13.06.1997

Marshallplan Revisited

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Marshallplan Revisited

Von IGNACIO RAMONET

VOR fünfzig Jahren, am 5. Juni 1947, verkündete General George Marshall, Außenminister der Vereinigten Staaten und Berater des (demokratischen) Präsidenten Harry Truman, in einer Rede in Harvard den Grundgedanken des berühmten Europäischen Wiederaufbauprogramms (European Recovery Program, ERP), das unter dem Namen „Marshallplan“ in die Geschichte eingegangen ist.

Fast überall in Europa herrschten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Not und Zerstörung. Allenthalben Hunger und Elend, Arbeitslosigkeit und Prostitution; dazu zig Millionen Flüchtlinge und Obdachlose. „Die Politik der Vereinigten Staaten muß darin bestehen, freien Völkern zu helfen, die dem Versuch widerstehen, von bewaffneten Minderheiten oder durch Druck von außen unterworfen zu werden.“ Die Hilfe, so fuhr er fort, müsse in erster Linie eine Wirtschafts- und Finanzhilfe sein und zur ökonomischen und politischen Stabilität beitragen.

Um ein solches Hilfsangebot zum Wiederaufbau ging es George Marshall in seiner berühmten Rede: „Die Lösung liegt in einer Durchbrechung des Circulus vitiosus und in der Wiederherstellung des Vertrauens bei den europäischen Völkern auf die wirtschaftliche Zukunft ihrer Länder und ganz Europas.“ Und weiter: „Unsere Politik richtet sich nicht gegen irgendein Land oder irgendeine Doktrin, sondern gegen Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos. Ihr Zweck ist die Wiederbelebung einer funktionierenden Weltwirtschaft, damit die Entstehung politischer und sozialer Bedingungen ermöglicht wird, unter denen freie Institutionen existieren können.“1 Tatsächlich: das Hilfsprogramm richtete sich an alle Staaten Europas, die den Krieg durchlebt hatten (mit Ausnahme des franquistischen Spanien), auch an die Sowjetunion und die Länder Osteuropas. Aber Molotow lehnte jede Beteiligung kategorisch ab. Damit waren die Fronten klar, und die osteuropäischen Staaten mußten nachziehen. Polen und die Tschechoslowakei, die zunächst interessiert erschienen waren, konnten nicht an dem Hilfsprogramm teilhaben. Auch die kommunistischen Parteien der westeuropäischen Länder schwenkten auf die Linie Moskaus ein und begannen, das Hilfsprogramm gleichfalls zu bekämpfen. Die Kommunistische Partei Frankreichs nahm das Programm zum Vorwand, um aus der Regierung auszuscheiden.

Welche Hintergedanken Washington auch immer bei dem Plan gehabt haben mag, im historischen Rückblick muß man ganz offensichtlich feststellen, daß der Marshallplan gewiß auch ein großer Akt der Solidarität gewesen ist. Ob man es will oder nicht: allein schon aufgrund seines Umfanges wie aufgrund seiner Funktionsweise stellt der Plan ein kühnes Modell internationaler Zusammenarbeit dar. Er beförderte den innereuropäischen Handel und die wirtschaftliche Integration, wurde also zum Embryo dessen, was später die Europäische Gemeinschaft werden sollte. Vier Jahre lang, von 1948 bis 1951, leisteten die Vereinigten Staaten finanzielle Hilfe im Wert von annähernd 14 Milliarden Dollar, im wesentlichen in Form von einmaligen Zuwendungen (das entspricht einem heutigen Gegenwert von 170 Milliarden Dollar).2 Diese Gelder ermöglichten in Frankreich, Italien, Belgien, Großbritannien, Deutschland und zwölf weiteren Ländern den Wiederaufbau von Schlüsselbereichen ihrer Nachkriegswirtschaft: Energieversorgung, Eisen- und Stahlproduktion, öffentliche Versorgungseinrichtungen, Transportwesen. Diese Gelder brachten Europa auf das Gleis eines dreißig Jahre währenden Wirtschaftswachstums, das es in seiner Geschichte nie zuvor erlebt hatte: des berühmten „Wirtschaftswunders“.

Der Marshallplan war zutiefst von den interventionistischen Vorstellungen des britischen Wirtschaftswissenschaftlers John Maynard Keynes und seiner „General Theory of Employment, Interest and Money“ geprägt, der zufolge ein Staat nicht alleine auf die Mechanismen des Marktes zu setzen habe, sondern mit all seinen Kräften danach trachten müsse, durch eine verbesserte Umverteilung der Einnahmen die Vollbeschäftigung zu garantieren. Ferner sollte der Plan dazu beitragen, unter den Europäern Anhänger für das Modell des New Deal zu gewinnen, also der US-amerikanischen Vorkriegs- Strategie, mit der die Roosevelt-Regierung erfolgreich die Rezession nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 überwunden hatte.

Während der Feierlichkeiten zum fünfzigsten Jahrestag des Marshallplans am 28. Mai dieses Jahres hat Präsident Bill Clinton bewußt das damalige ERP-Programm direkt auf die aktuelle Debatte über die Aufgabe des Staates in der Wirtschaft bezogen. Auch Jacques Delors, der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, hatte diesen aktuellen Bezug bereits thematisiert: Der Marshallplan – so Delors These – habe für die Idee gestanden, „daß auch der Wiederaufschwung einer Wirtschaft, die auf die alleinigen Kräfte des Marktes setzen will, mit einem gezielten Hilfs- und Unterstützungsprogramm einherzugehen hat, damit die vorhandenen grundsätzlichen strukturellen Hindernisse beseitigt werden können.“3

Die Aktualität dieses Themas ist ebenso frappierend wie die Blindheit der politischen Verantwortungsträger, die heute ausschließlich noch auf die (angeblich alles bereinigenden) Marktmechanismen schwören. Und die dabei vergessen, daß die Länder Südostasiens, deren Erfolge sie so lauthals preisen – wie etwa Süd-Korea und Taiwan –, über viele Jahre massive Unterstützungsleistungen erhalten haben, die einem regelrechten neuen Marshallplan durchaus gleichkommen und in diesen Ländern einen vergleichbaren Aufschwung herbeigeführt haben.

Das Elend, das heute in vielen Regionen der Welt anzutreffen ist, macht die volkswirtschaftliche Gesamtplanung erneut zu einer modernen Idee und erinnert an die Notwendigkeit staatlich gelenkter Entwicklungsstrategien. Man müßte also Dutzende von Marshallplänen in die Welt setzen. Angefangen in Frankreich, wo die neue Regierung gut daran täte, schnellstmöglich einen dringend nötigen Marshallplan zum Wiederaufbau der Vorstädte in Angriff zu nehmen, den Jacques Chirac schließlich einstmals versprochen hatte. Ganz zu schweigen von der Europäischen Union selbst, die, statt sich alle Hilfe vom freien Markt zu erwarten, ihren eigenen New Deal initiieren müßte, um die 18,5 Millionen Arbeitslosen und 50 Millionen Armen wieder in die Gesellschaft einzugliedern.

Die Länder der OECD sollten für drei weitere wichtige Großregionen umfassende Aufbauprogramme vorsehen: Zum ersten für den Maghreb mit seinen 80 Millionen Bewohnern, die von Islamismus, von Armut und von Gewalt bedroht sind; zum zweiten für Rußland und die ehemaligen Staaten der Sowjetunion, die in Krieg und Chaos versinken; und last, but not least für Afrika, den Kontinent der Armen, in dem eine halbe Milliarde Einwohner insgesamt über das Einkommen der 7 Millionen Schweizer Bürger verfügen ...

Den Geist des Marshallplanes neu entdecken heißt in einer Welt, die vom Egoismus regiert wird, stets daran zu denken, daß die Demokratie in einer Wüste der Armut nicht gedeihen kann.

Fußnoten: 1 Europa-Archiv, August 1947, Verlag für Internationale Politik. 2 Vgl. Newsweek, 26. Mai 1997. 3 „Le Plan Marshall et le relèvement économique de l'Europe“ Kolloquium in Bercy, 21.-23. März 1991), Paris (Ministère des finances éditions) 1993.

Le Monde diplomatique vom 13.06.1997, von IGNACIO RAMONET