11.04.1997

Eine soziale Errungenschaft wird abgewickelt

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Eine soziale Errungenschaft wird abgewickelt

Von FRANÇOIS CHESNAIS

ALS sich die Nationalversammlung im vergangenen Januar in erster Lesung mit der Gesetzesvorlage von Jean- Pierre Thomas zur Schaffung von renditeorientierten Pensionsfonds beschäftigte, versicherten die Fraktionssprecher von RPR und UDF, es gehe ihnen darum, den „Erwartungen unserer Mitbürger“ zu entsprechen, aber gleichermaßen auch den „Bedürfnissen unserer Unternehmen“. Es war eine elegante Umschreibung dafür, daß dieser am 20. Februar 1997 verabschiedete Gesetzestext auf Druck des Arbeitgeberverbands CNPF und unter tatkräftiger Beteiligung der Finanzgesellschaften – allen voran der Versicherungen – zustande gekommen ist.

In einem programmatischen Buch, das schon 1993 erschienen ist, hat der derzeitige Vorstandsvorsitzende des Crédit Lyonnais die „französische Rückständigkeit“ in einem Bereich angeprangert, den er und seine Standesgenossen sehr kritisch sehen: „Diverse Konkurrenten sind uns in dieser Hinsicht schon zuvorgekommen, und ihr Vorsprung wächst mit jeder Minute.“1 Nun ist es keineswegs so, daß Frankreich in puncto „Verminderung der Soziallasten“ hinterherhinkt – wie es die Unternehmensführungen gebetsmühlenartig wiederholen –, doch in anderer Hinsicht ist das Land weniger „fortgeschritten“, nämlich was die Hörigkeit der Gesellschaft gegenüber dem Diktat der Geldakkumulation anbetrifft. Das Kapital hat es in Frankreich bislang nicht geschafft, mehr als einen Bruchteil der enormen Beträge, die derzeit als „sozialisiertes Gehalt“ existieren, in Profit umzusetzen.

Ein Spezialist für Rentenmodelle hat dankenswerterweise auf folgende Tatsache verwiesen: „Welche Art der finanziellen Altersversorgung man auch in Betracht zieht – das Umlagemodell, das Renditemodell oder das Netz der Familiensolidarität –, die effektive Belastung für diese Versorgung fällt immer auf die erwerbstätige Bevölkerung zurück. Was je nach Modell unterschiedlich ausfällt, sind die Umverteilungsmechanismen und die Art und Weise, wie die Beteiligten das jeweilige Verfahren beeinflussen können“.2

Die Finanzierung der sozialen Versorgung (Gesundheit und Alter) beruht in Frankreich auf einer sehr eigenen und relativ radikalen Variante des sogenannten Umlagemodells. Ihre Ausgestaltung ist unmittelbar durch den historischen Kontext bestimmt, aus dem heraus sie entstanden ist. Dieser Kontext war die Befreiung von der deutschen Okkupation und die darauffolgende Volksfrontregierung. Jede Arbeit, die durch eine formelle Anstellung anerkannt wird, wird mit einem zweigeteilten Entgelt honoriert: dem direkten Gehalt und den Sozialabgaben.

Die Beiträge der Gehaltsempfänger werden zusammen mit den Arbeitgeberbeiträgen direkt in Sozialleistungen umgewandelt, also ohne in einen Fonds einzufließen. Insofern diese an die Beiträge gekoppelten Leistungen gleichzeitig mit den direkten Gehaltszahlungen aufgebracht werden, diesen (mit einigen Anpassungen) anteilsmäßig entsprechen und auf dieselbe Weise im Geldkreislauf aufgehen, stellen sie in der Tat eine Art „sozialisiertes Gehalt“ dar.

Die Besonderheit und die Stärke des französischen Systems beruhen seit 1946 darauf, daß es sich durch Beiträge finanziert, die auf der Arbeit basieren – und eben nicht durch Steuern oder gehaltsabhängige Sparleistungen. Für einen ungelernten Arbeiter oder eine Teilzeitkraft bedeutet die Beitragsleistung, daß man sie den Gehaltsempfängern und nicht den Bedürftigen zuordnet. Für einen leitenden Angestellten bedeutet der Zwang zum Beitrag, daß er als Gehaltsempfänger und Mitglied der „kollektiven Arbeitskraft“ gilt und nicht als Empfänger höherer Bezüge, der seine Ersparnisse einer Pensionskasse oder einem Pensionsfonds überantwortet. Und dasselbe Prinzip gilt auch für Kranke, Arbeitslose und Rentner.

Diese Regelung bedeutet im Hinblick auf die Akkumulation von Finanzkapital einen beträchtlichen Verlust. Die „Sozialisierung des Gehalts“ entzieht somit den Finanzmärkten einen Teil der im produktiven Sektor erzeugten Wertschöpfung und sorgt dafür, daß diese Beträge innerhalb des Konsumsektors (im weitesten Sinne) verbleiben. Die loi Thomas macht es in Zukunft möglich, daß sich das Kapital einen Teil dieses Geldes als „Sparleistung“ quasi frisch vom Lohnstreifen weg einverleibt. Die Durchsetzung der angeblich freiwilligen Anbindung an die privaten Modelle hängt in Wirklichkeit davon ab, wieviel Druck auf jeden einzelnen Arbeitnehmer ausgeübt wird. Die Unternehmen können sich davon nur Vorteile versprechen: Als Einzelunternehmen werden sie von Sozialleistungen entlastet, und als kollektiver Arbeitgeberverband profitieren sie von der Schwächung des Sozialversicherungssystems, das sich – solange es noch Bestand hat – der ungebremsten Entwicklung der privaten Kassen widersetzen wird.

Die Besteuerung der an Beiträge gekoppelten Sozialleistungen ist nur die logische Ergänzung dieser Politik. Als Ziel peilt man ein System an, das vom britischen Modell inspiriert ist. Es beruht einerseits auf den Ersparnissen der Gehaltsempfänger, die einen dauerhaften Arbeitsvertrag haben, andererseits auf der fiskalischen Abschöpfung einer gleichzeitig mit den Steuern zu leistenden Abgabe, deren Ertrag vom Staat verwaltet würde. Der Einstieg in dieses System wurde in Frankreich unter der Regierung Rocard durch die Einrichtung des Allgemeinen Sozialbeitrags (Contribution sociale généralisée, CSG) vollzogen. Die Regierungen Balladur und Juppé und ihre jeweiligen Parlamentsmehrheiten waren über diesen Einstieg in ein anderes System hocherfreut und machten die CSG zu einer Dauereinrichtung mit wachsendem Gewicht. In dieselbe Richtung gehen die von ihnen – besonders durch die loi Robien – eingeführten neuen Maßnahmen zur Besteuerung der Sozialabgaben.

Ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zu einem Modell, das auf der Kombination von Sparen und Besteuerung beruht, ist der erweiterte Spielraum, den die Arbeitgeber bei Kündigungen haben. Diese auf der Ebene der Rechtsprechung schon weitgehend durchgesetzte Freiheit wird zur Zeit noch durch einen Ausgleichsmechanismus gezügelt, der sich auf die Branchen und Unternehmen erstreckt, die in ein und dasselbe Sozialversicherungssystem eingebunden sind. Dieser Mechanismus verpflichtete nämlich bislang die Arbeitgeberschaft als ganze, die Folgekosten von personalpolitischen Entscheidungen kollektiv zu tragen.

Denn auch wenn die Unternehmen, was heutzutage häufig vorkommt, Maßnahmen wie Massenentlassung, Frühverrentung und direkte Gehaltskürzung zu ihrer personalpolitischen Standardstrategie machen, so sind sie gleichwohl verpflichtet, immer noch die Ruhestands- und Arbeitslosengelder oder die höheren Sozialleistungen an die Familien zu finanzieren. Das Kapital verliert damit – in Form von Sozialleistungen – die Summen, die es an direkten Gehaltszahlungen einspart. Die Arbeitgeber sind geradezu besessen von der Überlegung, wie sie sich diese Belastung vom Hals schaffen können. Seit den achtziger Jahren gehen sie das Problem systematisch an, indem sie gegen ihre Beitragspflicht wettern, um die Kostenbelastung zu „externalisieren“, also auf die Steuerpflichtigen (das heißt die aktiven und pensionierten Gehaltsempfänger) abzuwälzen. Aus diesem Grunde unterstützen die Arbeitgeber auch die loi Robien, die es ihnen möglich macht, Arbeitszeitverkürzungen durch Befreiung von Soziallasten zu finanzieren.

Was diesen Problembereich angeht, müßte man auch die Überlegungen einiger Parteiführer der linken Opposition und der Gewerkschaften noch weiter vertiefen. Wann immer sie in ihrer Argumentation den Begriff „Lasten“ verwenden, womit der Arbeitgeberanteil (aber auch der Arbeitnehmeranteil) an den Beiträgen zur Kranken- und Altersversorgung gemeint ist, und wann immer sie sich dafür einsetzen bzw. widerstandslos hinnehmen, daß ein Teil der Sozialleistungen besteuert werden kann, stellen sie das gesamte System zur Disposition, das nach der Befreiung errichtet wurde. Sie protestieren zwar heftig gegen die zusätzliche Belastung der Sozialversicherungskonten. Aber niemand sagt laut und deutlich, daß die Rentenfinanzierung das Verhältnis von Kapital und Arbeit in Frankreich von Grund auf gefährdet.

dt. Margrethe Schmeer

Fußnoten: 1 Jacques Peyrelevade, „Pour un capitalisme intelligent“, Paris (Grasset) 1993. 2 Emmanuel Reynaud, „Le financement des retraites: répartition et capitalisation dans l'Union européenne“, Revue internationale de Sécurité sociale, Bd. 48, Nr. 3/4, 1995. Die offensichtliche Tatsache, daß die Rentenzahlung nur eine Frage der Verteilung des BIP auf Aktiva und Inaktiva ist, thematisiert auch Malcolm Crawford in „The Big Pensions Lie“, New Economy, Frühjahr 1997, Institute for Public Policy Research, London, zitiert nach Martin Wolf, „To Fund or not to Fund“ Financial Times, 4. März 1997.

Le Monde diplomatique vom 11.04.1997, von FRANÇOIS CHESNAIS