14.03.1997

Jenseits von Kommunismus und Nationalismus

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Jenseits von Kommunismus und Nationalismus

DEN Flüchtlingen in Bosnien bleibt immer weniger Hoffnung auf Rückkehr an ihre Wohnorte. 30000 Kroaten und Muslime warten darauf, nach Brčko zurückzukehren, wo die Serben mit Duldung der amerikanischen „Vermittler“ Tausende ihrer Landsleute ansiedeln. In Mostar waren muslimische Familien erneut zur Flucht gezwungen, während sich die kroatische Miliz mit der Nato- Schutztruppe anlegt. In Anbetracht der allgemeinen Destabilisierung auf dem Balkan sind diese neuerlichen Rückschläge bei der Umsetzung des Dayton- Abkommens besonders alarmierend.

Von JEAN-YVES POTEL *

Angesichts der Demonstrationen in Serbien, Bulgarien und Albanien sind viele Beobachter zu dem Schluß gelangt, daß die Gleichzeitigkeit der Krisen im Süden des Balkan kein Zufall ist. So unterschiedlich die Motive in den einzelnen Ländern sind, die Unruhen haben sich eindeutig auch wechselseitig inspiriert. Zu der Serie von Protestversammlungen gegen eine unfähige und korrupte Regierung in Sofia hatten die täglichen Demonstrationen der Opposition in Belgrad angeregt, mit denen die Anerkennung des Wählerwillens gefordert wurde. Im übrigen gab es Verbindungen zwischen den Studentenbewegungen, die in beiden Hauptstädten eine sehr aktive Rolle spielten. Die Albaner, die bei den „Pyramidengeschäften“ der Geldspekulanten alles verloren hatten, begannen nach dem Vorbild der Oppositionellen in Sofia einen Marsch auf das Zentrum von Tirana, um den Rücktritt von Präsident Berisha zu fordern, der für die allgemeine Korruption verantwortlich gemacht wird.

Nachdem anfängliche Versuche, die Bewegungen zu zerschlagen, zu blutigen Zusammenstößen in allen drei Hauptstädten geführt hatten, mußten die Regierenden schließlich die wichtigsten Forderungen erfüllen: Am 11. Februar 1997 verabschiedete das serbische Parlament ein Gesetz, das der Opposition die politische Macht in den Städten überließ, wo sie die Wahlen im letzten November gewonnen hatten. Am 4. Februar vereinbarte Petar Stojanow in Bulgarien mit allen Parteien vorgezogene Parlamentswahlen für April 1997. Die albanische Regierung schließlich sah sich am 5. Februar gezwungen, eine Entschädigung der geprellten Sparer zu verkünden, hat dieses Versprechen allerdings nicht eingelöst. Die begrenzten Erfolge der Opposition bedeuten jedoch keine Lösung der Krisen: Solange keine andere Politik gemacht wird, bleibt die Bevölkerung im Zustand der Verzweiflung stecken, der jederzeit in Empörung umschlagen kann, wie die Ereignisse in Südalbanien deutlich machen.

In allen drei Ländern artikuliert sich in der Hoffnung auf Demokratie oder in der Empörung über betrügerische Machenschaften zwar eine allgemeine gesellschaftliche Aufbruchstimmung, aber das sollte nicht über die Unterschiede hinwegtäuschen.

In Serbien versucht eine Gesellschaft, die gerade einen Krieg hinter sich hat, ihrem kollektiven Wahn zu entrinnen. Obwohl die Haltung der Opposition nach wie vor nicht eindeutig ist – mit den nationalistischen Massenaufmärschen, auf die sich Slobodan Milošević stützte, hat die gegenwärtige Bewegung nichts gemein. Ihre Mitglieder sind jung, ihre Radikalität, ihr Einfallsreichtum und die Qualität ihrer politischen Forderungen lassen erkennen, daß sich hier ein neues kollektives Selbstverständnis herausbildet. Vor dem Hintergrund der Beendigung der Kämpfe in Bosnien scheint eine Öffnung zur Demokratie möglich. Wer drei Monate lang ununterbrochen demonstriert, muß handfeste Gründe haben. Ausgangspunkt dieses Umschwungs, der zweifellos eine erste Erschütterung des ethnokratischen Prinzips bedeutet, war die Auflehnung in den Städten, wo die Bevölkerung am härtesten von den Folgen des Krieges, der wirtschaftlichen und sozialen Auflösung betroffen ist.1

Bulgarien wird von der gleichen Unzufriedenheit erschüttert, doch hier sind die Forderungen der Bevölkerung anderer Natur. In ihrer Empörung über die Hyperinflation und ihre vielfältigen Auswirkungen verlangten die Demonstranten Neuwahlen und „echte Reformen“. Eine Zeitung in Sofia, die auf die Ähnlichkeit mit den „Bildern von Belgrad“ und der „Haltung der serbischen Opposition“ hinwies, verweist damit auf die Verzweiflung der Menschen: „1996 nahm man den Bulgaren nicht nur die Mittel zum Leben, sondern sogar die Hoffnung auf eine Normalisierung der Verhältnisse.“2

Die Bürde der Unterentwicklung

VON der gleichen Verzweiflung sind die unzähligen Albaner erfaßt, die geglaubt hatten, einen raschen und leichten Ausweg aus der Misere zu finden, und sich dann nur betrogen fanden. Mit dem Versprechen eines monatlichen Zinsertrages von 35 bis 100 Prozent auf ihre Kapitaleinlagen wurde ein Drittel der Bevölkerung mit den „Finanzierungspyramiden“ an der Nase herumgeführt und um fast eine Million Dollar geprellt. Die Proteste, deren Gewalt dem Ausmaß des Betruges entspricht, waren natürlich ein Glücksfall für die Opposition der ehemaligen Kommunisten, die es sich nicht nehmen läßt, auf die Verbindungen zwischen einzelnen Betrügerfiguren und der regierenden Demokratischen Partei hinzuweisen.

Unterschiedlich sind die Ereignisse auch, was ihre politische Tragweite betrifft. Während sich in Belgrad die Menge – vorläufig? – mit der Anerkennung der Wählerentscheidung zufriedengibt und die Protestbewegung in Sofia die Wahlergebnisse angefochten und Neuwahlen durchgesetzt hat, stellen die Rebellen in Tirana alles in Frage, Parlament und Präsident inbegriffen. Doch bei allen Unterschieden zeigt diese Welle des Aufbegehrens auf dem Balkan auch eine gewisse Gleichförmigkeit, vor allem, wenn man sie mit den gemäßigteren Bewegungen in Mitteleuropa vergleicht. Man könnte fast davon sprechen, daß sich hier ein besonderer Weg aus dem Kommunismus abzeichnet.

In ganz Osteuropa hat das Ende der „Volksdemokratien“ zur Abschaffung des Einparteienstaats und zum Abbau der zentralisierten Wirtschaft geführt. Vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Zusammenbruchs (mit drastisch gesunkenem Bruttosozialprodukt und Konsumniveau, begleitet von Hyperinflation) und der ideologischen Verwirrung führte die Entwicklung geradewegs zu Unordnung und Interessenzersplitterung, zum Zerfall der sozialen Kräfte, zur Auflösung von Identität und Legitimität. Während der ersten Jahre ging es mehr um Politik als um Wirtschaft: Es galt, wieder eine rechtmäßige Zentralgewalt einzusetzen, die in der Lage war, die für eine (Wieder-)Herstellung des Kapitalismus erforderlichen Reformen durchzuführen. Je geschlossener der Konsens, auf den die Regierungen bauen konnten, um so drastischer waren die Maßnahmen, die häufig auch erhebliche Risiken enthielten: In Polen genoß die Solidarność ein Ansehen, das allenfalls mit dem Glauben der Ostdeutschen an die Mark vergleichbar war; Ungarn und Tschechen waren vorsichtiger, aber auch großsprecherischer; in der Slowakei und in Rumänien dagegen wurde der Prozeß der Umstrukturierung mehrmals unterbrochen, was nicht ohne negative Konsequenzen blieb.

Ab 1992/93 kam das Wirtschaftswachstum wieder in Gang. Die europäischen Finanzhilfen und die Investitionen aus dem Westen dienten – außer in Ostdeutschland – lediglich der Stimulierung, wenn nicht gar der ideologischen Vereinnahmung, während die wesentlichen Entscheidungen über den wirtschafts- und sozialpolitischen Kurs den jeweiligen Regierungen überlassen blieben. So mußte etwa die berüchtigte polnische „Schocktherapie“ seit 1992, unter dem Druck von Streiks und anderen Protestbewegungen, mehrfach unterbrochen werden. Václav Klaus wiederum zögerte trotz seiner sehr liberalen Grundhaltung keineswegs, die tschechische Landwirtschaft vor der europäischen Konkurrenz zu schützen. Und in Ungarn mußten erst die Altkommunisten der MSZP wieder an die Macht gelangen, ehe sich drastische Sparmaßnahmen durchführen ließen.

Die Volkswirtschaften Mitteleuropas integrieren sich zunehmend in den Weltmarkt, ohne – vorerst zumindest – allzuviel Unsicherheit und Elend in den Westen zu exportieren, zugleich ist eine gewisse Stabilisierung der demokratischen Regierungen zu verzeichnen. Allerdings sind diese ersten Erfolge noch keine sichere Basis, denn in den betreffenden Ländern besteht nach wie vor die Neigung zu Selbstabkapselung und populistischer Demagogie – Tendenzen, die durch eine falsche Integrationsstrategie in die europäische Gemeinschaft bestärkt werden könnten.3

Demgegenüber ist die Entwicklung auf dem Balkan wesentlich ungewisser, selbst in den Ländern, die nicht direkt in den Krieg in Bosnien verwickelt waren. Die Gruppen, die aus dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems hervorgegangen sind, sahen zwei Möglichkeiten, ihre Macht zu konsolidieren: Die einen entschieden sich für den Wiederaufbau ihrer ausgebluteten Wirtschaft und konzentrierten sich daher mehr auf innenpolitische Fragen, die anderen griffen auf den Fundus ihrer nationalen Ideologien zurück (Groß-Serbien, Groß-Kroatien, Groß-Albanien, Groß-Bulgarien), um die Aufmerksamkeit auf außenpolitische Ziele zu lenken – selbst um den Preis der Entfesselung eines Krieges. Während die serbische Regierung sich für die zweite Option entschied und dabei etliche Rückschläge einstecken mußte, fehlten dafür in Bulgarien und Albanien die Mittel und sicher auch der politische Wille.4 In diesen beiden Ländern ist es aber auch nicht gelungen, die innenpolitische Situation zu stabilisieren, die auch dann unsicher und unübersichtlich blieb, wenn man sich dabei, wie in Tirana, autoritärer Methoden bediente.

Warum vollzieht sich dieser Übergang, der in Mitteleuropa offenbar weitgehend geschafft ist, auf dem Balkan so viel mühsamer? Zwei Hauptfaktoren erklären die Schwierigkeiten in dieser Region: die wirtschaftliche Unterentwicklung und die Besonderheit ihrer Geschichte.

Die Länder, von denen hier die Rede ist, bilden die ärmste Region Europas. Vor dem Krieg in Bosnien ging es Serbien nicht schlecht: Das Bruttosozialprodukt pro Einwohner (1991 lag es bei 5400 Dollar) entsprach dem von Polen oder Ungarn. Heute liegt es unter 1000 Dollar, auf dem Niveau von Bulgarien oder Makedonien – nur das Bruttosozialprodukt in Albanien ist mit 500 Dollar noch geringer.5 Hinzu kommt, daß die ganze Region aus Gründen, die von Land zu Land verschieden sind, in eine soziale und wirtschaftliche Krise verstrickt ist, welche die katastrophalen Lebensbedingungen immer weiter verschlimmert.

In Albanien hatte es allerdings seit 1993 deutliche Anzeichen für eine Erholung der Wirtschaft gegeben, und 1995 lag das Wirtschaftswachstum bei 13,4 Prozent. „Das überraschende Wachstum ist vor allem den guten Ergebnissen in der Landwirtschaft zu verdanken, hinzu kommt ein leichtes Nachlassen der Rezession in der Industrie, und nicht zu vergessen die entscheidende Rolle der Überweisungen von albanischen Arbeitern im Ausland (1995 waren es 380 Millionen Dollar), was sich vor allem im Einzelhandel sowie im Dienstleistungs- und Bauwesen niederschlägt.“6

Dieser Aufschwung basiert jedoch allzusehr auf äußeren Faktoren (ausländischen Hilfsgeldern und Krediten, Subventionen des IWF, zurückfließendes Kapital aus dem Ausland), so daß die Wirtschaft den Ruf, auf ausländische Hilfe angewiesen zu sein, unmöglich überwinden kann. In der Tat bleibt die Mobilisierung der produktiven Kräfte des Landes unzureichend. Die Unterschiede zwischen Produktion und Spekulation verschwimmen so sehr, daß der wahnhafte Glaube der Albaner an die kapitalistische Geldvermehrung durch betrügerische Unternehmen ausgebeutet werden kann, mit den bekannten katastrophalen Konsequenzen. Weder die Regierung, die das Ausmaß dieser Besessenheit unterschätzte, noch die Zentralbank, die schließlich einzelne „Pyramiden“ untersagte, können diese Situation unter Kontrolle bringen.

In Bulgarien kam die Wirtschaft überhaupt nicht in Schwung: Bis 1994 ging die Industrieproduktion ständig zurück, erst dann zeichnete sich eine langsame Erholung ab. Doch die Hoffnungen scheiterten am unkontrollierten Währungsverfall –, und im Verbund mit der politischen Krise sorgte die Spirale der Hyperinflation für den Rest. Hinzu kommt, daß das kleine Land auch mit den vergifteten Altlasten fertig werden muß, die auf seinen Sonderstatus im „sozialistischen Lager“ zurückgehen: Bulgarien war hinsichtlich seiner Energieversorgung weitgehend von der UdSSR abhängig und hoch verschuldet (10 Milliarden Dollar im Jahre 1990).

Ein weiteres Handicap bedeutete für Sofia die Embargopolitik gegen drei seiner Handelspartner: den Irak, der seine Schulden in Form von Erdöl zurückgezahlt hatte, Serbien, und, in geringerem Maße, Makedonien, dem Griechenland eine Zeitlang den Zugang zum Hafen von Thessaloniki blockiert hatte. Doch weder diese Umstände noch das „Ausbleiben von Reformen“ können den Grad an politischer Instabilität rechtfertigen oder erklären, wieso es mehreren Regierungen nicht gelungen ist, irgendeinen wirtschaftspolitischen Kurs zu bestimmen – inzwischen muß man sich schon fragen, wer eigentlich über wirtschaftliche Macht verfügt. Das Grundproblem liegt „in der Unfähigkeit des Staates, die eigenen Unternehmen zur Einhaltung der Gesetze, privater Verträge und einer minimalen finanziellen Disziplin zu zwingen“7 .

Unterentwicklung, Desorganisation und Armut bilden ganz offensichtlich den Nährboden der „Schattenwirtschaft“ mit ihren Interessenverflechtungen, mit seinem Klientelismus und all jenen undurchsichtigen Geschäften, die von den Medien pauschal unter „Mafiawirtschaft“ geführt werden. Dabei muß man allerdings unterscheiden zwischen Gruppen, die sich durch Verbrechen, organisierte Erpressung und Handel mit Waren wie Waffen, Drogen, Prostitution und so weiter bereichern, und denen, die ihre Stellung in der Politik oder Behörden ausnutzen, um Geschäfte zu machen. Manchmal sind sie identisch, doch die Konsequenzen ihrer Handlungen sind, wie man in Mitteleuropa beobachten kann, für die Volkswirtschaft nicht dieselben. In den ehemals kommunistischen Ländern stammen die meisten großen Vermögen aus mehr oder weniger ehrlichen Geschäften, einer Vermischung öffentlicher und privater Interessen, „insider trading“ und Spekulationen. Hier kommt es selten vor, daß ein Kleinsparer sein Sparschwein schlachtet, um eine Fabrik zu kaufen. Die erfolgreichen Glücksritter dieser primitiven Akkumulationsphase haben sich zumeist rasch in ehrbare Kapitalisten verwandelt.

Diese Gruppen unterscheiden sich vor allem danach, ob sie ihr Kapital im eigenen Lande oder im Ausland investieren. Im Fall von Bulgarien, Albanien und offenbar auch Serbien, wo die Schattenwirtschaft mehr als die Hälfte des Bruttosozialproduktes ausmachen dürfte, wandert das Geld der Neureichen vermutlich ins Ausland, in Investitionen in Österreich, der Schweiz, Frankreich oder Italien. Während das Privatkapital aus dem Land gebracht wird, bleiben paradoxerweise 70 bis 80 Prozent der großen Unternehmen, die sich alle am Rande des Ruins befinden, weiterhin im Besitz des Staates.

Aber die Besonderheiten, die sich bei der Ablösung des Sozialismus im Süden des Balkan zeigen, sind auch von politisch-kulturellen Faktoren bestimmt. Die politische Kultur ist das Erbe der osmanischen Herrschaft und der orthodoxen Tradition. Diese sind einerseits geprägt durch eine besondere Verflechtung von Religion und Politik, andererseits durch das Festhalten an den Traditionen der jeweiligen nationalen Gemeinschaft. Paul Garde weist darauf hin, daß „die Struktur des osmanischen Reiches, den Vorschriften des Islam folgend, so angelegt war, daß alle Einwohner nach ihrer religiösen Zugehörigkeit ihren Platz fanden. (...) Daher stammt die noch heute unter den Völkern verbreitete Idee, daß Gebiete, und nicht nur die Bewohner, die sich darauf befinden, einer bestimmten Religion angehören.“ Diese Tradition spielt nicht nur bei den „geopolitischen Visionen“ eine Rolle, sie hat auch den geschichtlichen Sonderweg des Balkan mitbestimmt: „Über 500 Jahre hat sich im Balkan die Tendenz herausgebildet, Personen nach ihrer Zugehörigkeit zu religiösen Gemeinschaften zu definieren, die ein sehr ausgeprägtes Selbstverständnis haben und einander ausschließen. Diese Grundzüge einer Balkanmentalität bilden den Boden, auf dem das seit dem 19. Jahrhundert aus Europa importierte nationalistische Gedankengut gedeihen konnte.“8

Das galt auch für die kommunistischen Parteien und die erfolgreiche Konsolidierung ihrer Macht, könnte man hinzufügen. Denn sie haben sich das System der mediterranen Clans und Großfamilien – einschließlich seiner Hierarchie, seiner internen Solidarität und seiner rigiden Ausgrenzung – bei der Strukturierung ihres Machtapparates zunutze gemacht, was sie allerdings nicht daran hinderte, alle unabhängigen Organisationsformen in der Gesellschaft zu bekämpfen. Diese Zweigleisigkeit ist in Albanien auf die Spitze getrieben worden. „In der Art, wie das Land regiert wurde, trat die Clanidee ganz offen zutage“, schreibt Jean-Paul Champseix.9 „Hier gab es keine Nomenklatura wie in den anderen Ländern des Ostens, sondern eine Regierungselite, die aus etwa zwanzig verwandtschaftlich miteinander verbundenen Clans bestand.“ Gleichzeitig aber „wurde der Clan mit gutem Grund von der Regierung als das letzte Hindernis betrachtet, das die bürgerliche Gesellschaft der politischen Macht in den Weg stellte. (...) Während sie also konsequent die traditionellen Großfamilien zerschlugen, waren die Machthaber bemüht, die so entstandene emotionale und soziale Lücke zu ihren eigenen Gunsten zu füllen, indem sie versuchten, die Vater- und Clanidee auf die Ebene des Regierungsoberhaupts und des ganzen Landes zu übertragen. Das Aussterben des Clans sollte zur Herausbildung einer absoluten Herrschaft und eines Nationalgefühls beitragen.“

Was ist davon, inmitten der Ruinen des kommunistischen Regimes, übriggeblieben? Für François Maspero10 ist es „das Gegenteil einer bürgerlichen Gesellschaft: eine Vetterngesellschaft. (...) Eine Gesellschaft der Absprachen, der verborgenen, selbstsüchtigen und exklusiven Solidaritäten, die auf dem gründet, was man von dem jahrhundertealten Grundstock der Clans hat retten können.“

Rumänien als hoffnungsvoller Sonderfall

DIESE besondere Form von Auflösung und Neubildung sozialer Organisationen und politischer Macht, die sich in Albanien zerrspiegelhaft vollzogen hat, findet sich unterschiedlich deutlich ausgeprägt in der gesamten Region. Natürlich waren auch im Norden die Familien, Kirchen und anderen Netzwerke eine Art Humus für den sozialen Zusammenhalt, eine Abgrenzung zwischen „uns und den anderen“, kurz, für eine „Gegengesellschaft“. Doch im Gegensatz zum Balkan diente dieses solidarische Gefüge von unten als Wiege der demokratischen Oppositionsbewegungen, die in der Regel nicht religiös waren. In Mitteleuropa herrschte eine strikte Trennung von Religion und Politik, die von der katholischen und der protestantischen Kirche respektiert wurde. Václav Havel fand dafür die schöne Formulierung, es handele sich um eine Gegengesellschaft der Bürger, „die in der Wahrheit lebten“.

Im Südosten Europas war Serbien das einzige Land, das eine solche Oppositionskultur aufzuweisen hatte. Leider gewann die nationalistische Fraktion die Oberhand, und jede Aussicht auf Demokratie ging in der kriegerischen Propaganda unter. Nach vierzig Jahren in der Isolation und ohne nennenswerte Opposition oder gar eine spontane soziale Bewegung (wie 1977 und 1987 in Rumänien) stand die Gesellschaft in Bulgarien und Albanien nach dem Zusammenbruch der Diktaturen so hilflos da, daß sich die ersten Nachfolgeregierungen aus dem kommunistischen Lager rekrutieren mußten.

Als in Tirana die Demokraten nach der Wahl Berishas zum Präsidenten die Regierung übernahmen, brachen sie zweifellos mit dem alten System, doch nicht mit dessen Methoden. In Bulgarien war die Union der demokratischen Kräfte, eine sehr gemischte antikommunistische Opposition, 1991 bei ihrem raschen Aufstieg zur Regierungsmacht nicht in der Lage, Zusammenhalt und Kompetenz unter Beweis zu stellen. Die ebenfalls in Gruppen aufgespaltene Sozialistische Partei Bulgariens, die die Union als Regierungspartei ablöste, hielt sich an die eingefahrene bürokratische Tradition und die politischen Sitten, die sie von der alten kommunistischen Partei übernommen hat. Und bis sie sich mit der SLD in Polen oder der MSZP in Ungarn messen kann, hat sie noch einen weiten Weg vor sich liegen.

Auch wenn die beiden Hauptmerkmale der „Übergangsphasen“ im südlichen Balkan – Unterentwicklung und politische Eigenheiten – offensichtlich nicht ausreichen, um die Region zu verstehen, so ziehen sie doch eine deutliche Trennlinie zwischen diesen Ländern und denen Mitteleuropas und akzentuieren nebenbei den Sonderweg Rumäniens. Hier schien sich ein ähnlicher Weg wie im übrigen südlichen Balkan abzuzeichnen, doch die Siege der Opposition in allen drei Wahlen des letzten Jahres (den Kommunal-, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen) eröffnen nunmehr die Aussicht auf eine andere Entwicklung.

Nach einer stürmischen Übergangsphase als Folge der autoritären Maßnahmen der regierenden Exkommunisten sind die Oppositionsparteien vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Aufschwungs seit 1993/94 langsam reifer geworden. Zwei große Parteien – die Christdemokraten und die Liberalen Sozialdemokraten – haben mit der Partei der Ungarn in Rumänien (UDMR) eine Koalition der Mitte gebildet. Die Zukunft wird zeigen, ob dieser radikale Mehrheitswechsel eine Entwicklung des Landes nach mitteleuropäischer Art herbeiführen kann. Zumindest hat es ihm vorläufig die Leiden seiner Nachbarn im Balkan erspart.

Bukarest gibt also Anlaß zu vorsichtigem Optimismus. Wenn die rumänische Opposition das Spiel gewinnt – warum sollte es nicht auch den Oppositionsbewegungen in Serbien und Bulgarien gelingen? Neben dem wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbau sind es offenbar zwei Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, um die Entstehung einer echten Demokratie zu ermöglichen: der Schutz der bürgerlichen Freiheiten und die Unabhängigkeit der Medien. Es sind die beiden Faktoren, mit denen die zentralisierte Macht in aller Regel wuchert, und zugleich die Antriebskräfte einer lokalen Demokratie, Schlüsselgrößen für die Wiederherstellung des politischen Lebens. Diese beiden Forderungen standen im Zentrum der drei großen Massenbewegungen, von denen hier die Rede war. Ihre Erfüllung ist die Garantie für den Erfolg einer Alternative zu den autoritären und nationalistischen Versuchungen, die für die ganze Region noch immer drohen.

dt. Esther Kinsky

* Institut für Europäische Studien, Universität Paris- VIII.

Fußnoten: 1 Vgl. Catherine Samary, „Epreuve de force en Serbie“, Le Monde diplomatique, Januar 1997. 2 Kontinent, zitiert in Courrier international, Paris, 16.-22. Januar 1997. 3 Vgl. Jean-Yves Potel, „Mitteleuropa: Politische Stabilisierung und Aufschwung der Rechten“, Le monde diplomatique, November 1996. 4) Vgl. Christophe Chiclet, „Albanien: Pulverfaß, noch ohne Lunte“, Le Monde diplomatique, Dezember 1996. 5 Daten der Weltbank für den Zeitraum 1991-1995. Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum belief sich das Bruttosozialprodukt pro Einwohner auf 7160 Dollar in Tschechien, 5740 Dollar in Ungarn, 4880 Dollar in Polen und 2800 Dollar in Rumänien. 6 Edith Lomel: „L'économie albanaise 1995-1996“, Courrier des pays del'Est, La Documentation française, Paris, Mai/Juni 1996. 7 Jérôme Sgard, Le Monde, 22. Oktober 1996. 8 Paul Garde, „Les Balkans“, Paris (Flammarion) 1994, S. 66. 9 Jean-Paul Champseix, „Communication et tradition: un syncrétisme dévastateur“, in „Albanie utopie“, Paris (Autrement) 1996, S. 57. 10 François Maspero, „Balkans-Transit“, Paris (Le Seuil) 1997, S. 63.

Le Monde diplomatique vom 14.03.1997, von JEAN-YVES POTEL