14.03.1997

Der Niedergang der Streitkultur

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Der Niedergang der Streitkultur

Von PHILIPPE BRETON *

DIE gezielte Überredung ist allgegenwärtig, ihre Strategien verfolgen uns auf Schritt und Tritt; dennoch lernen Schüler und Studenten weder sie zu beherrschen, noch sie zu entschlüsseln. Trotz Didaktik und Kommunikationswissenschaften gibt es weit und breit kein wirkliches Programm, das den Sinn für die Kunst der Argumentation schärfen würde – für die Kunst, zu überzeugen, ohne zu manipulieren.

Dieses Vakuum ausnutzend, werden seit Jahren in den Bereichen Wirtschaft und Kommunikation sowie auf einem riesigen Markt für Untersuchungen über „Persönlichkeitsbildung“ für teures Geld Theorien angeboten, die auf „wissenschaftliche“ Weise die Instrumentalisierung und Manipulierung anderer Menschen rechtfertigen.

Das 20. Jahrhundert hat eine beispiellose paradoxe Entwicklung gebracht: Vor unseren Augen haben sich alle möglichen Strategien der Überredung entwickelt, entbrannten immer wieder ideologische Kämpfe, die gewaltige Menschenmengen mobilisierten. Propaganda, Desinformation und psychologische Manipulation prägten das ganze Jahrhundert, in Friedens- wie in Kriegszeiten. Auch der derzeitige globale Siegeszug des Liberalismus stellt – in anderer Form – ein Überredungsprojekt von gigantischem Ausmaß dar. Und die ebenso einmalige Ausbreitung marktwirtschaftlicher Grundsätze beruht auf dem umfassenden Einfluß der Werbung auf das Bewußtsein – einem gigantischen, von Skrupeln unberührten Überzeugungsunternehmen.

Trotz seiner Allgegenwart kommt der rhetorische Sprachgebrauch in einem Raum zur Entfaltung, in dem von Reflexion, von Didaktik, von Kultur und vor allem von ethischen Prinzipien keine Spur zu finden ist. Es gibt keine wirkliche „Überzeugungskultur“, wie sie einer Zivilisation angemessen wäre, die ihr Schicksal nicht mehr einfach den Normen der Vergangenheit und der Tradition anvertrauen will.

Die schwarze und die weiße Magie der Manipulation

DIESER Widerspruch hat zur Folge, daß die Sprache fast ausschließlich dem Gesetz der Effizienz unterworfen wird und verkümmert, so daß nur noch ihre am krassesten manipulatorischen Ausdrucksformen übrigbleiben. Vieles deutet darauf hin, daß wir derzeit den Niedergang der Redekultur und ihrer Funktion für den Prozeß der Zivilisation erleben. Auch andere Epochen der Menschheitsgeschichte kannten solche Phasen.

Nachdem sich in der römischen Republik über 500 Jahre hinweg im Geiste eines in Athen entstandenen Demokratieverständnisses eine politische Streitkultur herausgebildet hatte, stellte der römische Historiker Tacitus um das Jahr 80 nach Christus die Frage, ob diese Kultur nicht am Verschwinden sei1 : „Heute muß man sich kurz fassen; vorbei sind die Zeiten, da sich die Redner frei vor einem aufmerksamen und engagierten Publikum äußern konnten. (...) Ausgedient hat heute die Kultur der politischen Rede, auf der die Republik beruhte. Das Kaiserreich setzt sich durch, und mit ihm verschwindet die Demokratie der Rede.“ Für Tacitus ist die Ästhetisierung des Diskurses und die Geburt der Literatur als Genre eine Folge des Untergangs der von Athen eingeleiteten Epoche. Die Zirkusspiele seien zum einzigen Gesprächsthema geworden – „selbst in den Rhetorikschulen“.

Bei aller Vorsicht mit Vergleichen: Leben wir nicht in einer Zeit, in der es um das gesprochene Wort ganz ähnlich bestellt ist? Auch heute gilt es, sich kurz zu fassen, der „Clip“ ist zur Maßeinheit des Diskurses geworden. Statt echter Auseinandersetzungen herrschen manipulatorische Praktiken, die überwiegend einem globalen Einheitsdenken dienen. Die Zirkusspiele von heute, bei denen wie in der ersten Reihe sitzen und zwischen einer Fülle von Fernsehkanälen wählen können, sind das dominierende Gesprächsthema. Aber wie steht es um eine Gesellschaft, wenn nur noch über Dinge gesprochen wird, die niemand selbst erlebt oder allenfalls auf der virtuellen Ebene mitbekommen hat?2 Das erste Anzeichen für den Niedergang der Redekultur ist der Versuch, ihr Feld einzugrenzen. Was ist diskutierbar, was ergibt sich aus einer kollektiven Entscheidung? Bezeichnend für den ideologischen Feldzug, der den Neoliberalismus weltweit durchsetzen soll, sind die eingesetzten manipulatorischen Mittel. Statt als eine mögliche Option aufzutreten, über die öffentlich diskutiert werden kann, gibt sich der Neoliberalismus als „natürliche Entwicklung“, als „Gesetz“, dem wir unterworfen seien. Die Möglichkeit der Gegenrede ist abgeschafft, und gerade die wesentlichen Dinge, die uns widerfahren, stellen sich als etwas nicht mehr Diskutierbares dar. Kurz gesagt: Man bindet uns die Hände, wirft uns ins Wasser und sagt dann, wir könnten nicht schwimmen.

Dem Kampf gegen den Niedergang der Redekultur dient all das, was uns eine Auseinandersetzung über unser gemeinsames Schicksal ermöglicht, die Verweigerung einer „Meteorologisierung“ der Politik und der beliebten „semantischen Assimilierung“, die aus der Arbeitslosigkeit eine Art Azorenhoch macht, auf das wir keinerlei Einfluß haben.

Ein weiteres Merkmal für den Niedergang der öffentlichen Redekultur ist das Fehlen verbindlicher Normen für den Einsatz bestimmter Methoden der Überredung. So ist es schon verblüffend, daß man in den modernen Demokratien offenbar keine Trennung mehr zwischen dem Bereich der Zwecke und dem der Mittel kennt.

Ist der Zweck gut, heiligt er jedes Mittel. Die Faszination durch die Technik hat einiges mit der merkwürdigen Blankovollmacht zu tun, die den Kommunikationsmitteln zugestanden wird. Als Werkzeug totalitärer Regime ist die Propaganda des Teufels, doch wenn sie demokratischen Idealen dient, wird sie irgendwie respektabel. Nach Jacques Ellul war es die amerikanische Regierung, die 1917 – für einen „guten Zweck“, nämlich die Ideale der westlichen Demokratie – die Techniken der modernen Propaganda eingeführt hat.3 Für Manipulationsmethoden gilt das gleiche wie für die Atombombe, die in Präsident Trumans Worten „ein Werkzeug im Dienste des Friedens“ ist: ein „heiliges Vermächtnis“, solange sie in den Händen freiheitlicher Demokratien liegt, ein Teufelswerkzeug, sobald „die anderen“ sie besitzen.

Die Vermengung von Mittel und Zweck wird in der modernen Werbung auf die Spitze getrieben. Nach Stuart Ewen sind die Industriekapitäne des 19. Jahrhunderts dank der Werbung zu „Bewußtseinskapitänen“ geworden.4 Die Werbung bedient sich einer Kombination von medialen Instrumenten und ist damit nach wie vor ein sehr subtiles und wirksames Werkzeug der Manipulation. Künftige Generationen werden vielleicht erkennen, daß wir in dieser Hinsicht genauso „beeinflußt“ waren wie die Bewohner totalitärer Staaten, die wir bedauern, weil sie einer allgegenwärtigen Propaganda ausgesetzt waren. Doch was der Markt bezweckt, heiligt seine Mittel.

Die Politik kann diesem Widerspruch nicht entgehen. Unlängst hat in Frankreich ein Teil der Linken dem demagogischen Scharlatan Bernard Tapie Beifall gezollt, obwohl sich alle über seine schändlichen Täuschungsmanöver im klaren sind. Wie soll man gegen die Propaganda der extremen Rechten kämpfen, wenn man ihren Einsatz im demokratischen Lager nicht verurteilt?

Sollten wir nicht endlich über eine genaue Trennung zwischen einer Ethik der Mittel und einer Ethik des Zwecks nachdenken? Wird nicht jede Äußerung grundsätzlich korrumpiert, wenn man sie mit manipulatorischen Methoden verbreitet, die weder den Urheber der Äußerung noch deren Adressaten respektieren? Es gibt ja durchaus Normen, die eine Sprache, die den menschlichen Verstand respektiert, von einer Sprache unterscheidet, die manipulative Gewalt ausübt. Diese Normen reichen zurück in die rhetorische Tradition Griechenlands, die sich mit solchen Fragen auseinandersetzte. Diese Normen sind ein Bestandteil der Zivilisation und jedem bekannt. Doch ihre Geltung verblaßt oder verschwindet in einem Klima, in dem das Prinzip der Permissivität selbst für sprachliche Äußerungen und die Methoden ihrer Verbreitung gilt.

Der freiwillige Verzicht auf sprachliche Manipulation

JEDER Appell an diese Normen wird freilich mit der falschen Alternative Freiheit oder Zensur gekontert – dem Credo der liberalen Gesellschaften. Demnach darf alles gesagt werden, ist alles erlaubt. Jede Idee ist schon dadurch gerechtfertigt, daß sie einen Abnehmer findet. So wirken die Marktgesetze bis in die Welt der Ideen und ihrer Verbreitung hinein. Man muß daran erinnern, daß wir mit der Entstehung der Demokratie im Namen der Zivilisation nicht nur auf die individuelle Anwendung von Gewalt und Vergeltung verzichtet haben5 . Wir haben auch gewisse Normen anerkannt, die es erlauben, auf die Anwendung der Art psychologischer Gewalt zu verzichten, die der manipulatorische Umgang mit Sprache darstellt. Vielleicht ist es an der Zeit, diese Normen wieder in Geltung zu setzen, ihre Bedeutung für die Demokratie und für alle Staatsbürger zu betonen.

Ein weiteres Anzeichen für den Niedergang der Redekultur ist die Verdrossenheit, die sich an Schulen und Universitäten gegenüber dem „Reich der Rhetorik“ (Roland Barthes) breitmacht.6 1902 verschwand dieses Fach aus den französischen Unterrichtsplänen, nachdem es 2500 Jahre lang die Grundlage aller Bildung gewesen war. Gewiß, auch die Rhetorik wurde ständig entwertet und war schließlich nurmehr eine äußere Hülle, die den demokratischen Inhalt weitgehend eingebüßt hatte.

Es gehört aber zu den wesentlichen staatsbürgerlichen Funktionen des Unterrichts, aufzuzeigen, daß die großen demokratischen Werte nichts wert sind, wenn die Mittel zu ihrer Verteidigung nicht dem Abbau der Gewalt und dem Aufbau sozialer Solidarität verpflichtet sind, mit anderen Worten: der Achtung vor dem anderen Menschen.

dt. Esther Kinski

* Wissenschaftler am Nationalen Zentrum für Sozialforschung (CNRS) und Autor von „L‘Argumentation dans la communication“, Paris (La Découverte) 1996.

Fußnoten: 1 Tacitus, „Dialogus de oratoribus“/„Dialog über die Redner“, lat./dt., Stuttgart (Reclam UB). 2 Vgl. Philippe Breton, „L'Utopie de la communication, le mythe du village planétaire“, Paris (La Découverte) 1995. 3 Jacques Ellul, „Histoire de la propagande“, Paris (PUF) 1967. 4 Stuart Ewen, „Consciences sous l'influence: publicité et genèse de la societé de consommation.“ Paris (Aubier) 1983. 5 Vgl. Jean-Pierre Vernant: „Die Ursprünge des griechischen Denkens“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1982. 6 Roland Barthes, „L'ancienne rhétorique“, Communications, Nr. 16, Sondernummer zum Thema „Recherches rhétoriques“, Paris (Seuil) 1970.

Le Monde diplomatique vom 14.03.1997, von PHILIPPE BRETON