouverneur Rubén Figueroa (1992-1995) den Bundesstaat regierte. 2 Guerrero gehört weltweit zu den führenden Produzenten von Mohn und Rohopium. 3 Diese Organisation wurde 1988 gegründet, um den Einheitskandidaten der Opposition, Cuauhtémoc Cárdenas, zu unterstützen, der 1987 die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) verlassen hatte. 4 Bei der Stimmenauszählung war es zu einer „technischen Panne“ gekommen. Es dauerte zehn Tage, bis der PRI-Kandidat zum Wahlsieger erklärt wurde. 5 „Die EPR“, ein Video des Kanals „6 de julio“. 6 Zu den bekanntesten und aktivsten zählen: die Nationalen Befreiungskräfte (1969), die Revolutionäre Aktionsbewegung (1969), die Kommunistische Liga 23. September (1973) und der Revolutionäre Arbeiter- und Bauernverband – Einheit des Volkes (Procup, 1971). 1980 vereinigten sich Procup und PDLP und gehören nun der Revolutionären Demokratischen Volkspartei an. 7 Ein ehemaliger Mitarbeiter von Rubén Figueroas' gleichnamigem Vater (1976-1982), der die Operation in Aguas Blancas möglicherweise organisiert hat. 8 Milizen im Dienste der Großgrundbesitzer. 9 Kommuniqué der EPR vom August 1996.

Le Monde diplomatique vom 17.01.1997, von FRANÇOISE ESCARPIT