14.02.1997

Algerien – Mund halten oder arabisch reden

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Algerien – Mund halten oder arabisch reden

DAS Schicksal des Maghreb steht und fällt mit dem Ausgang des Bürgerkrieges, der in Algerien zwischen Militärjunta und Islamistengruppen mit erbarmungsloser Härte ausgetragen wird und bei dem erst jüngst wieder, während des Fastenmonats Ramadan, unzählige Menschen getötet wurden. Zwar hatte die von den Vertretern der demokratischen und islamischen Opposition erarbeitete „Plattform von Sant' Egidio“ vom Januar 1995 die Hoffnung auf eine friedliche Einigung gebracht, doch am 24. Januar dieses Jahres bekräftigte Präsident Zéroual erneut seine Absage an eine politische Lösung. Beide Seiten machen in diesem Bürgerkrieg längst keine Gefangenen mehr. Die Situation ist so undurchsichtig geworden, daß sogar der Verdacht aufkam, hinter den jüngsten Bomben in Algier, die in Vierteln mit pro-islamistischer Bevölkerung explodierten, könnte der militärische Geheimdienst stehen. Obwohl man in Washington einen Sieg der Islamisten nicht ausschließt, hat Algeriens Junta weiterhin die Unterstützung westlicher Mächte. Kredite und Investitionen liefern die nötigen Mittel für die Fortsetzung dieses „schmutzigen Krieges“.

Von GILBERT GRANDGUILLAUME *

Am 17. Dezember 1996 hat der Nationale Übergangsrat (CNT), das algerische Ersatzparlament, einstimmig ein Gesetz über die „allgemeine Einführung der arabischen Sprache“ verabschiedet. Es legt insbesondere fest, daß sich ab dem 5. Juli 1998 (im Hochschulbereich ab dem Jahr 2000) „die öffentliche Verwaltung, die staatlichen Einrichtungen, sämtliche Unternehmen und Verbände in allen ihren Angelegenheiten ausschließlich der arabischen Sprache zu bedienen haben, sowohl auf dem Gebiet der Kommunikation wie im administrativen, finanziellen, technischen und künstlerischen Bereich“. Unmißverständlich heißt es: „Der Gebrauch von Fremdsprachen bei Beratungen und Diskussionen auf offiziellen Zusammenkünften ist verboten.“1

Das Algerien von 1962 war durch und durch französisch geprägt. 1996 ist es weitgehend arabisiert. Das neue Gesetz will jetzt die „totale“ Arabisierung. Mit dieser demagogischen Maßnahme versucht die Regierung, die ehemaligen Kämpfer der Nationalen Befreiungsfront (FLN) und zugleich auch die Islamisten für sich zu gewinnen. Der Mißerfolg ist vorprogrammiert: Zum einen täuscht sich die Regierung, wenn sie meint, damit die Anerkennung der Islamisten zu erlangen; zum anderen hat sich die „geheiligte Sache“ der Sprache verbraucht, denn allzuoft wurde sie vom Staat als Rechtfertigungsgrundlage mißbraucht. Die algerische Führung könnte sich nur noch rehabilitieren, indem sie demokratische Verhältnisse herstellte, angefangen mit dem Recht der Bevölkerung auf freie Meinungsäußerung. Das Gesetz zur Arabisierung behindert aber gerade eine solche Entwicklung.

Im Westen, wo man über Algerien ohnehin schlecht informiert ist, wird dieser Schritt für noch mehr Unverständnis und falsche Vorstellungen sorgen. In den Augen vieler Franzosen, zum Beispiel, gilt die Arabisierung inzwischen als Synonym für Islamismus. Im übrigen müssen drei grundsätzliche Dinge geklärt werden: Was hat es mit der Arabisierung auf sich und was steht dabei auf dem Spiel? Was ist auf diesem Gebiet in Algerien bereits geschehen? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen der Arabisierung und dem Grundproblem der politischen Legitimität.

Im Maghreb ist der Begriff Arabisierung gleichbedeutend mit der Wiederherstellung der arabischen Sprache. Warum? Die Muttersprache der algerischen Bevölkerung ist, nach Regionen verschieden, das Arabische oder eine der Berbersprachen. Als nicht geschriebene Sprachen liegen sie in zahlreichen Varianten vor, die manchmal als Dialekte bezeichnet werden. Vor der Kolonisierung war die einzige geschriebene Sprache das sogenannte klassische oder Schriftarabisch, das zusammen mit dem Islam im siebten Jahrhundert eingeführt wurde. Später wurde erzwungenermaßen das Französische in Wort und Schrift zur offiziellen Landessprache erklärt.

Als die Länder des Maghreb dann ihre Unabhängigkeit erlangten, wurde beschlossen, der arabischen Sprache wieder den Platz einzuräumen, den sie vor der Kolonisierung innegehabt hatte. Auch als glühender Anhänger der Frankophonie könnte man gegen die Legitimität dieses Vorgehens wohl kaum etwas einwenden. Wie sollte eine Gesellschaft eine Identität zurückgewinnen, die ihr 130 Jahre vorenthalten wurde, ohne deren Basis wiederherzustellen: die arabische Sprache, mit der die islamische Kultur aufs engste verknüpft ist. Die Bevölkerung versprach sich von der Unabhängigkeit ein Ende der Vorherrschaft der roumis2 , und keine Regierung hätte sich der politischen Aufgabe entziehen können, der arabischen Sprache ihren einstigen Stellenwert zurückzugeben. Die Länder des Nahen Ostens, die Algeriens Unabhängigkeitskampf unterstützt hatten, übten zusätzlich „freundschaftlichen“ Druck aus.

Zwei unterschiedliche Modelle waren vorstellbar. „Arabisierung qua Übersetzung“, auf der einen Seite, würde bedeuten, daß man arabisch sagt und tut, was man bis dahin französisch gesagt und getan hatte. Bei der „Arabisierung qua Konvertierung“, auf der anderen Seite, wäre das Arabische Ausdruck einer anderen Kultur – nicht um den Errungenschaften der modernen Technik den Rücken zu kehren, sondern um an eine kulturelle Tradition anzuknüpfen, die mit dem unzureichenden Begriff „arabo-islamisch“ bezeichnet werden kann. Damit ergab sich die Alternative zwischen zwei ideologischen Optionen: Aufgeschlossenheit gegenüber dem im Zuge der Kolonisierung vermittelten Wissen oder aber dessen Ablehnung; das eine bedeutete Zweisprachigkeit, das andere Einsprachigkeit. Man erkennt, auf welche Weise politisch von diesen Ideologien Gebrauch gemacht werden konnte und auch, daß zwischen ihnen eine radikale Entscheidung unmöglich ist, also nur von einem Kompromiß eine Lösung zu erwarten wäre.

Früher „Kaffern“, heute „Wilde“

IM Jahr 1962 wird die Arabisierung von einer algerischen Bevölkerungsschicht getragen, die von einer überwiegend oder sogar ausschließlich arabischen Kultur geprägt ist und die über ihre Ausbildung in gehobene, also vorwiegend frankophone Berufsgruppen drängt. Gemeint sind die an Koranschulen oder an Madrassas ausgebildeten Führungskräfte oder Absolventen eines meist theologischen oder geisteswissenschaftlichen Studiums an einer arabischen Hochschule, die sich damit wie folgt definieren: Algerier im Sinne der Arabisierung ist nur jemand, der in einem arabischen Land ausgebildet wurde und nicht zweisprachig ist. Der Einfluß solcher Menschen wurde während der Präsidentschaft Ahmad Ben Bellas (1962–1965) von der progressiven Fraktion weitgehend neutralisiert; der Präsident erklärte sogar öffentlich, daß „Arabisierung nicht Islamisierung bedeutet“.

Der zweite Präsident, Houari Boumedienne (1965–1979), beschritt einen wesentlich radikaleren Weg. 1968 ließ er per Dekret die Arabisierung im öffentlichen Dienst anordnen. Binnen drei Jahren sollten die Beamten ausreichend Arabisch gelernt haben, um ihre Arbeit in dieser Sprache erledigen zu können. Das schafften freilich nur die wenigsten; aber den Vertretern einer radikalen Arabisierung boten sich im öffentlichen Dienst neue Aufstiegschancen. Das wiederholte sich mit einer gewissen Verzögerung im Bildungswesen, das seit 1970 zunehmend einer Arabisierung unterlag, die vor allem von dem für die Schulen verantwortlichen Abdelhamid Mehri vorangetrieben wurde.

Unter der Präsidentschaft von Schadli Bendschedid geriet die staatliche Autorität in den Strudel der Auseinandersetzungen rivalisierender Gruppen. Zwar wurde die Arabisierung an den Hochschulen in den achtziger Jahren fortgesetzt, doch damals entstanden auch die Berberbewegungen, die sich ihr widersetzten, und wenig später die islamistische Bewegung. Die gescheiterte Entwicklung des Landes und die endemische Korruption ließen eine Opposition wachsen, die sich zunehmend in der Sprache der Islamisten ausdrückte. Das Regime wollte dieser Bewegung, die ihre Legitimität in Frage stellte, das Wasser abgraben, indem es sich betont pro-islamisch gab.3 Ihren Höhepunkt erreichte die allgemeine Konfusion in den Wahlkämpfen, als sich die islamistischen Parteien als „die Parteien Gottes“ darstellten.

Die arabische Sprache ist eng verknüpft mit den beiden Quellen, aus denen die Staatsmacht ihre Legitimität bezieht: dem nationalen Befreiungskampf und der Verteidigung des Islam. Die algerische Führung stützt ihren Machtanspruch vor allem auf den Kampf gegen die französische Kolonialherrschaft und für die Unabhängigkeit. Sie regiert im Namen von „anderthalb Millionen Märtyrern“, obwohl die historische Forschung ergeben hat4 , daß den Kampf gegen Frankreich nicht allein die algerischen Revolutionäre, sondern auch die Mudschaheddin unter ihnen führten. So gesehen war das Arabische die Sprache der jungen Nation, das Französische die der Kolonisatoren. Dieses stets wiederholte Argument reichte, um jene frankophone Bevölkerungsschicht auf die Anklagebank zu setzen, die nahezu die gesamte Macht besaß: Am Ende fiel sie selbst in den Chor ihrer Gegner ein.

Darüber hinaus ist die arabische Sprache eng mit Entstehung und Ausbreitung des Islams verbunden. In diesem Sinne verstanden es die Väter der Arabisierungsstrategie, jene höchste Legitimität, die allein der Islam verkörpert, für die politische Führungsspitze zu vereinnahmen. Die furchtbaren Ereignisse der letzten Jahre haben jedoch zu einer Auflösung der innigen Verbindung von Islamismus und Islam geführt. Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt die extremistische Haltung der islamistischen Bewegungen ebenso ab wie ihre politischen Ziele. Der Islam, der ihre Identität stiftet, gründet auf einer Moral, die sich prinzipiell – einige besondere Aspekte ausgenommen5 – mit den universalen religiösen wie weltlichen Moralvorstellungen deckt.

Das oft gehörte politische Argument, Arabisierung sei ein Kampf der arabischen gegen die französische Sprache – stimmt insofern, als das Arabische als Landes- und Amtssprache das Französische ablösen sollte. Die Arabisierung wird jedoch auch zu einem Konflikt mit Frankreich bzw. mit den Algeriern hochstilisiert, die im Alltag weiterhin französisch sprechen und als hisb Fransa, als „Parteigänger Frankreichs“, beschimpft werden.

Die Öffentlichkeit hat allerdings sehr schnell begriffen, daß dieser Gegensatz nur einen anderen kaschieren sollte: den zwischen dem Arabischen und den in Algerien verbreiteten Muttersprachen, zumal den Berbersprachen (von denen die bekannteste das Kabylische ist). Wie ihre alten Lehrmeister, die französischen Jakobiner, wollen die Ideologen der Arabisierung die totale Vereinheitlichung der Landessprache. Daher ihre Ausfälle gegen die arabischen Dialekte, die man als minderwertige Varianten des klassischen Arabisch hinstellte. Daher ihr Versuch, irrige Ideen zu pflegen – zum Beispiel: die Muttersprache sei das geschriebene Arabisch, weil es zugleich die „Sprache der Vorväter“ sei; daher auch die pädagogischen Richtlinien, die geschriebene als gesprochene Sprache zu unterrichten. Wie einst die französischen Mundarten gelten auch die arabischen Regionalsprachen in Algerien als falscher Sprachgebrauch, den die Lehrer zu korrigieren haben – notfalls, indem sie den Schülern bzw. Erwachsenen ihre eigene Minderwertigkeit einreden. Während also die algerischen Muttersprachler einst von den Kolonialherren als „Kaffern“ beschimpft wurden, qualifiziert man sie heute seitens ihrer eigenen Regierung als „Wilde“ ab. Das ist es, was die Algerier als hogra (Arroganz) der Staatsmacht bezeichnen. Dabei sollte die Arabisierung ihnen ursprünglich ihre kulturelle Würde wiedergeben6

Die Sprachenpolitik der Regierung hätte hinsichtlich der arabischen Mundarten die ägyptische Lösung anstreben können: eine abgewogene Mischung aus klassischem Arabisch und den verschiedenen Regionalsprachen. Was aber ist mit den Berbersprachen? Ihr großes Manko ist, daß sie für ein Algerien vor der arabischen Eroberung stehen. Überdies gibt es keine Verständnisbrücken zu den arabischen Mundarten. Ihr Verschwinden war also ganz im Sinne der Arabisierung, aber auch der Regierungspolitik. Die Folgen: Weite Teile der Bevölkerung, die ihre Identität aus den Regionalsprachen beziehen, fühlen sich von der nationalen Erneuerung ausgeschlossen.

Die algerische Gesellschaft zeichnet sich nun einmal durch eine große Vielfalt aus. Das gilt für ihre Regionen und Sprachen wie für die unterschiedlichen Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft, für ihr Bild vom Westen ebenso wie für ihr Bild von der arabischen Welt. Bis in die Gegenwart hat diese Vielfalt keine Anerkennung im Rahmen eines erklärten Willens zum Miteinander erfahren. Man hat es versäumt, die Einheit des Landes zu einem übergeordneten Wert zu erklären. Weil aber ein „symbolischer Ort der Macht“ fehlt, der wie ein Schlußstein das gesamte Gewölbe zusammenhält, fühlt sich jede Minderheit bedroht und wird umgekehrt von den anderen als potentiell bedrohlicher Spaltungsfaktor gesehen. Es gibt also nur einen Ausweg aus der Krise: Man muß sich gemeinsam auf einen zentralen Ort verständigen, an dem Herrschaft, Recht und Gesetz zusammenfallen und von dem aus sie wiederum wirksam werden. Dann endlich könnte die Staatsmacht die faktische Vielfalt dieser Gesellschaft garantieren – natürlich unter der Voraussetzung einwandfrei durchgeführter Wahlen. Diese Hoffnung äußerte sich bei der Präsidentschaftswahl am 16. November 1995 ebenso wie in der Enttäuschung nach dem Verfassungsreferendum vom 28. November 1996.

Das Arabisierungsgesetz ist kein Schritt in diese Richtung. Denn was not tut, ist gerade ein Konsens, der auf die Anerkennung pluralistischer Verhältnisse zielt. Die Sprachenpolitik der Regierung setzt hingegen auf Zwang und Ausgrenzung. Sie macht einerseits die Sprache zum Gesetz, statt sie den Menschen wirklich nahezubringen. Andererseits verhängt sie einen Bann über die gesprochenen Sprachen, insbesondere über die Berbersprachen und das Französische – ironischerweise in einer Phase, da die „Sprache der Kolonialherren“ von der Verbreitung der Parabolantennen profitiert. Kurz gesagt, die Arabisierung möchte alle Sprachen beseitigen – bis auf die eine, in der sich die Staatsmacht äußert.

Daß diese radikalen Maßnahmen immer wieder neu verordnet werden müssen, zeugt von ihrer Wirkungslosigkeit – für die Verfechter der Arabisierung ein unerhörter Skandal. Weit schockierender sollte für sie freilich sein, daß die gescheiterte Arabisierung für die meisten Algerier zum Symbol für ein schulpolitisches Fiasko und die Verschwendung von Steuergeldern geworden ist. Die Sprachpolitik diente eben schon immer vorwiegend politischen Zielen, während die Regierung leider nicht das mindeste pädagogische Interesse, nicht die geringste Bemühung zeigt, das Arabische in Studium und Forschung zu vertiefen und zu fördern.

Dies ist der eigentliche Skandal: daß der Staat nichts dafür tut, inmitten einer Fülle von Sprachen, in denen die Vielfalt der arabischen Gesellschaft zum Ausdruck kommt, jenen Raum für Toleranz, Offenheit, praktische Effizienz und die Achtung von Unterschieden zu schaffen, die überhaupt erst den Entfaltungsrahmen für die Demokratie darstellt.

dt. Christian Hansen

* Anthropologe, Autor von „Arabisation et politique linguistique au Maghreb“, Paris (Maisonneuve et Larose) 1983.

Fußnoten: 1 El Watan, 18. September 1996. 2 Ein Ausdruck im gesprochenen Arabisch, der ursprünglich die Byzantiner bezeichnete; später fand er für die Fremden, insbesondere die christlichen Siedler Verwendung. 3 Davon zeugt das islamistisch gefärbte Familiengesetz von 1984. 4 Vgl. u.a. die Arbeiten von Muhammad Harbi, Benjamin Stora und Omar Carlier. 5 Hierbei läßt sich an einige hervorstechende religiöse Praktiken denken (Ramadan, Gebet, Feste, Pilgerfahrten). 6 Dieser Gesichtspunkt findet eine ausgezeichnete Darstellung bei Muhammad Benrabah, „La langue perdue“, Esprit, Paris, Januar 1995.

Le Monde diplomatique vom 14.02.1997, von GILBERT GRANDGUILLAUME