17.01.1997

Sozialer Rückschritt durch Tarifverträge

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Sozialer Rückschritt durch Tarifverträge

Von ADELINE TOULLIER *

BIS Ende der siebziger Jahre bestand der Zweck von Tarifverhandlungen in Frankreich allein darin, die Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen zu verbessern. Tarifliche Vereinbarungen und Tarifverträge durften keine ungünstigeren Bestimmungen enthalten als das Gesetz, das einen Grundstock von allgemeinverbindlichen Mindestvorschriften darstellte. Diese Zeiten scheinen vorbei zu sein. Seit Beginn der achtziger Jahre dürfen Vereinbarungen auf betrieblicher Ebene von Rechtsvorschriften oder Branchentarifverträgen abweichen und für den Arbeitnehmer ungünstigere Bestimmungen enthalten. Die Betriebe dürfen sich eigene Regeln geben, und Tarifverhandlungen dürfen der Beugung arbeitsrechtrechtlicher Bestimmungen dienen. Wie konnte es zu einer solchen Wende kommen?

Nach Ansicht einer wachsenden Zahl von französischen Arbeitgebern sind die Sozialgesetze die Hauptursache für Arbeitslosigkeit und bilden ein unüberwindliches Hindernis für die Marktwirtschaft; das viel zu protektionistische Arbeitsrecht schade den Arbeitnehmerinteressen. Eine Umgehung der Rechtsvorschriften durch tarifliche Vereinbarungen soll künftig gestattet sein, wenn sich nur so das Überleben des Betriebs sichern läßt. Die Argumente derer, die in Fragen der betrieblichen Organisation, der Arbeitsdisziplin, der Einhaltung von Arbeitsverträgen und der Löhne den Vorrang von „Firmeninteressen“ verfechten, haben den Gesetzgeber nicht lange untätig gelassen.

Die Verordnung vom 16. Januar 1982 zur Arbeitszeitregelung, die am 13. November desselben Jahres vom Auroux-Gesetz über Tarifverhandlungen abgelöst wurde, war die erste in einer Reihe von „Ausnahmevereinbarungen“. Mit dem Delebarre-Gesetz vom 24. Februar 1986 und dem Séguin-Gesetz vom 17. Juni 1987 wurde die Regelung der Arbeitszeit zum bevorzugten Gegenstand dieser Vereinbarungen. Die Aushandlung sozialer Verbesserungen wich der Aushandlung von Zugeständnissen – ein deutliches Zeichen für soziale Einbußen, wenn dies auch nicht zugegeben wird. Die Vorteile, in deren Genuß der Arbeitnehmer durch Gesetz oder bestehende Tarifverträge gekommen war, können nun „ausgesetzt“ werden.

Diese auf Dauer angelegte Veränderung des Verfahrens zur Festlegung arbeitsrechtlicher Vorschriften wurde zum Einfallstor der Deregulierung1 und sollte der Tradition des politischen Interventionismus ein Ende setzen. Soziale Fragen aber können nicht ohne Mitwirkung des Wohlfahrtsstaats2 entschieden werden, der für Chancengleichheit und für einen gewissen Ausgleich im Verhältnis von Kapital und Arbeit sorgen soll. Die Förderung von Tarifverträgen zu Lasten der Sozialgesetzgebung, durch das Fünfjahresgesetz vom 20. Dezember 1993 noch verstärkt, vergrößert den Spielraum der Arbeitgeber, ohne den gesetzlichen Rahmen einzuschränken. Im Gegenteil: Durch seine Kompliziertheit, seinen Umfang und seine Detailversessenheit läßt dieses Gesetz verschiedene Auslegungen durch die Gerichte zu – ein recht unverhohlener Versuch, mehr Flexibilität durchzusetzen. Das Arbeitsrecht verzichtet damit auf seinen Anspruch, für größtmögliche Einheitlichkeit zu sorgen. Es umfaßt jetzt die ganze Vielfalt der Regelungen, insbesondere zur Lebensarbeitszeit, und die Diversifizierung der Arbeitsverträge.

Garantien für die Arbeitnehmer sind in Wirklichkeit nur solange etwas wert, wie sie sich mit der Situation des Betriebs vereinbaren lassen. Mittlerweile muß sich ihre rechtliche Absicherung der betrieblichen Kalkulation anpassen und nicht umgekehrt. Daher handelt man diese Bestimmungen lieber in einem überschaubaren Rahmen aus, anstatt sich allgemeinen Vorgaben zu beugen. Initiative und Verantwortung für verbindliche Richtlinien sind dezentral auf betrieblicher Ebene angesiedelt3 , und die Arbeitsverhältnisse werden in stärkerem Maße vertraglich geregelt und individuell gestaltet.

Betriebliche Tarifverträge stellen eine bemerkenswerte Neuerung im Tarifsystem dar. Bislang besaß man fast ausschließlich Branchentarifverträge, mit denen sich die Wettbewerbsbedingungen vereinheitlichen ließen. Der Schwerpunkt der Tarifverhandlungen hat sich nun verlagert. Dies verheißt nichts Gutes, da nun ein übermäßig aufgeblasenes Arbeitsrecht und ein ausuferndes Tarifrecht ohne inneren Zusammenhang oder Koordinierung nebeneinander bestehen und die Rechtssicherheit der Arbeitnehmer bedrohen.

Die „überwachte Freiheit“ der Sozialpartner

SOLLTE man nun eine Ausweitung des staatlichen Handelns fordern, um die Interessen der gesamten Nation zu schützen, oder dieses im Gegenteil einschränken und den Sozialpartnern damit ein hohes Maß an Autonomie einräumen? Einerseits gibt es genügend Beispiele für die Unfähigkeit des Staates, für das öffentliche Wohlergehen zu sorgen, andererseits ist dieses durch „egoistische Partikularinteressen“ bedroht, die von dem unermüdlichen Streben nach ökonomischer Effizienz bestimmt werden. Der Staat sollte sich der Last seiner sozialpolitischen Aufgaben nicht völlig entledigen können, denn in Ausmaß und Wirkung erweitern sie den Handlungsspielraum der geschwächten Arbeitnehmervertreter. Deshalb wollen die staatlichen Vertreter auch nicht darauf verzichten, weiterhin zu reglementieren, aber sie wollen andere Schwerpunkte setzen4 und mit den gesellschaftlichen Vertretern verhandeln. Voraussetzung für eine gelungene Sozialpolitik ist die Mitwirkung der Sozialpartner.

Verfolgt man den Werdegang eines Gesetzentwurfs, dann läßt sich unschwer sein eigentlicher Verfasser feststellen, und man erkennt den geringen Ermessensspielraum der Parlamentsmitglieder. Denn der Gesetzgeber, der von der friedenstiftenden Funktion der Tarifverträge überzeugt ist und die Kontrolle über soziale Fragen nicht verlieren möchte, orientiert sich an den zuvor von den Sozialpartnern ausgehandelten und vertraglich fixierten Vereinbarungen, wenn er sie nicht sogar einfach übernimmt5 ; die Sozialpartner müssen dann gegebenenfalls auch für deren Unpopularität geradestehen.

Diese Funktion eines „Quasi-Gesetzgebers“, die den Sozialpartnern zufällt, bedeutet allerdings nicht, daß die Regierung die Absicht hätte, sich die Position einer Gewerkschaftsorganisation zu eigen zu machen. Der französische Politiker will – von der Kommunistischen Partei und bestimmten radikalen Parteien einmal abgesehen – im allgemeinen die Gesamtheit der gesellschaftlichen Gruppen repräsentieren, ganz im Gegensatz zu den Gewerkschaftsorganisationen, die dem traditionellen Klassendenken verhaftet sind.6 Sozialpartnerschaftliche Vereinbarungen auf nationaler Ebene „ähneln“ zwar Gesetzen, sind aber keine. Die Sozialpartner genießen lediglich eine „überwachte Freiheit“. Der Staat beeinflußt den Inhalt der Tarifverhandlungen unter dem Vorwand, für deren reibungslosen Ablauf sorgen zu wollen; er ist am Verhandlungstisch allgegenwärtig, und dies führt zum Abschluß einer Vereinbarung quasi zu dritt.

Sind nun Tarifverhandlungen der einzig legitime Weg zur Ausgestaltung der sozialen Ordnung? Das würde bedeuten, daß die Vertreter von Interessengruppen stärker legitimiert sind als die der gesamten Nation. Die allseits anerkannte Legitimität der geschlossenen Vereinbarungen ist aber insofern relativ, als die Gewerkschaften zum einen längst nicht mehr so repräsentativ wie früher sind und zum anderen oft die Unterschrift dieser oder jener Gewerkschaft (meistens der CGT) fehlt.

dt. Sabine Scheidemann

* Juristin

Fußnoten: 1 Diese Denkweise könnte sich auch bei den betrieblichen Tarifverträgen durchsetzen, dem Steckenpferd verschiedener Arbeitgeberzirkel, insbesondere der Vereinigung „Entreprise et progrès“, die dem Gesetz lediglich eine ergänzende Funktion zuerkennt. Vgl. dazu die kritischen Anmerkungen von Gérard Lyon-Caen, „La bataille truquée de la flexibilité“, Revue de droit social, Paris, 1985, S. 810. 2 Diese Terminologie wird von Robert Castel zurückgewiesen, der lieber vom „Sozialstaat“ spricht. Siehe „Les Métamorphoses de la question sociale – Une chronique du salariat“, Paris (Fayard) 1995. 3 Wobei die meisten Firmen kleine und mittlere Unternehmen sind, in denen die Gewerkschaften kaum oder gar nicht vertreten sind. 4 Siehe Alain Supiot, „Critique du droit du travail“, Paris (PUF) 1994. 5 Es gibt zahlreiche Beispiele für bereits vorher ausgehandelte Gesetze: die gesetzlich bindende Arbeitszeit-Verordnung vom 16. Januar 1982, das Gesetz vom 30. Dezember 1986 über Entlassungen aus wirtschaftlichen Gründen und das Gesetz vom 12. Juli 1990 zur Regelung unsicherer Arbeitsverträge. 6 Vgl. Antoine Lyon-Caen, „Changement politique et changement du droit de travail“, in „Transformations du droit de travail, études offertes à Gérard Lyon-Caen“, Paris (Dalloz) 1989.

Le Monde diplomatique vom 17.01.1997, von ADELINE TOULLIER