13.06.1997

Kein Geld für die Mühen des Landlebens

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Kein Geld für die Mühen des Landlebens

Nach siebenjähriger Präsidentschaft des Sozialisten Ion Iliescu haben die Rumänen am 17. November 1996 einen neuen Präsidenten gewählt. Die Entscheidung für den Liberalen Emil Constantinescu bedeutet zugleich einen beschleunigten Übergang zur Marktwirtschaft. Der neue Regierungschef Victor Ciorbea hat im Februar dieses Jahres ein umfangreiches Strukturanpassungsprogramm vorgelegt, das sich an den Vorgaben des IWF orientiert und die Sanierung des öffentlichen Haushalts, beschleunigte und erweiterte Privatisierungen sowie eine auf Dezentralisierung abzielende Verwaltungsreform vorsieht.

Es bleibt jedoch abzuwarten, ob diese Maßnahmen ein längerfristiges Wirtschaftswachstum sichern können und ob die Bevölkerung der neuen Regierung auch dann die Treue hält, wenn einschneidende unpopulärere Maßnahmen fällig werden. Daran wird sich entscheiden, ob in Rumänien eine Krise vermieden werden kann, wie sie derzeit Albanien oder Bulgarien erleben. Die Regierung Ciorbea ist sich darüber im klaren, daß der Erfolg des angestrebten Wandels entscheidend davon abhängt, ob der Reformprozeß in den ländlichen Regionen gelingt. Dabei geht es um nichts weniger als den Wandel von der Tausch- zur Geldwirtschaft.

Von JEAN-YVES POTEL *

IN dem kleinen Dorf am Hang der Karpaten, unweit von Buzău, hat sich der Winter gerade erst verdrückt. Eine kalte Sonne liegt auf den geschnitzten Latten der Palisadenzäune. Nur selten taucht ein Fahrzeug auf und umkurvt die tiefen Schlaglöcher in der Landstraße. Bauern winken, auf dem Weg in ihre Weinberge, wo sie die Rebstöcke zurückschneiden. Noch regt sich keine Knospe, die sanfte Landschaft ist noch grau in grau. Die Menschen, die hier ihrem Alltag nachgehen, sind meistens alt.

„Wir haben Wassermangel“, klagt unser Gastgeber1 Ion, als er uns vor seinem Hof begrüßt. Der Hüne mit vierschrötigem Gesicht und sanften Augen bittet uns ins Haus. Es liegt an der einzigen Dorfstraße und macht einen modernen Eindruck. An der Tür begrüßt uns seine junge Frau Aurelia mit den beiden kleinen Töchtern, ist aber sogleich wieder verschwunden. Der Hausherr bittet uns ins Wohnzimmer, wo der Tisch gedeckt ist. Er serviert uns zuika, eine Art Schnaps. „Herzlich willkommen!“ Im Zimmer sind jetzt nur noch Männer. Ab und zu taucht Aurelias fragendes Gesicht an der Tür auf – ihr Mann scheint sie nicht wahrzunehmen, er muß uns seine Freunde vorstellen: einen Nachbarn, der ebenfalls Landwirt ist, und den Dorfschullehrer. Dann winkt Ion seine Frau wieder herein. Schweigsam lächelnd stellt sie die Schüsseln und Platten auf das weiße Tischtuch: überladen mit Aufschnitt, Schichtkäse, hartgekochten Eiern, Gemüse, Hammelwürstchen ... „Alles hausgemacht“, sagt Ion stolz und kredenzt den Wein aus eigenem Anbau: „De casa!“

Am nächsten Tag besichtigen wir die Weinberge, Hauptthema ist der Wassermangel. Eine Quelle, die das Dorf versorgen könnte, liegt elf Kilometer entfernt; nach langwierigen und fintenreichen Verhandlungen hat man ihnen eine Leitung zugesagt. Wie läßt sich hier – in einem Tal ohne Wasser – eine so vielfältige Agrarproduktion erzielen, mit Wein, Mais, Getreide und Viehwirtschaft? Überall stehen Becken und Kanister herum; immer wieder begegnen wir alten Frauen mit Eimern; sie schleppen das Wasser von einem Brunnen, der das halbe Jahr über versiegt ist. Und so gibt es für die morgendliche Rasur nicht mehr als eine Tasse heißen Wassers. Kaum vorzustellen, daß die Leute seit Jahrhunderten so leben, und doch ist dies ein repräsentatives Beispiel für die „mittelalterlichen Verhältnisse“, die in den ländlichen Gebieten Rumäniens herrschen.

Beharrliches Nachfragen macht einiges klarer. Das Wasser ist hier tatsächlich eine alte Frage – eine Machtfrage. Mit der Kollektivierung der Landwirtschaft nach dem Kriege hat man sie auf eigene Weise gelöst: Seither liegt das Dorf als Enklave innerhalb einer Staatskooperative von mehreren hundert Hektar; Ion arbeitete dort als Agraringenieur. Das Wasser für die künstlichen Brunnen, die die Höfe versorgen sollten, wurde mit Tankwagen geliefert. Diese Art der zentralen Wasserversorgung wurde bald zu einem Machtfaktor. Wer sich den Oberen fügte oder zu Gegenleistungen bereit war, wurde besser versorgt. Die bei den Bauern oft verhaßten Bürokraten und Techniker wiederum waren den Schikanen des – größeren und reicheren – Nachbarguts ausgeliefert. Die begrenzten Ressourcen mußten also aufgeteilt werden, was häufig zu Lasten der Kooperative ging.

Die Entkollektivierung 1991 vollzog sich mit radikalen Methoden. Dabei wurden viele alte Rechnungen beglichen. Jeder bediente sich; der Tierbestand des Guts wurde hastig aufgeteilt, die Gebäude zerstört und auch geplündert. Die Wasserversorgung brach zusammen. Die Fahrer der Tankwagen versuchten, sich als Kleinunternehmer zu etablieren; mangels Lkw mußten sie Pferde anspannen. „Man sieht sie viel öfter als vor 1990“, bestätigt Ion. Doch ihre Dienste kosten Geld. Der Lehrer hat sich gerade 4000 Liter liefern lassen (der monatliche Bedarf einer Familie, die Viehhaltung und Obst- und Gemüseanbau betreibt), so viel wie früher ein Landwirt in dieser Gegend monatlich einnahm.

Alle Familien im Dorf praktizieren zwei Lebensstile, zwei „Wirtschaftsformen“, die beide von den Reformen und Veränderungen nach 1989 in Rumänien gefördert wurden. Da ist zum einen das „materielle Leben“, um einen Begriff des französischen Historikers Fernand Braudel aufzugreifen: Erzeugnisse zirkulieren, Geschäfte werden abgeschlossen, ohne daß ein Gegenwert in Geld gezahlt wird. Dieser Tauschhandel hat eine lange Tradition; zu Zeiten der Planwirtschaft half er, die Verteilung der Güter zu regulieren; er war damals ein probates Mittel, um das Funktionieren der Kooperativen und Staatsgüter sicherzustellen; mal verhandelte man um Wasser, mal um irgendeine Vergünstigung, mal um Geräte oder Düngemittel.

Mit der Entkollektivierung und extremen Parzellierung des Bodens griff die Naturalwirtschaft weiter um sich. Jede Familie produziert im Schnitt tausend Liter Wein und einhundertfünfzig Liter zuika. Doch der Wein ist nicht lagerfähig. Trinken ihn also die Erzeuger selbst? „Etwa die Hälfte“, sagt Ion. Der Rest wird eingetauscht: Der Liter ist eine Art Währung geworden. Warum verkauft man den Wein nicht? „Das geht nicht, es gibt keinen Markt. Und kein Geld.“ Diese Selbstversorgerwirtschaft ermöglicht es, im Rhythmus der Jahreszeiten durchzukommen. Man wird satt, gewiß; doch reicht es kaum für neue Kleidung: Die Männer tragen alte Westen aus ungefärbter Wolle und schwarze Baskenmützen, die Frauen fadenscheinige Blusen. Alles vielfach ausgebessert.

Die Zukunft ist der Informatikkurs

DOCH dann, als wir nach Buzău aufbrechen wollen (die Stadt mit rund 50000 Einwohnern liegt etwa 30 Kilometer entfernt), steht unversehens eine überraschende Gestalt neben Ions Auto – eine hübsche junge Frau, geschminkt, neuer Tuchmantel, modischer Hut, rotes Handtäschchen: Aurelia, Ions Frau. Wir wollen ihr den Beifahrersitz anbieten, aber sie will gar nicht mitfahren. Unterwegs erklärt Ion, warum Aurelia nicht in die Stadt mitkommt: Sie besucht einen Informatikkurs.

Das ist die Zukunft, meint Ion und strahlt. Seine Pläne sind auf die andere Wirtschaftsform gerichtet: den Kapitalismus, der sich gerade (von neuem) etabliert. Ion ist jung und wagt Neues. Nach dem Abschluß der Landwirtschaftsschule begann er, als Techniker in der Kooperative zu arbeiten; 1985 bestand er die Aufnahmeprüfung an der Ingenieursschule in Bukarest; nach 1989 hat er sich selbständig gemacht. Acht Hektar familieneigenes Land hat er zurückerhalten; er baut Mais, Getreide und Wein an, hält Ferkel und Kälber. Zudem hat er billig eine kleine Mühle gekauft, wo alle Bauern des Dorfes ihren Mais mahlen können: 12 Prozent des Mahlgutes behält er als Entgelt; das grobe Mehl wird ans Vieh verfüttert, das feinere zu einer Art Polenta verarbeitet.

Mit 37 Jahren ist Ion schon stellvertretender Bürgermeister. Gegen eine Vergütung kümmert er sich um die Infrastruktur, um Wasser und das Telefonnetz, das vorerst nur drei Apparate hat: für Bürgermeister, Arzt und Polizei. Außerdem hat er den ersten Zusammenschluß von Weinbauern initiiert, die eine Art Berufsverband gründen wollen, um Zugang zum städtischen Markt zu gewinnen. Demnächst wird auch der erste Computer des Dorfes in seinem Haus stehen, und seine Frau wird die Kenntnisse und die Instrumente haben, um die Buchführung zu übernehmen. Was kostet ein Computer? „Fünfzehnhundert Dollar“, sagt Ion ohne zu zögern.

Doch für eine erfolgreiche Unternehmerkarriere reicht die Informatik nicht aus. Der primar (Bürgermeister) ist ein freundlicher Mann, älter als Ion; er trägt einen schmalem Schlips auf weißem Hemd, hat graues, sehr kurzgeschnittenes Haar, lebendige Augen und ein wettergegerbtes Gesicht. Er hört sich an, was Ion sagt, fährt sich mit der flachen Hand durchs Gesicht, mimt den Erschöpften: „Wir möchten in unserer Gegend dem Weinbau neue Impulse geben, die Gemeinde muß den Kleinbauern helfen.“ Dann äußert sich zum ersten Mal auch François Maurin, der französische Experte der Rumänischen Landwirtschaftsstiftung. Nach seiner Einschätzung sind hier alle Faktoren gegeben, um eine hochwertige Produktion zu erzielen: ausgezeichnetes Know-how und gute Rebsorten – und in der Nähe von Buzău sogar ein anspruchsvolles Zentrum für Forschung und Kelterung2 .

„Ja“, schaltet sich jetzt auch der Bürgermeister ein, „aber der Preisdruck ist zu stark, als daß wir die Produktion verbessern könnten. Alles, was man für den Weinbau braucht, ist sehr teuer, das gilt für Traktoren wie für Wasser!“ Die Ungleichheiten springen ins Auge in diesem großen Weingebiet, das für eine industrieähnliche Landwirtschaft ausersehen war und das man nun unter die Bauern aufgeteilt hat: Hier arbeitet ein Bauer mit seinem Traktor, daneben ein anderer mit seinen Ochsen. Auch die Parzellen sind unterschiedlich groß; absterbende Weinstöcke werden nicht ersetzt, andere sind von Krankheiten befallen. Der landwirtschaftliche Berater der Gemeinde, früher ein „kleiner Chef“ in der Kooperative, jammert uns die Ohren voll, aber es klingt ein bißchen geheuchelt. „Außerdem sind unsere Marktchancen gering“, ergänzt der Bürgermeister, „weil die Produzenten nicht die Ausrüstung haben, um Wein in größeren Mengen herzustellen und zu lagern.“ Zur Zeit keltern die Bauern nur für den Eigenbedarf; die restlichen Trauben verkaufen sie – zu sinkenden Preisen – an die Kooperative, die nach wie vor die Bedingungen diktiert.

Letzte Ausfahrt vor dem bulgarischen Weg

DAMIT sind wir beim Kern des Problems. Die Ökonomie Rumäniens ist keine echte Planwirtschaft mehr, aber auch noch keine echte Marktwirtschaft, und so wird sie durch bürokratische Relikte und widersprüchliche Interessen blockiert, die sich gegenseitig aushebeln. Nach wie vor werden die Trauben bei der Kooperative abgeliefert, die auch den Wein vermarktet. Vor allem dies verhindert, daß die Kleinbauern ihre Betriebe modernisieren können, zumal die Kooperative nicht gerade die kollektiven Interessen vertritt. Ion sagt: „Das Monopol, den Wein abzufüllen und zu verkaufen, ist gefährlich: ein strategischer Ansatzpunkt für den Schwarzhandel und Schmuggel mit Alkohol in unserer Region; es sind zwar nicht viele in der Kooperative, die so etwas machen, nur drei oder vier. Aber es geht um unvorstellbare Summen, sie verkaufen an die Japaner.“ Der Bürgermeister ergänzt: „Wenn sich das nicht ändert, wird der Wein aus unserem Dorf verschwinden. In diesem Jahr ist der Traubenpreis wieder gesunken. Weinbau bedeutet viel Arbeit, viel mehr als Mais- oder Getreideanbau. Vor 1989 zahlte der Staat für eine Tonne Trauben dreimal so viel wie für Getreide, inzwischen ist der Preis derselbe. Warum sollte man sich kaputtmachen, nur um Wein anzubauen?“ Das Ergebnis: immer häufiger ersetzen die Bauern den Wein durch Mais. Wie soll man aus dieser Klemme herauskommen? „Es gibt eine Hoffnung“, sagt der erst kürzlich gewählte Bürgermeister. Er gehört zur neuen politischen Mehrheit des Landes und ist überzeugt, daß die Regierung den Einzelbauern das Leben erleichtern wird. Im übrigen hat man gerade den Präfekten ausgewechselt, der in eine Korruptionsaffäre verwickelt war, und ein Gesetz zum Weinbau ist in Vorbereitung.

Etwa sechzig solcher Gesetze hat der neue Premierminister, Victor Ciorbea, versprochen, als erstes ein „Reformpaket“ von zwanzig Gesetzen für alle Bereiche. Doch mitunter ist seine Regierung ungeschickt; der Druck auf die neue Führung wächst, und einige Minister leisten sich ziemlich unkluge Äußerungen: Der eine prophezeit eine Senkung des Wechselkurses gegenüber dem Dollar und löst damit eine Welle der Währungsspekulation aus; ein anderer kündigt überraschend eine neue Steuer an.

Ähnlich fatal wirkte auch der Antrag auf Änderung des Agrargesetzes, der die maximale Fläche, die an rechtmäßige Eigentümer zurückgegeben werden kann, von zehn auf fünfzig Hektar erhöht sehen will. Ein Proteststurm war die Folge: „Damit soll der Großgrundbesitz, wie er zwischen den beiden Weltkriegen existierte, wieder eingeführt werden“, protestiert der abgewählte Präsident Ion Iliescu. Ion Diaconescu, Chef der Christlich-Demokratischen Nationalen Bauernpartei des derzeitigen Premiers, geht auf Distanz zu den Abgeordneten, die den Antrag eingebracht haben. In den Weinfeldern bei Buzău war ein alter Mann auf uns zugekommen und hatte uns mit der Rebschere in der Hand bedroht. Ion beruhigte ihn – der Mann hatte gemeint, wir seien im Auftrag des einstigen Besitzers gekommen, der seine vierzig zusätzlichen Hektar reklamiert.

„Nehmen sie die Unerfahrenheit der Minister und das Durcheinander der ersten Monate nicht allzu tragisch“, rät Petre Roman. Der neue Senatspräsident und Chef der anderen Partei der Regierungskoalition, der Sozialdemokratischen Union (USD), zeigt sich amüsiert: „Ich war gerade bei Pierre Mauroy [dem ehemaligen französischen Ministerpräsidenten], er hat mir von den Patzern erzählt, die seine Minister 1981 machten; jetzt bin ich ganz beruhigt.“ Er ist ein Charmeur, dieser zweite Mann im Staat. Er glaubt an die Effizienz der Reformen und möchte Europa und der Nato Garantien bieten. „Es ist klar, daß wir bürokratische Strukturen erben, die für Reformen nicht durchlässig sind, mit raffgierigen Interessengruppen und mafiosen Gruppierungen. Man kann das in der Landwirtschaftsverwaltung und in den Banken beobachten, aber das ändert sich bald. Entscheidend wird sein, daß wir die Machtstrukturen dezentralisieren und die Entscheidungen transparent machen.“

Etliche Direktoren mußten bereits den Hut nehmen, betroffen war die Mehrzahl der zentralen Verwaltungen. Auch wurden bereits in 35 der 41 Präfekturen die Leitungskräfte abgelöst. Remus Opis, der jugendliche Generaldirektor des Kabinetts mit Ministerrang, der für diese Amtsenthebungen verantwortlich zeichnet, kann seine peinliche Lage nicht verheimlichen. Er weiß, wie ein demokratisch funktionierender öffentlicher Dienst aussehen müßte, aber er weiß auch, daß loyale und kompetente Beamte nicht vom Himmel fallen. „Wir wollen Schluß machen mit der Methode, Posten auf politischer Basis, das heißt nach den Wahlergebnissen, zu vergeben. Momentan werden zwei Gesetze vorbereitet. Das eine legt den Status, die Aufgaben und den Einstellungsmodus für hohe öffentliche Ämter fest. Das zweite soll die Finanzen der Gebietskörperschaften neu regeln und ihnen die notwendigen finanziellen Mittel gewähren. Von diesem Gesetz erwartet man sich viel. Gegenwärtig führen wir die Dezentralisierung durch und koordinieren auf der Ebene der judete die Leitung der wichtigen Verwaltungen.“

Die Mehrheit der Bevölkerung scheint das konsequente Konzept der neuen Regierungsmannschaft gut zu finden. Nachdem Victor Ciorbea im März sein Programm bekanntgegeben hatte, wurde er bei einer Umfrage von 67 Prozent der Befragten positiv bewertet; völlig einverstanden erklärten sich allerdings nur 28 Prozent.3 Anders gesagt: Die Bevölkerung ist kritisch zustimmend. Das bestätigen auch andere Indikatoren: In den Regionen, wo die stärksten Umstrukturierungen drohen, war das Wahlverhalten in erster Linie von sozialen Motiven bestimmt. Umfragen unmittelbar nach Stimmabgabe ergaben, daß Iliescu zwei Drittel seiner Wählerschaft gerade in den nordmoldauischen Bezirken verlor, wo er traditionell seine Stammwähler fand. Die anderen Kandidaten schienen die Forderungen im sozialen Bereich eher zu erfüllen.

Die neue Regierung genießt offenbar eine Schonfrist, aber die ist prekär. Wie lange sie anhält, hängt von der Fähigkeit der Bevölkerung ab, die ihr abverlangten Strapazen zu verkraften. Petre Roman zweifelt nicht am Erfolg der Regierung, „wenn es uns gelingt, rechtzeitig zu verwirklichen, was wir versprochen haben“. Doch das, was an sozialen Maßnahmen auf den Weg gebracht wurde, ist offenbar recht bescheiden. Selbst die Gewerkschaften, die der gegenwärtigen Regierungsmehrheit nahestehen, reagieren böse. Bogdan Hossu, der Präsident des nationalen Gewerkschaftsverbandes Cartel Alfa, warnt die Regierung immer eindringlicher vor einer Unzufriedenheit, die um sich greifen könnte. Er erhebt Forderungen, die vor allem auf die Kaufkraft und die soziale Absicherung zielen. Doch trotz solcher Drohgebärden weist alles darauf hin, daß es ihm mehr um eine gute Verhandlungsposition geht. Schon bald könnte ein nationales Abkommen mit den Gewerkschaften zustande kommen. In der Umgebung des Präsidenten resümiert man die Situation ein wenig voreilig mit dem Satz, den ein Arbeiter der Galati-Werke – eines großen Eisenhüttenkombinats, das kurz vor dem Bankrott steht – während des letzten Wahlkampfs einem Politiker zugerufen hat: „Packt es an, wir sind ständig am Rande der Verzweiflung, weil sich nichts ändert, das ist kein Leben.“

Der stärkste Widerstand gegen Veränderungen dürfte in nächster Zukunft von den politischen und Wirtschaftskreisen ausgehen, die sich unter dem früheren Präsidenten konsolidieren konnten. François Ettori, Chef der Mission der Weltbank in Bukarest, hat die Ausarbeitung von Ciorbeas Regierungsprogramm aus nächster Nähe begleitet; seiner Auffassung nach dürfte Rumänien sich allmählich auf einen mitteleuropäischen Weg zubewegen. „Ich bin zuversichtlich, daß die Bevölkerung akzeptiert, was notwendig ist, und der Premierminister ist ein sehr kompetenter Mann. Es ist ihre letzte Chance, den bulgarischen Weg zu vermeiden. Die einzige Unbekannte ist die Frage, ob die Verwaltung in der Lage ist, die Reformen umzusetzen.“ Womit er wohl nicht allein die Qualifikation der Beamten meint.

Im allgemeinen sind die mittleren Ränge in den Ministerien und Bezirken zweitklassig besetzt, auch Korruption ist anzutreffen. Auf lokaler Ebene dagegen gewinnt man bei privaten, aber auch öffentlichen Initiativen einen sehr viel günstigeren Eindruck. Doch es gibt drei mächtige Interessengruppen, die ihre Privilegien unbedingt behalten wollen: die Landwirtschaftsverwaltung, die auf ihrem alten Monopol sitzt; die Direktoren der großen Staatsunternehmen, die nicht selten öffentliche Gelder veruntreuen und in die privaten Unternehmen von Freunden umleiten; schließlich die Gas- und Ölmagnaten, die allerlei Deals mit Kollegen der ehemaligen UdSSR oder an internationalen Finanzplätzen abwickeln.

Anders als ihre Vorgängerin unter Nicolae Văcăroiu gilt die Regierung von Victor Ciorbea als nicht korrumpierbar.4 Dies ist ihr wichtigster Trumpf. Einige Korruptionsaffären kommen gerade auf den Tisch, hinlänglich bekannte Betrüger werden verhaftet. So wurde sogar Miron Cosma, oberster Chef der Bergarbeiter aus dem Jiu-Tal, vor Gericht gestellt. Seine Gefolgschaft hatte sich 1990 und 1991 nach Bukarest aufgemacht, um auf demonstrierende Studenten einzuprügeln; die Anklage lautet auf Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch die Umleitung von Zügen. Doch die Justiz hat in den Medien keinen guten Ruf, und da es ihr an Geld und Personal fehlt, kommt es zwischen dem Minister und den Staatsanwälten immer wieder zu polemischen Auseinandersetzungen über die Unabhängigkeit der Richter.

Die neue Regierungsriege muß solche Hemmnisse rasch beseitigen; zugleich muß sie auf die Wünsche einer stark verarmten Bevölkerung eingehen, die sich von der jüngsten Geschichte gedemütigt fühlt. Sind solche Hoffnungen unberechtigt? „Alles hängt von der Fähigkeit des Präsidenten ab, uns einen nationalen Stolz zurückzugeben“, sagt Gabriela Adamesteanu, Chefin der renommierten Wochenzeitung 22. Was das heißen soll? „Daß Rumänien ein normales Land wird, daß wir eine Nation wie jede andere sind.“

dt. Eveline Passet

* Institut d‘études européennes de l‘université Paris-VIII.

Fußnoten: 1 Der Autor begleitete im März 1997 eine Gruppe der Rumänischen Landwirtschaftsstiftung. Deren Aufgabe besteht darin, die rumänischen Bauern bei Projekten zur lokalen Entwicklung der Agrarwirtschaft zu beraten. Unterstützt von der Europäischen Union, wurde die Stiftung von einer regierungsunabhängigen Organisation initiiert, der „Opération Villages Roumains“, in der französische, belgische, niederländische, Schweizer und rumänische Landgemeinden zusammengeschlossen sind und der wir an dieser Stelle für die herzliche Aufnahme danken möchten. 2 In Petrosa. Dort sind an die hundert Menschen beschäftigt, darunter sieben hochqualifizierte Forscher; 400000 Hektoliter Wein werden hier pro Jahr produziert. 3 „Sind Sie mit dem Reformprogramm der Regierung einverstanden?“ – 28 Prozent antworteten mit „ja“, 39 Prozent mit „teilweise“ und 17 Prozent mit „nein“. Eine Umfrage von ESOP Omega in der Woche vom 17. bis 22. März 1997; Anzahl der befragten Personen: 1100. 4 ESOP Omega führte vom 24. bis 29. Januar eine Hausbefragung bei 1100 Personen durch. 55,7 Prozent der Befragten sind der Ansicht, daß die Regierung von Victor Ciorbea sich unnachsichtig und kompromißlos zeigen werde; 33,2 Prozent gehen davon aus, daß sie Nachsicht üben und nicht alle Fälle mit gleicher Elle messen werde, und 10,9 Prozent vermuten, daß sie Korruption dulden werde.

Le Monde diplomatique vom 13.06.1997, von JEAN-YVES POTEL