11.07.1997

Ein Tanzbär namens Nato

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Ein Tanzbär namens Nato

AM 27. Mai 1997 wurde in Paris das „Gründungsabkommen“ über die neuen Beziehungen zwischen Rußland und dem Nordatlantik-Pakt unterzeichnet und damit eine lange diplomatische Auseinandersetzung um die Nato-Osterweiterung beendet. Gleichzeitig wurden die Hegemoniebestrebungen der Vereinigten Staaten gegenüber Europa deutlich, aber auch das Scheitern der französischen Politik für eine „europäische Autonomie“. Auf der Nato-Gipelkonferenz, die am 8. und 9. Juli in Madrid tagt, sollten beide Ergebnisse bestätigt werden.

Von PAUL-MARIE DE LA GORCE *

Mit einer Neueinschätzung – einer sogenannten bottom-up review – haben die US-amerikanischen Politiker und Militärs ihre bisherigen strategischen Konzepte an die neuen Verhältnisse nach dem Ende des Ost-West-Konflikts angepaßt, ohne freilich die Existenz der Nato in Frage zu stellen, obwohl gerade sie ein entscheidendes Instrument des kalten Krieges war. Diese Revision befaßte sich vor allem mit dem Vorgehen bei regionalen Konflikten und dem Einsatz neuer Tarnkappen-Präzisionswaffen.

Nach langen Kontroversen sind sich nun über alle Gräben hinweg sämtliche Parteien, mit all den in ihnen vertretenen Denkrichtungen und politischen Strömungen, einig darüber, welches die Ziele der amerikanischen Strategie sein sollen.1 Einhellig geteilt wird eine Auffassung, die bereits im Wolfovitz-Bericht (benannt nach dem ehemaligen Unterstaatssekretär im Verteidigungsminsterium)2 formuliert wurde. Ihr zufolge besteht das vorrangige Interesse Washingtons darin, zu verhindern, daß erneut eine Macht auf den Plan tritt, die – wie seinerzeit die Sowjetunion – in der Lage wäre, die Vormachtstellung der USA zu gefährden.

In sämtlichen Publikationen werden als potentielle Gegner Rußland und – häufiger noch – China und Japan genannt, sowie Europa, sofern es sich zu einem unabhängigen, geschlossenen politischen Gebilde entwickeln sollte; vor allem Deutschland wird in diesem Zusammenhang explizit erwähnt. Zwar sollen die Waffen, die jene angenommenen Gegner ausschalten sollen, in erster Linie wirtschaftlicher, politischer und kommerzieller Natur sein. Es wird aber stets daran erinnert, daß die militärische Stärke ein wesentlicher Faktor für die Vormachtstellung der USA bleibt.

Entsprechend herrscht unter Politikern und Militärs Einvernehmen über den Umfang des US-amerikanischen Militärpotentials in der nächsten Zukunft. Die Streitkräfte sollen zwischen 80 und 90 Prozent der Stärke behalten, die sie während der letzten Phase des kalten Krieges hatten. Dafür wird ein Budget von 250 bis 270 Milliarden Dollar effektiver Ausgaben benötigt – das entspricht der Summe, die Deutschland, Frankreich, Japan, China und Rußland zusammen für ihre Militärhaushalte veranschlagen. Dieser finanzielle Aufwand soll Forschungen und Entwicklungen auf dem Gebiet jener neuen Generation von Waffen ermöglichen, die aus den immensen Fortschritten in der Kommunikations-, Observations- und Informationstechnologie hervorgegangen sind. Unter dem Begriff „Revolutionierung des Militärwesens“ bilden sie seit einigen Jahren das zentrale Thema in der gesamten amerikanischen Literatur zu Strategieproblemen und militärischen Fragen. Daran läßt sich der Vorsprung ablesen, den die Vereinigten Staaten und ihre Waffenindustrie auf vielen Gebieten sowohl gegenüber ihren Verbündeten als auch gegenüber ihren Gegnern gewonnen haben.

Infolge der grundlegenden Veränderungen des internationalen strategischen Kontexts wird heutzutage nicht mehr mit „zweieinhalb Konflikten“ gerechnet – also einem Hauptkrieg mit der UdSSR, einem zweiten Hauptkrieg mit China und einem regionalen Konflikt. Auch die Vorstellung von „anderthalb Kriegen“, wie während der Ära Nixon –, also einem Hauptkrieg mit der UdSSR oder mit China und einem regionalen Konflikt – hat ausgedient. Nun geht man davon aus, daß die amerikanische Armee auf zwei gleichzeitig stattfindende regionale Konflikte vom Ausmaß etwa des Golfkriegs reagieren können muß.

Ungeachtet dieser Entwicklungen geht es den Amerikanern heute ebenso wie schon in den vergangenen Jahrzehnten darum, ihre Vorherrschaft in drei für sie vorrangigen Interessenzonen zu sichern: im Nahen und im Fernen Osten und auf dem europäischen Schauplatz. Seit dem Golfkrieg weiß man, daß sich die Hauptachse der amerikanischen Militärpräsenz außerhalb des eigenen Kontinents vom europäischen Schauplatz auf jenen des Nahen Ostens verlagert hat. Die Gründe liegen auf der Hand: Es sind die andauernden Krisen in der Region; die Bedrohungen, denen sich die engsten Verbündeten Washingtons dort ausgesetzt sehen; die Spannungen mit dem Iran; die Blockade des Irak.3

Vorherrschaft per Fernlenkung

Angesichts der unaufhaltsam wachsenden Stärke Chinas hat Präsident Bill Clinton bei seinem letzten Treffen mit dem japanischen Premierminister und bei seinem Kurzbesuch in Süd-Korea im April 1996 unterstrichen, daß die amerikanische Militärpräsenz im Fernen Osten auf ihrem jetzigen Niveau beibehalten wird: rund 100000 Mann im asiatischen Südosten, 47000 in Japan – davon 27000 auf Okinawa – und 37000 Mann in Süd- Korea.

Doch besonders auf dem europäischen Kontinent hat das Ende des kalten Krieges Washington veranlaßt, seine strategischen Potentiale neu zu gewichten. An den hier getroffenen Entscheidungen läßt sich die neue amerikanische Sicherheitspolitik am besten ablesen. Statt die Rolle des Atlantischen Bündnisses und seiner Militärorganisation nach dem Zerfall des Ostblocks einzuschränken, haben die USA vielmehr versucht, diese noch zu verstärken. Die Reduzierung der Streitkräfte in Europa war nicht etwa Ausdruck eines verringerten Engagements, sondern, im Gegenteil, ein Mittel, die eigene Vormachtstellung zu untermauern.

In einer ersten Phase haben die Amerikaner durchgesetzt, daß die Nato gegebenenfalls auch außerhalb der geographischen Grenzen des Nordatlantikpakts eingreifen kann. Bei der Schaffung einer Schnellen Eingreiftruppe wurde eine Integration durchgeführt, die – auf Brigadenebene – stärker vorangetrieben wurde als in irgendeiner anderen der Nato-Einheiten. Doch ihren größten, früher fast unvorstellbaren Erfolg erzielte die amerikanische Diplomatie im Zusammenhang mit dem Konflikt in Exjugoslawien, nämlich die Anerkennung der Nato als „bewaffneter Arm“ der Vereinten Nationen: Der UN-Sicherheitsrat beauftragte die Allianz, die Resolutionen durchzusetzen, die er beschlossen hatte – notfalls auch mit militärischen Mitteln. Später wurde überdies vereinbart, daß die Nato-Streitkräfte auch die Umsetzung der Abkommen von Dayton und Paris überwachen würden.

Man wird die historische Bedeutung der Bosnien-Krise vor allem darin sehen müssen, daß die UNO selbst der Nato eine einmalige und spezifische Rolle zuerkannt hat – als wäre diese fortan in einem bestimmten Teil der Welt Garant für die internationale Ordnung. Seitdem hat die politische Klasse Amerikas die unmittelbar nach Beendigung des kalten Kriegs noch verbreitete Idee aufgegeben, die Rolle der UNO zu stärken.

Es gab in den letzten Jahren auch Gelegenheit festzustellen, mit welcher Entschiedenheit die Vereinigten Staaten an ihrer Autorität innerhalb des Atlantischen Bündnisses und seiner Militärorganisation festhalten. Ohne viel Mühe brachten sie den französischen Versuch zu Fall, ein europäisches Sicherheitssystem außerhalb der Nato ins Leben zu rufen: Nur Deutschland unterstützte halbherzig und mit großen Vorbehalten die Pariser Initiative. Als Präsident Chirac sich dafür stark machte, dieses „europäische System“ im Rahmen der Nato aufzubauen, konnte die amerikanische Diplomatie sicherstellen, daß dieses nicht ohne die Zustimmung, Hilfe und Oberaufsicht der Allianz, also der Vereinigten Staaten selbst geschieht. Noch aufschlußreicher war die kategorische Weigerung der USA, den Kommandobereich Europa-Süd einem europäischen Oberbefehlshaber zu unterstellen: In ihren Augen handelte es sich hier um die wichtigste strategische Zone, da sie die Scharnierstelle zwischen dem Atlantik, Europa und dem Nahen Osten darstellt.

Überdeutlich aber wird das amerikanische „Sicherheits“-Konzept für Europa anhand der Entscheidungen, die die Vereinigten Staaten im Zusammenhang mit der Nato-Osterweiterung getroffen haben. Diese Erweiterung bedeutete die Ausdehnung der Zone, die der Nordatlantikpakt seinem Schutz unterstellen wollte oder, in anderen Worten, die er seiner Kontrolle zu unterwerfen gedenkt. Zwar mußten die Wünsche einiger mittel- und osteuropäischer Staaten berücksichtigt werden, die sich durch eine Nato-Aufnahme gegen das Risiko absichern wollten, daß Rußland eines Tages seine Vormachtstellung wieder ausbauen will – auch wenn dies Risiko sehr hypothetisch ist. Doch die Sorge dieser Staaten harmonierte mit einem klar definierten Ziel Washingtons: nämlich zu verhindern, daß sich im Osten Europas erneut eine Großmacht herausbildet und somit eine neue russische Einflußsphäre entsteht.

Diese Politik stieß bei Boris Jelzin auf wenig Gegenliebe. Hierin vertrat er dieselbe Position wie die russische Diplomatie und die meisten russischen Parteien. Deren ablehnende Reaktion auf die Nato- Osterweiterung ließ denn auch nicht auf sich warten. Natürlich kamen auch persönliche Motive hinzu. Nachdem er so viele Anstrengungen unternommen und zahlreiche innenpolitische Widerstände beseitigt hatte, um die russische Außenpolitik so weit wie möglich an den wesentlichen Zielen der Vereinigten Staaten auszurichten, sah Boris Jelzin im Plan der Nato-Osterweiterung ein Zeichen des Mißtrauens. Seiner Ansicht nach sollte auf diese Weise die einstige Grenzlinie des kalten Krieges einfach weiter nach Osten verschoben werden. Ohne Übertreibung läßt sich sagen, daß der russische Präsident dies als persönlichen Affront empfand und gekränkt war. Nichts hat jemals den Widerstand des russischen Präsidenten in dieser Weise herausgefordert: weder der Verlust der sowjetischen Einflußbereiche in Afrika, Mittelamerika oder im Nahen Osten noch die Tatsache, daß die amerikanische Diplomatie die israelisch- arabischen Verhandlungen an sich riß, und auch nicht der amerikanische Vorstoß in Zonen, die – wie der Kaukasus und Mittelasien – traditionell russisches Einzugsgebiet sind.

Präzedenzfall Osterweiterung

UM zu verhindern, daß die Nato-Osterweiterung die Beziehungen zwischen Moskau und Washington insgesamt vergiftete und damit vor allem Präsident Jelzins Position in Moskau geschwächt würde, der in den Augen Washingtons der bestmögliche Gesprächspartner ist, mußten diesem Kompensationen angeboten werden, und seien sie auch rein symbolischer Natur. Hierin bestand das Ziel der langen Verhandlungen, bei denen die französische Regierung einen bedeutenden Part spielte. Dank enger Abstimmung zwischen Rußlands Außenminister Jewgeni Primakow und seinem damaligen Amtskollegen Hervé de Charette konnten jene Abkommen erarbeitet werden, die am 27. Mai in Paris unterzeichnet wurden.

Begleitet wurden sie von einer Reihe emphatischer Kommentare, die die Absicht verfolgten, dem Ganzen so viel Feierlichkeit wie möglich zu verleihen. Der Inhalt der Abkommen ist um einiges bescheidener. Zwar sehen sie eine russische Beteiligung an verschiedenen Nato-Einrichtungen und die Schaffung eines Ständigen Gemeinsamen Rates von Allianz und Rußland vor – das dadurch theoretisch an den Beratungen der Nato-Mitglieder teilnehmen kann. Jedoch steht außer Frage, daß bei wesentlichen Entscheidungen und vor allem in einer Krisensituation die Nato-Partner verhandeln, agieren und ihre Entscheidungen treffen, ohne daß Rußland sich dagegen stellen kann und ohne daß auch nur auf seine Interessen Rücksicht genommen werden muß.

Auch ist in den Abkommen vorgesehen, daß auf dem Territorium der neuen Nato-Mitglieder keine „fremden“ Truppen aufgestellt werden, und erst recht keine Nuklearwaffen – die im übrigen nach dem Doppelbeschluß der Amerikaner und Sowjets vom September und Oktober 1991 ohnehin auf dem europäischen Kontinent abgebaut werden sollten. Aber auch hier wird die Nato im Krisenfall ihr militärisches Potential in Mittel- und Osteuropa je nach Bedarf umgruppieren.

Tatsache bleibt, daß die Vereinigten Staaten die Erweiterung der Nato nach eigenem Ermessen und einem ihnen genehmen Zeitplan durchführen werden. So haben sie entschieden, daß zunächst nur Polen, Tschechien und Ungarn beitreten können, obwohl mehrere europäische Staaten, darunter Frankreich und Italien, ursprünglich den gleichzeitigen Beitritt Rumäniens und Sloweniens gefordert hatten – im vollen Bewußtsein allerdings, daß sich letzten Endes der amerikanische Standpunkt durchsetzen würde. Von Boris Jelzins persönlichen Reaktionen abgesehen, fürchtete die russische Diplomatie die Nato-Osterweiterung, weil sie darin einen Präzedenzfall sah. Zwar wird die territoriale Integrität von Polen, Ungarn und Tschechien nirgendwo in Frage gestellt, aber in mehreren Nachbarstaaten stellt sich die Situation ganz anders dar. Der politische und territoriale Status einiger ehemaliger Sowjetrepubliken, die im östlichen Europa liegen (Estland, Lettland, Litauen, Weißrußland, die Ukraine und die Republik Moldau), kann keineswegs als stabil gelten. Wollte sich die Nato – mit den Beitritten von Polen, Ungarn und Tschechien im Rücken – eines Tages erneut erweitern, so würde dies die Zukunft von Staaten beeinflussen, in denen zum Teil Russen leben, und wesentliche Interessen Rußlands berühren.

Dies zeichnete sich bereits an den Stellungnahmen ab, die die Regierungen der drei baltischen Staaten abgaben: Am 27. Mai 1997, also an dem Tag, an dem die Verträge zwischen Rußland und der Nato unterzeichnet wurden, gaben Estland, Lettland und Litauen in Gegenwart der Präsidenten Polens und der Ukraine bekannt, daß auch sie in das Atlantische Bündnis und seine militärische Organisation aufgenommen werden möchten. Dies ist möglicherweise der Punkt, in dem die neue amerikanische Strategie ihre größten Risiken birgt.

dt. Eveline Passet

* Journalist, Verfasser u. a. von „Le Dernier empire“, Paris (Grasset) 1996.

Fußnoten: 1 Bernard Posen und A. Ross, „Competing Visions of US Grand Strategy“, International Security, Washington, Winter 1996/97. 2 Vgl. Paul-Marie de La Gorce, „Washington et la maitrise du monde“, Le Monde diplomatique, April 1992, und Michael Klare, „Les stratégies de Washington se préparent à de nouvelles expéditions guerrières“, Le Monde diplomatique, November 1993. 3 Vgl. Paul-Marie de La Gorce, „Die unergiebige Unnachgiebigkeit der USA am Golf“, Le Monde diplomatique, Mai 1997.

Le Monde diplomatique vom 11.07.1997, von PAUL-MARIE DE LA GORCE