14.02.1997

Stillschweigende Abkehr von der Demokratie

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Stillschweigende Abkehr von der Demokratie

DIE Vereinigten Staaten, Frankreich und die Weltbank haben sich 1996 zur wirtschaftlichen Neuordnung Tunesiens beglückwünscht. Die hatte allerdings einen teuren Preis: Pressezensur, willkürliche Verhaftungen, Gesinnungsschnüffelei, Folter. Auf dem Land lastet eine Totenstille. Nach wiederholten Vorwürfen von Menschenrechtsorganisationen machte Präsident Ben Ali zwar einige Zugeständnisse, doch die sind eher als symbolische Gesten zu verstehen; wirkliche Veränderungen in Richtung Demokratie waren nicht beabsichtigt, es ging allein darum, den Kritikern vor dem Staatsbesuch Ben Alis in Paris das Wasser abzugraben.

Von HAMED IBRAHIMI *

„Die Situation in Tunesien zeigt, daß Präsident Ben Ali und seine Regierung keine Form von Opposition dulden. Sie berufen sich auf die islamistische Bedrohung, aber das ist nur ein Vorwand, um alle Personen, Gruppen oder Zeitungen mundtot zu machen, die im Verdacht stehen, in irgendeiner Weise den Widerstand gegen die Machthaber zu unterstützen.“

Diese Feststellung stammt nicht von einem tunesischen Oppositionellen, der zum neunten Jahrestag der Machtübernahme von Sine al-Abeddin Ben Ali – dem „Architekten des Wandels“, wie man ihn in Tunis nennt – den Betriebsfrieden stören will. Sie stammt auch nicht von einem der Kämpfer für Menschenrechte, die als „Werkzeuge der Islamisten“ gelten, oder von einem der französischen Journalisten, die im Regierungspalast von Karthago nicht gern gesehen sind und darum pauschal als „Nostalgiker der Kolonialzeit“ abgestempelt werden. Nein, der Mann ist ein amerikanischer Professor, um die Fünfzig, Spezialist für internationale Beziehungen und Leiter des Instituts für islamisch- christliche Verständigung an der Georgetown-Universität von Washington. Aber das negative Urteil über die „Situation in Tunesien“, das John L. Esposito abgibt, bestätigt die wachsende Besorgnis der Menschenrechtsorganisationen.

Der „aus gesundheitlichen Gründen verfassungsrechtlich legitimierte Staatsstreich“ vom 7. November 1987 gegen den Präsidenten Habib Burgiba, dem seine Hinfälligkeit und die wachsende Kritik an seinen engsten Beratern zum Verhängnis geworden waren, wurde damals von den verschiedensten politischen Gruppierungen begrüßt, auch von den Islamisten. Sine al-Abeddin Ben Ali schien der Mann zu sein, der den Tunesiern neue Hoffnung geben konnte, die bei aller Genügsamkeit zuletzt schon resigniert hatten. Mit seiner ersten Ansprache erntete der unverhoffte Nachfolger des „Obersten Kämpfers“ weitere Sympathien: Er erklärte, das Volk sei nunmehr reif für die Erfahrung der Demokratie. Burgiba dagegen hatte orakelt: „Die Demokratie wäre eine Katastrophe, sie würde uns zurückwerfen in das Chaos und die Feindschaften von einst, die überhaupt erst die Kolonisierung ermöglicht hatten.1

Aber auch der frühere Präsident hatte zuletzt eine gewisse Bereitschaft gezeigt, politischen Pluralismus zuzulassen. 1981 hob er das seit Anfang der sechziger Jahre bestehende Verbot der tunesischen Kommunistischen Partei (PCT) auf, und bald darauf ließ er zwei weitere politische Gruppierungen zu: den Parti de l'unité populaire (PUP) und den Mouvement des démocrates socialistes (MDS). Der Unmut der Bevölkerung angesichts der desolaten Verfassung ihrer politischen Führungsschicht ließ sich allerdings mit dieser zaghaften politischen Öffnung nicht mehr besänftigen. Am Ende der Ära Burgiba beschäftigten sich die Politiker offensichtlich mehr mit den Intrigen im Präsidentenpalast von Karthago als mit den Problemen des Landes, das sich in einer ernsten sozialen und wirtschaftlichen Krise befand und der Herausforderung durch die islamistische Bewegung begegnen mußte.

Unter Ben Ali änderte sich zunächst sehr rasch das politische Klima: Die Präsidentschaft auf Lebenszeit wurde abgeschafft und der Gerichtshof für Staatssicherheitsfälle aufgelöst, Hunderte von politischen Gefangenen, überwiegend Islamisten, kamen frei, man knüpfte wieder Kontakte zu den Vertretern der Opposition, die Burgiba ignoriert und oft genug gedemütigt hatte. Andererseits war General Ben Ali seinerzeit eigens zum Innenminister gemacht worden, um gegen die Gewerkschaften vorzugehen, denen er schon als Sicherheitschef am 26. Januar 1978 eine blutige Niederlage beigebracht hatte, und um die Ausbreitung der islamistischen Bewegung in den achtziger Jahren einzudämmen. Einen Monat nachdem er Ministerpräsident geworden war, sorgte Ben Ali dafür, daß Burgiba wegen „Amtsunfähigkeit“ abgesetzt wurde, um selbst – gemäß Verfassung – seinen Platz als Staatsoberhaupt einzunehmen.

Neunundneunzigprozentige Demokratie

ZAHLREICHE Persönlichkeiten aus den Reihen der Opposition und der Gewerkschaftsbewegung, ja sogar der Tunesischen Liga für Menschenrechte (LTDH) beeilten sich daraufhin, dem neuen Herrn in Karthago ihre Ergebenheit zu versichern. Der neuen Regierung gehörten zwei ehemalige Vorsitzende der LTDH an: Sadun Semerfi wurde Gesundheitsminister, und Muhammad Scharfi sollte als Bildungsminister dafür sorgen, daß die Lehrpläne mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte übereinstimmen. Altgediente Linke und Gewerkschafter kehrten in die von Habib Burgiba gegründete Sozialistische Destur-Partei zurück, deren Vorsitz Ben Ali 1988 übernahm, wobei er sie in Rassemblement constitutionnel démocratique (RCD) umbenannte, um den Willen zum „demokratischen Wandel“ deutlich zu machen. Für den gab es durchaus einige Anzeichen: Etliche politische Persönlichkeiten kehrten aus dem Exil zurück, Tunesien trat der Internationalen Anti-Folter-Konvention bei, in Tunis wurde eine Sektion von amnesty international gegründet (die erste in der arabischen Welt), und erstmals wurde eine unabhängige Frauenorganisation zugelassen, die Association tunisienne des femmes démocrates (ATFD).

Scheich Raschid Ghannuschi, der Führer der islamistischen Partei En Nahda (Wiedergeburt), der in den letzten Wochen von Burgibas Herrschaft zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, erhielt seine Freiheit wieder. „Ich setze großes Vertrauen in Gott und in den Präsidenten Ben Ali“, erklärte er 1988. In den beiden ersten Jahren seiner Amtszeit tat der neue Präsident alles, um als „Beschützer des Vaterlandes und der Religion“ zu erscheinen: Er ließ den Gebetsruf über Radio und Fernsehen übertragen, er setzte einen Staatssekretär für religiöse Angelegenheiten ein, er unternahm die „kleine“ Pilgerfahrt nach Mekka. Aber die vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom April 1989, an denen auch „unabhängige Listen“ teilnahmen, die von der Islamistenbewegung unterstützt wurden, brachten des Ende dieser Idylle.

Ben Ali war als einziger Kandidat für das Präsidentenamt angetreten und wurde mit 99,27 Prozent der abgegebenen Stimmen wiedergewählt2 ; zugleich errang seine Partei sämtliche Parlamentssitze.3 Das sind Zahlen, wie man sie nur aus Ländern mit einem Einparteienregime kennt. Die von den Islamisten unterstützten unabhängigen Listen hätten eigentlich rund 14 Prozent der Stimmen bekommen müssen, wären nicht ihre Kandidaten und Anhänger eingeschüchtert und die Wahlergebnisse gefälscht worden. Daß solche Methoden, die man in Tunesien endgültig überwunden glaubte, wieder zur Anwendung kamen, führte zu einer großen Welle der Ernüchterung.4

Scheich Ghannuschi zog als erster die Konsequenzen und ging 1989 ins Exil. Die Bewegung, die er zurückließ, war entschlossen, der Regierung ihre Legalisierung abzutrotzen – ein Unterfangen, das zunehmend problematisch wurde, nachdem in Algerien die Islamische Heilsfront (FIS) kurz vor der Machtübernahme zu stehen schien. Auch Ahmad Mestiri, der Führer des Mouvement des démocrates socialistes (MDS), der sich Anfang der siebziger Jahre mit spektakulären Auftritten gegen die autoritäre Politik Burgibas profiliert hatte, zeigte sich wegen der Wahlmanipulationen tief enttäuscht und zog sich ängstlich zurück.

Zu den Enttäuschten gehörte auch Ahmad Ben Salah, Minister für Planung und Wirtschaft unter dem Regime Burgiba und ehemals Generalsekretär der Union général tunisienne du travail (UGTT), eines der mächtigsten Gewerkschaftsverbände in Afrika. Ben Salah war seinerzeit zu einer Haftstrafe verurteilt worden, konnte dann aber aus dem Gefängnis von Tunis fliehen und lebte anschließend vierzehn Jahre im Ausland. Als er endlich nach Tunesien zurückkehrte, mußte er erleben, daß ihn die Behörden unablässig schikanierten und daß man ihm seine bürgerlichen und politischen Rechte vorenthielt. Nach einigen Monaten gab er auf und verließ das Land zum zweiten Mal.

Während gegen die Islamisten seit 1990 eine regelrechte Hexenjagd veranstaltet wurde, bemühten sich die meisten Wortführer der legalen Oppositionsgrüppchen, als sei nichts gewesen, nur noch verbissener, das Wohlwollen der Machthaber zu gewinnen. Diese Politiker wie auch einige als unabhängig bezeichnete Persönlichkeiten zeigten sich äußerst empfänglich für Ehrbezeigungen: Für sie schien sich der Fortschritt des „Demokratisierungsprozesses“ an der Zahl der Audienzen zu bemessen, zu denen sie bei Präsident Ben Ali vorgelassen wurden.

Durch sein entschlossenes Bekenntnis zum „arabischen Nationalismus“ gleich zu Beginn der Golfkrise im Sommer 1990 verschaffte sich das Regime die Legitimation, mit der es um so leichter eine Repressionskampagne einleiten konnte, die sich vor allem gegen die Islamisten richtete. Dieser Bewegung hatte der Sieg der FIS bei den algerischen Kommunalwahlen im Juni 1990 großen Auftrieb gegeben. Die damit eingeleitete gnadenlose Unterdrückung wurde freilich nicht zur blutigen Lektion für die Fundamentalisten, wie zunächst viele glauben wollten. Eine ganze Reihe von Politikern und Menschenrechtsaktivisten, die bei der Jagd auf Islamisten noch beide Augen zugedrückt hatten, mußten bald erkennen, daß nun auch sie an die Reihe kamen. Verhaftet wurden beispielsweise auch die Führer des MDS, deren Flirt mit der Macht mit den Kommunalwahlen im Mai 1995 jäh zu Ende war.

Für Muhammad Muada, den Vorsitzenden des MDS, der den „Architekten des Wandels“ stets rückhaltlos unterstützt hatte, war das Ergebnis dieser Wahlen ein Schlag ins Gesicht: viertausend Gemeinderatssitze für die RCD, sechs für die Opposition. Er schrieb einen kritischen offenen Brief an den Präsidenten und wurde daraufhin im Oktober 1995 verhaftet, unmittelbar nach dem Staatsbesuch des französischen Präsidenten Jacques Chirac. Im Februar 1996 verurteilte man ihn wegen „Spionage für eine ausländische Macht“ – wobei man sich Libyen ausgedacht hatte. Nicht anders erging es Chemais Schamari, Mitglied des MDS-Politbüros: Im Juni 1996 wurde er, wegen „Weitergabe geheimer Anordnungen“ im Fall Muada, zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Beide Politiker wurden am 30. Dezember 1996 aufgrund einer vom Präsidenten angeordneten „bedingten Haftentlassung“ auf freien Fuß gesetzt.

Bereits seit 1991 kritisierte die Tunesische Liga für Menschenrechte, die erste Institution dieser Art in der arabischen Welt, den „beispiellosen Niedergang“ im Umgang mit den Grundrechten und die „zunehmende Anwendung der Folter“, um islamistischen Gefangenen Geständnisse abzupressen. Im Februar 1992, rund fünf Monate vor der Eröffnung der Prozesse gegen die islamistischen Führer, ließ das Regime ein Gesetz verabschieden, das sich gegen die Menschenrechtsvereinigungen richtete. Es sollte die LTDH zum Schweigen bringen, sorgte aber insgesamt dafür, „die Entstehung einer nennenswerten Zivilgesellschaft zu verhindern“5 .

Gestützt auf eine „Menschenrechtsbürokratie“, wie amnesty international es nannte – scheinbar regierungsunabhängige, tatsächlich aber staatlich gelenkte Organisationen –, ist es den Machthabern gelungen, die Liga für Menschenrechte zu spalten. Seit Mai 1994 sind auch die Frauen ins Schußfeld dieser Kampagne geraten, die sich gegen jede Form des freien Denkens richtet. Weil einige Frauen aus der Oberschicht es wagten, einen Aufruf für „Demokratie und Freiheit“ zu veröffentlichen, suchte man sie mit allen Mitteln einzuschüchtern. In einem Land, dessen Gesetzgebung in bezug auf die Rechte der Frau zu den fortschrittlichsten in der arabischen Welt gehört, gerieten auf einmal Frauen, die an der Universität oder im Staatsdienst beschäftigt waren, mit der Polizei in Konflikt. So zog man sie wegen einer Petition zur Rechenschaft, in der sie sich gegen „die Absperrung der Räume, in denen sich die zivile Gesellschaft äußern kann“, ausgesprochen hatten sowie gegen die „Verurteilungen, Entlassungen, Verhaftungen und Verfolgungen von fortschrittlichen Intellektuellen und Aktivisten“.

Immer mehr Tunesier müssen die Erfahrung machen, daß die Kritik an der Politik von Präsident Ben Ali sie teuer zu stehen kommen kann. Die große Mehrheit rettet sich in ungewohntes Schweigen, um keine Probleme mit der allgegenwärtigen Polizei zu bekommen. Neuerdings fordern bekannte Persönlichkeiten, die häufig von Journalisten interviewt werden, daß ihr Name nicht mehr genannt wird. Alle wissen, was mit den Gegnern des Regimes geschieht, und sehen sich daher selbst am Telefon vor, was sie sagen.

Einer unbekannten Zahl von Tunesiern wurde inzwischen der Paß entzogen, damit sie das Land nicht verlassen können. Zu den prominenten Fällen gehört der Mediziner Monsef Marsuki, der wiederholt daran gehindert wurde, seine Angehörigen in Frankreich zu besuchen oder an internationalen Konferenzen teilzunehmen. Auch Mustafa Ben Dschafar, ebenfalls Mediziner und früheres Mitglied des Führungsgremiums der LTDH, durfte 1994 nicht an einem internationalen Radiologenkongreß in Paris teilnehmen. Viele Aktivisten haben unter diesen Einschränkungen zu leiden, so etwa Hamma Hammami, der Führer der (verbotenen) Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens (PCOT), oder Umar Mestiri und seine Frau Sihera Ben Sidrine. Und der Rechtsanwältin Alja Scherif-Schamari, die schon vor der Verhaftung ihres Mannes im Mai 1996 die Willkür der Behörden zu spüren bekommen hatte, wurde sechs Monate später die Reise zu einer Konferenz über die Rechte der Frau in Genf verweigert.

Verglichen mit dem Schicksal der politischen Gefangenen aus der islamistischen Bewegung, erscheinen die Belästigungen durch die Polizei, die Einziehung von Pässen oder willkürliche Entlassungen als harmlose Schikanen: In den vergangenen Jahren dürften wenigstens zehn Menschen an den Folgen körperlicher Mißhandlung im Gefängnis gestorben sein. „Als Burgiba noch Präsident war, haben sich die Gefängniswärter und die Folterer weniger brutal aufgeführt als heute“, meint ein Oppositioneller, der auch schon in den Gefängnissen des „Obersten Kämpfers“ eingesessen hatte. Und er erzählt von einer „schrecklichen Folterung“, in deren Verlauf einer der Folterknechte seinen Kollegen anstachelte, „noch härter“ auf „die Matschbirne“ des Opfers einzuschlagen. Ähnliches haben bereits 1992 viele Islamisten vor den Militärgerichten zu Protokoll gegeben: Die Folter ist „viel brutaler“ geworden als noch zu Zeiten Burgibas. Nadschib Husni, ein Vorkämpfer für die Menschenrechte und einer der Anwälte der Islamisten, der selbst zu acht Jahren Gefängnis wegen „Fälschung eines Grundbucheintrags“ verurteilt wurde, hat nach seiner „bedingten Freilassung“ im Dezember 1996 von den „endlosen Foltersitzungen“ berichtet, die er 1995 erdulden mußte6 .

Amnesty international weist darauf hin, daß keine Untersuchung der „Todesfälle in Polizeigewahrsam“ eröffnet wurde, obwohl es „erdrückende Beweise“ für die Mißhandlung der Opfer gab. Bis heute hat die Organisation von den tunesischen Behörden „keine Reaktion auf die vorgebrachten Befürchtungen“ erhalten, die sie 1995 in einem Bericht mit dem Titel „Tunesien: Fehlende Strafverfolgung begünstigt die Verschärfung der Repression“7 erhoben hatte. Als Pierre Sané, der Generalsekretär von amnesty, Ende Juni nach Tunis kam, wurde ihm nicht gestattet, mit Gefangenen zu sprechen. „Wir haben es hier mit einer äußersten Verfeinerung der polizeistaatlichen Methoden zu tun“, erklärte Sané am Ende seines viertägigen Aufenthalts, der unter scharfer Polizeiaufsicht stattgefunden hatte. „Die Repression wird nicht brutal und blutig ausgeübt, man besitzt vielmehr Methoden, die subtiler und schrecklicher sind. Besonders beunruhigend sind die gezielten Bemühungen, den Bürgern eine Verinnerlichung der Angst beizubringen und die Presse und unabhängigen demokratischen Institutionen in eine Selbstzensur zu treiben. Gleichzeitig macht man eine geschickte Public-Relations-Politik, um die internationale Gemeinschaft zu beschwichtigen.“

Zum gleichen Befund sind auch Human Rights Watch und das Lawyers Committee for Human Rights gekommen. Die beiden Beobachter, die von diesen Organisationen Anfang 1996 nach Tunis geschickt wurden, standen unter dauernder polizeilicher Überwachung, was allerdings harmlos blieb gegenüber der Erfahrung eines amerikanischen Beobachters, der im Januar 1996 in seinem Hotelzimmer überfallen wurde – von einem seltsamen Einbrecher, der eine beträchtliche Summe von herumliegenden Dollars unbeachtet und statt dessen den Laptop mitgehen ließ. Am 26. Januar 1996 wurde am Flughafen von Tunis dem Präsidenten der Internationalen Föderation für Menschenrechte (FIDH), Patrick Baudouin, die Einreise verweigert. Nach Ansicht Baudouins wollen die tunesischen Behörden grundsätzlich immer „glauben machen, sie würden ihre Probleme allein den Leuten verdanken, die Kritik an den Menschenrechtsverletzungen üben, während es doch diese Verstöße sind, die ihnen die Schwierigkeiten bringen“8 .

„Menschenrechte“, eine Metro-Station

DIE Polizei, deren Stärke seit dem Machtantritt Ben Alis9 auf das Vierfache erhöht worden sein soll, wird in ihrer Aufgabe, die tunesische Gesellschaft zu überwachen, durch Tausende von Informanten und durch die Stadtteilkomitees unterstützt, die von der Regierung in ganz Tunesien eingerichtet wurden. Präsident Burgiba konnte sich auf die 1934 von ihm gegründete Partei verlassen, wenn es darum ging, seinen politischen Gegnern entgegenzutreten und die Massen zu mobilisieren. Sein Nachfolger Ben Ali wurde dagegen nicht durch diesen Parteiapparat geprägt, er schaffte seinen Einstieg in die Politik als Innenminister. Bei ihm spielt daher die Polizei die entscheidende Rolle: Sie ist es, die darüber wacht, wer in den Gemeinderäten sitzt, wie sich die Führungsgremien der Parteizellen des RCD zusammensetzen oder von Kultur- und Sportvereinen oder gar von gewissen regierungsfreundlichen Organisationen, die sich nicht selten als NGOs ausgeben.

Inzwischen scheint es zu den vordringlichsten Aufgaben der Sicherheitskräfte zu gehören, Bürger abzuhören, ihnen die Telefon- und Faxleitungen zu kappen und ihren Briefverkehr zu behindern. Die Inhaber von Läden, in denen Kopierer und Faxgeräte zur öffentlichen Nutzung stehen, werden überall im Land angehalten, einen Blick auf die Dokumente zu werfen, die ihre Kunden kopieren oder versenden wollen. So stützte sich zum Beispiel die Verurteilung von Chemais Schamari wegen „Weitergabe geheimer Anweisungen“ auf ein Fax, das er einem belgischen Rechtsanwalt geschickt hatte.

Die neuen Technologien scheinen den Machthabern jedenfalls erheblich zu schaffen zu machen. Im Dezember 1994 war der Verkauf und die Installation von Satellitenantennen zunächst verboten worden; im Juli 1995 ließ man dann ein Gesetz beschließen, das die bedingte Zulassung gegen eine gewisse Gebühr vorsah. Nach Aussage von General Habib Ammar, dem Minister für Kommunikationswesen, ging es dabei allein um den „Landschaftsschutz“ und die Förderung des Kabelfernsehens – das von der Zensur problemlos überwacht werden kann. Kürzlich wurde auch eine Behörde geschaffen, die unter anderem den Zugang zum Internet überwachen soll.

Ähnlich wird mit den Verlagen verfahren. Die Zensur trifft nicht nur Autoren, die im Verdacht stehen, mit den Vorstellungen der Islamisten zu sympathisieren, sondern viele Intellektuelle, etwa den Religionshistoriker Abdelmadschid Scharfi oder den Mediziner Monsef Marsuki, von dem nicht einmal mehr seine wissenschaftlichen Werke verkauft werden dürfen. Auch der Dichter Ahmad Loghmani, der für seine Oden an den ruhmreichen Präsidenten Burgiba bekannt war, mußte die Gemeinheiten der Zensur kennenlernen.10 Mit einem Wort: Intellektuelle und Demokraten, die in der Lage wären, Bewegung in die öffentliche Diskussion zu bringen und Tunesien behutsam an die Herausforderungen des zwanzigsten Jahrhunderts heranzuführen, leben heute unter Bedingungen, die in vieler Hinsicht an die Situation in Algerien vor den sozialen Unruhen von 1988 erinnern.

Tatsächlich waren unter Burgiba die Freiräume größer als heute. Damals stellte der Gewerkschaftsverband UGTT die einflußreichste Oppositionskraft dar, obwohl auch er gegen Ende der Ära Burgiba an Einfluß verlor – inzwischen ist er zu einem Instrument der Machthaber verkommen und dient dazu, die Privatisierung der Wirtschaft voranzutreiben. Die meisten Streiks der letzten Jahre wurden ohne Mitwirkung des UGTT organisiert.

All das hat den französischen Präsidenten Jacques Chirac nicht davon abgehalten, seinen tunesischen Amtskollegen in den höchsten Tönen zu preisen, als er im Oktober 1995 zum Staatsbesuch nach Tunis reiste. Im Dezember des Jahres tat es ihm Robert Pelletreau jr. nach, der US-amerikanische Staatssekretär für Nahost-Fragen. Muammar al-Gaddafi war im Oktober 1996 an der Reihe: Er pries seinen tunesischen Kollegen als „strahlenden Stern am Himmel des arabischen Maghreb“. Ganz offensichtlich teilt man weder in Paris und Washington noch in Tripolis die Bedenken der Menschenrechtsorganisationen. Ja man teilt offenbar nicht einmal die Befürchtungen des Europäischen Parlaments, das am 23. Mai 1996 nachdrücklich erklärt hatte, „die Erstickung der demokratischen Freiheiten“ in Tunesien sei durch nichts zu rechtfertigen; und das Präsident Ben Ali daran erinnerte, daß das 1995 unterzeichnete Partnerschaftsabkommen zwischen Tunesien und der Europäischen Union auch einen Abschnitt über die Menschenrechte enthält.

Die Antwort Ben Alis bestand im wesentlichen in der Feststellung, Tunesien müsse sich von niemandem Lehren erteilen lassen; und daß die Bürger des Landes den Übergang zur Demokratie erfolgreich vollzogen hätten, zeige sich im übrigen daran, daß er nach 1989 mit über 99 Prozent der Stimmen gewählt worden sei. Damit erweitert das Regime noch den klaffenden Widerspruch zwischen seinen Erklärungen über die Einhaltung der Menschenrechte und der politischen Wirklichkeit, die sich durch eine zunehmende Unterdrückung der Grundrechte kennzeichnet. Maßnahmen wie die „bedingte Freilassung“, die im Dezember vier Oppositionspolitikern gewährt wurde, oder die immer neuen Ankündigungen einer politischen Öffnung werden das tunesische Volk genausowenig zufriedenstellen können wie die Umbenennung zweier Metro- Stationen in Tunis, die neuerdings „Nelson Mandela“ und „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ heißen. Die Menschen verlangen nach demokratischen Verhältnissen, und sie „haben ein Anrecht auf ein entfaltetes und institutionalisiertes politisches Leben“11 .

dt. Edgar Peinelt

* Pseudonym eines Journalisten aus dem Maghreb, der aus Angst vor Repressalien nicht mit seinem wirklichen Namen unterzeichnen will.

Fußnoten: 1 Aus einer Ansprache, die Burgiba am 17. Dezember 1967 in Karthago gehalten hat. 2 Bei den Wahlen am 20. März 1994 gelang es Präsident Ben Ali, dieses Ergebnis noch zu übertreffen: Er erhielt 99,91 der abgegebenen Stimmen – ein Rekord in der arabischen Welt. 3 1994 gelangten durch eine Änderung des Wahlmodus 19 Abgeordnete einer oppositionellen Strömung ins Parlament, die jedoch den Präsidenten unterstützt. Derzeit verfügt die RCD über 144 Sitze. 4 Siehe Jacqueline Boucher, „Tunesien: Wo kein Wort das andere gibt“, Le Monde diplomatique, Februar 1996. 5 Siehe Rex Brynen, Bahgat Korany, Paul Noble, „Political Liberalization and Democratization in the Arab World“, Boulder, Col. (Lynne Rienner Publishers), 1995, S. 142. 6 In einem weiteren Anklagepunkt, der vollkommen aus der Luft gegriffen war, ist Nadschib Husni am 14. November 1996 vom Appellationsgerichtshof in Tunis freigesprochen worden. Die Anklage hatte auf „kriminelle Vereinigung“ gelautet. 7 Siehe auch: „Tunisie: des femmes victimes de harcèlement, de torture et d'emprisonnement“, amnesty international, Juni 1993. 8 Interview mit Patrick Baudouin in der belgischen Tageszeitung Le Soir vom 3. Juli 1996. 9 Vgl. Ignacio Ramonet, „Eiserne Faust in Tunesien“, Le Monde diplomatique, Juli 1996. 10 Vgl. „Le Maghreb en privation de libertés“ und „Editer au Maghreb“ von Catherine Simon, Le Monde vom 8. Mai 1996 und 18. Oktober 1996. 11 So die Formulierung von Ben Ali selbst in der Erklärung, die er am Morgen des 7. November 1987 im tunesischen Rundfunk verlesen hat.

Le Monde diplomatique vom 14.02.1997, von HAMED IBRAHIMI