14.03.1997

Der lange Atem der Grauen Wölfe

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Der lange Atem der Grauen Wölfe

DIE islamistische Regierung der Türkei ist an allen Fronten in Schwierigkeiten geraten: anhaltend hohe Inflation, Auseinandersetzungen über die Frage des Säkularstaats, Spannungen mit Griechenland über die Zypernfrage. In Kurdistan erweist sich Regierungschef Necmettin Erbakan als ebenso unfähig wie seine Vorgänger, eine Lösung für eine Beendigung des Krieges zu finden, der schon Jahre dauert und den Staat immer teurer zu stehen kommt. Ein Autounfall hat kürzlich der erstaunten Öffentlichkeit vor Augen geführt, in welchem Ausmaß der Sicherheitsapparat, die extreme Rechte, die Mafia und die Regierungsmilizen, die gegen die Guerilla kämpfen, miteinander verstrickt sind.

Von MARTIN A. LEE *

In den vergangenen Wochen wurde in vielen türkischen Familien um Punkt neun Uhr abends das Licht ausgemacht und der Fernseher abgeschaltet, und man saß im Dunkeln, um gegen die Komplizenschaft der Sicherheitskräfte mit dem kriminellen Milieu zu protestieren. Ausgelöst wurde diese ungewöhnliche Art der Demonstration durch die erschreckenden Tatsachen, die nach einem Verkehrsunfall ans Licht kamen, der sich am 3. November 1996 etwa 150 Kilometer südlich von Istanbul ereignet hatte.

An diesem Tag fand man im Wrack eines Mercedes drei Tote: Hüseyin Kocadag, einen hochrangigen Polizeioffizier, der das Kommando über die Antiguerilla- Einheiten innegehabt hatte, Abdullah Çatli, einen Mann, der untergetauvcht war, weil er wegen Mordes und Drogenhandels gesucht wurde, und seine Freundin Gonca Us, eine frühere Schönheitskönigin, die inzwischen bei der Mafia zum Mädchen für alles avanciert war. Der vierte Insasse des Wagens hatte den Unfall überlebt. Es war Sedat Bucak, ein kurdischer Kriegsherr, dessen Miliz im Sold der türkischen Regierung stand, um gegen die Guerilla der „Kurdischen Arbeiterpartei“ (PKK) zu kämpfen.

Zunächst versicherte die Polizei, der Unfall habe sich bei der Überführung zweier kleiner Gangster in Polizeigewahrsam ereignet. Aber die am Unfallort sichergestellten Beweismittel zeigten, daß der flüchtige Verbrecher Abdullah Çatli diplomatische Papiere besaß, die ihm von staatlichen Stellen ausgestellt worden waren, daß er mehrere Pistolen bei sich trug, dazu gültige Waffenscheine und nicht zuletzt sechs Ausweise auf lauter verschiedene Namen.

Als deutlich wurde, daß Çatli von der Polizei nicht als Straftäter, sondern als Verbindungsmann behandelt worden war, mußte der Innenminister zurücktreten, und mehrere hochrangige Vertreter der Sicherheitskräfte, darunter der Polizeichef von Istanbul, wurden vom Dienst suspendiert. Abdullah Çatli war als Mitglied der Führungsriege der „Grauen Wölfe“ bekannt, einer terroristischen neofaschistischen Organisation, die Ende der sechziger Jahre gegründet worden war. Er hatte schon eine Karriere in verschiedenen Straßenbanden hinter sich, als er 1978 zum „zweiten Mann“ in der Hierarchie der „Grauen Wölfe“ aufstieg – doch im selben Jahr mußte er in die Illegalität abtauchen, weil er in die Ermordung von sieben Gewerkschaftsaktivisten verwickelt war.

Am 13. Mai 1981 machten die Grauen Wölfe weltweit Schlagzeilen, als eines ihrer Mitglieder, Mehmet Ali Agca, der zu den engsten Mitarbeitern von Abdullah Çatli gehört hatte, ein Attentat auf Papst Johannes Paul II. verübte. Einige Monate später, in der Verhandlung gegen die vier Türken und drei Bulgaren, die in der Sache angeklagt wurden, gab Çatli bei seiner Vernehmung als Zeuge zu, er habe dem Attentäter die Tatwaffe verschafft. Zuvor hatte er ihm bereits zur Flucht aus dem Gefängnis verholfen, wo Ali Agca eine Strafe wegen der Ermordung des Chefredakteurs einer großen türkischen Zeitung absaß.

Auch zur türkischen Drogenmafia unterhielt Abdullah Çatli enge Beziehungen. Die Grauen Wölfe, die selbst tief im Rauschgifthandel steckten, dienten Abuzer Ugurlu, dem Chef des Kartells, als Mittelsmänner.

Anfang der achtziger Jahre entdeckte der italienische Untersuchungsrichter Carlo Palermo, der in Trient Ermittlungen über den Waffen- und Drogenhandel zwischen Sizilien und Osteuropa führte, daß bedeutende Mengen an Präzisionsfeuerwaffen aus Nato-Beständen von Westeuropa in den Nahen Osten geschmuggelt wurden. Häufig wurde diese Ware mit Heroin bezahlt, das mit Hilfe der Grauen Wölfe und anderer Dealer nach Norditalien gelangte. Dort nahmen es die Handlanger der Mafia in Empfang, um es nach Nordamerika weiterzuleiten. Der sizilianische Drogenring, der damals die Vereinigten Staaten und Europa mit reinem Heroin überschwemmte, versorgte sich also primär aus der Türkei.

Wie ein Magnet zog dieser gewaltige illegale Handel die Geheimdienste beider Lager an. Eine Schlüsselrolle spielte dabei die Firma Kintex in Sofia, ein staatliches Import-Export-Unternehmen, das sich auf den Waffenhandel spezialisiert hatte – und durchsetzt war von bulgarischen und russischen Agenten. So kam auch die Vermutung auf, die Verschwörung gegen den Papst sei vom KGB und seinen bulgarischen Helfern gesteuert worden, die wiederum enge Beziehungen zur türkischen Mafia unterhielten1 . Aber die Kintex wurde auch von westlichen Geheimdiensten genutzt: Die CIA bediente sich dieser Firma, um die Contras in Nicaragua mit Waffen zu versorgen.

In seiner Aussage vor dem Gericht in Rom im September 1985 erklärte Abdullah Çatli, der westdeutsche Geheimdienst BND sei an ihn herangetreten und habe ihm ein hübsches Sümmchen geboten, damit er den russischen und bulgarischen Geheimdienst in Zusammenhang mit dem Attentat auf den Papst bringe. Sechs Jahre später enthüllte Melvin A. Goodman, ein früherer Experte der CIA, daß seine Kollegen damals auf Weisung von oben ihre Berichte gefälscht hatten, um diesen Anschuldigungen Glaubwürdigkeit zu verleihen: „Die CIA besaß keine Beweise in dieser Sache“ sagte Goodman am 25. September 1991 vor dem Geheimdienstausschuß des amerikanischen Senats. Aber die vermeintliche „bulgarische Piste“ erfüllte ihren Zweck: Die UdSSR erschien wieder einmal als das Reich des Bösen, und die Aufmerksamkeit wurde von den Verbindungen zwischen dem amerikanischen Geheimdienst und den Rechtsextremisten in der Türkei abgelenkt.

Als die Schüsse auf den Papst fielen, hieß der Leiter der CIA-Außenstelle in Rom Duane Dewey Clarridge. Der Mann war zuvor in Ankara stationiert gewesen – in den siebziger Jahren, als die Grauen Wölfe eine Serie von Attentaten verübten, der Tausende türkische und kurdische Linke zum Opfer fielen. Sie wurden damals von der Antiguerilla-Organisation, einer Untergruppe der Abteilung für Sondereinsätze bei der türkischen Armee, geduldet und gedeckt. Die Abteilung, die ihren Sitz im Gebäude der amerikanischen Militärhilfe in Ankara hatte, wurde von amerikanischen Militärberatern ausgebildet und verfügte über Mittel aus dem Fonds der Militärhilfe. Ihre Aufgabe bestand darin, Untergrundschwadronen zu schaffen, die aus Zivilisten zusammengestellt waren. Diese Personen sollten unerkannt bleiben und erst im Falle einer sowjetischen Invasion in Aktion treten, um dann Sabotageakte auszuführen – solche Pläne gab es in allen Nato-Ländern2 . In Wirklichkeit suchten sich diese Agenten allerdings sofort innenpolitische Ziele.

Emir Deger, ein ehemaliger Militärstaatsanwalt und Mitglied des Obersten Gerichtshofs der Türkei, bewies die Zusammenarbeit zwischen den Grauen Wölfen und den staatlichen Antiguerilla-Einheiten sowie deren enge Verbindungen zur CIA. Daß die geheimen paramilitärischen Gruppen auch eingesetzt wurden, um auf Mitglieder der extremen Linken Jagd zu machen und an Folterungen teilzunehmen, ist das Fazit dreier Bücher, die Talat Turkan, ein hoher Armeeoffizier im Ruhestand, zu diesem Thema veröffentlicht hat3 . Die Serie politischer Gewaltakte, die 1980 zum Militärputsch in der Türkei führte, war also nicht zuletzt das Werk der Grauen Wölfe.

Unter den Bedingungen des Kalten Krieges blieb den Grauen Wölfen und ihrer legalen Vertretung, der „Partei der nationalen Aktion“, keine andere Wahl, als sich auf eine unauffällige Zusammenarbeit mit der Nato und der CIA einzulassen. Die Organisation, an deren Spitze der Armeeoberst Alparslan Türkeș stand, vertrat eine großtürkische Ideologie und verlangte im Namen der Neuerrichtung eines türkischen Reiches von der UdSSR die Rückgabe von Gebieten.

Mehr als vier Jahrzehnte lang spielte die Türkei eine wichtige strategische Rolle als das am weitesten vorgeschobene Bollwerk des Westens gegen den Ostblock, und der CIA kamen die Anhänger der großtürkischen Idee gerade recht, um das Aufbegehren der türkischen muslimischen Minderheiten in den Sowjetrepubliken zu schüren. Seit 1991 war diese Politik überflüssig geworden, den Grauen Wölfen hatte sie jedoch ermöglicht, Einfluß in Zentralasien zu gewinnen. Die Zahl der Kreuzfahrer des großtürkischen Reichs nahm in vielen der ehemaligen Sowjetrepubliken zu, einige Mitglieder der Organisation übernahmen Posten als Berater verschiedener Regierungen in der Region.

Nachdem er in den achtziger Jahren eine Gefängnisstrafe verbüßt hatte (die ihm teilweise erlassen wurde), durfte Oberst Türkeș seine politischen Aktivitäten wieder aufnehmen. 1992 reiste er ins unabhängige Aserbaidschan, wo er als Held gefeiert wurde. Er trat in Baku für den Präsidentschaftskandidaten der Volksfront, Abulfas Eltschibej, ein, der mit den Grauen Wölfen sympathisierte. Nach seiner Wahl berief Eltschibej Iskender Gamidow zum Innenminister, einen unberechenbaren Extremisten, der aus seiner Zugehörigkeit zu den Grauen Wölfen kein Hehl machte und offen für die Schaffung eines Großtürkischen Reichs eintrat, das den Norden des Iran einschließen und sich bis nach Sibirien, China und Indien erstrecken sollte. Gamidow wurde im April 1993 zum Rücktritt gezwungen, nachdem er Armenien mit einem Atomwaffenangriff gedroht hatte.

Abdullah Çatli hatte inzwischen einige Jahre in einer Schweizer Haftanstalt verbracht, bis er 1990 floh und sich dem neofaschistischen Untergrund in der Türkei anschloß. Trotz seiner Verwicklung in den Anschlag auf den Papst wurde ihm von der Armee der Aufbau einer Todesschwadron übertragen, die im schmutzigen Krieg gegen die Kurden eingesetzt werden sollte4 . Als Gegenleistung für die kooperative Haltung der Türkei im Golfkrieg übersah man in Washington geflissentlich die Angriffe der türkischen Luftwaffe auf die kurdischen Stützpunkte im Irak; zugleich konnten die antikurdischen Todesschwadronen im Südosten der Türkei ungestraft mehr als tausend Zivilisten umbringen. Human Rights Watch, amnesty international und das Europäische Parlament haben wiederholt gegen die eklatanten Menschenrechtsverletzungen protestiert, die von den türkischen Sicherheitskräften begangen wurden.

Durch den Verkehrsunfall am 3. November 1996 kam ans Licht, welche Rolle Abdullah Çatli bei der Repression gegen die Kurden gespielt hatte. Im Wrack des Fahrzeugs fanden sich die Beweise für jene Vermutungen, die zahlreiche Journalisten und Menschenrechtsaktivisten seit langem gehegt hatten: Um türkische Dissidenten und kurdische Rebellen zu beseitigen, waren die unterschiedlichen türkischen Regierungen bereit gewesen, Drogenhändler zu decken, Terroristen zu schützen und Mörderbanden zu finanzieren. Oberst Alparslan Türkeș bestätigte das umstandslos: „Çatli war Mitarbeiter einer geheimen Organisation, die dem Wohl des Staates diente.“5

Auch Tansu Çiller, die gegenwärtige Außenministerin, setzte sich für Çatli ein: „Ich weiß nicht, ob er schuldig ist oder nicht, aber ich habe stets großen Respekt vor Menschen, die im Namen unseres Volkes, unserer Nation und unseres Staats in vorderster Front standen oder verwundet worden sind.“6

Achtzig Mitglieder des türkischen Parlaments forderten eine genauere Untersuchung des Falls und drängten den Generalstaatsanwalt, gegen Tansu Çiller ein Strafverfahren wegen krimineller Machenschaften und Billigung illegaler Aktionen einzuleiten. Sie betonten, durch den Verkehrsunfall von Susurluk biete sich eine einmalige Gelegenheit, den ganzen Komplex der immer wieder vertuschten Zusammenhänge zwischen Attentaten und Waffen- und Drogenhandel aufzuklären. Nach mehrfachen Beratungen wurde die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses von der Mehrheit der regierungstragenden Abgeordneten jedoch abgelehnt.

Der Skandal war natürlich auch für die türkische Presse ein großes Thema. In den vergangenen Jahren wurden allerdings eine ganze Reihe von Journalisten, die sich für die fragwürdigen Beziehungen zwischen Heroinhändlern und hohen Polizeioffizieren interessierten, von den Todesschwadronen umgebracht. Und die Staatsanwaltschaft hat einen äußerst schweren Stand gegen den Druck, der von höheren Stellen ausgeübt wird. Das amerikanische Außenministerium erklärte auf Anfrage, sich zum Susurluk-Skandal nicht äußern zu wollen. Es handele sich dabei um eine ausschließlich innertürkische Angelegenheit.

dt. Edgar Peinelt

* Autor von „The Beast Reawakens“, einer Arbeit, die sich mit dem Wiedererstarken des Faschismus befaßt. Erscheint im Juni 1997 bei Little Brown (New York).

Fußnoten: 1 Siehe Gilles Perrault, „La grotesque et pitoyable fable de la filière bulgare“, Le Monde diplomatique, Mai 1987. 2 Siehe François Vitrani, „L'Italie, un Etat de ,souveraineté limitée‘“, Le Monde diplomatique, Dezember 1990. 3 Info-Turk Bulletin, Brüssel, Februar 1993. 4 Info-Turk Bulletin, Brüssel, Dezember 1990. 5 New York Times, 19. Dezember 1996. 6 Ebd.

Le Monde diplomatique vom 14.03.1997, von MARTIN A. LEE