15.08.1997

Die „reine“ Ökonomie, eine neue Hexerei

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Die „reine“ Ökonomie, eine neue Hexerei

Von SAMIR AMIN *

AN den Universitäten wird seit einiger Zeit eine merkwürdige Disziplin gelehrt: die „reine Ökonomie“. Oder auch „Ökonomik“: eine Wissenschaft wie etwa die Physik. Doch während die wissenschaftliche Methode gemeinhin von der Realität ausgeht, fußt die „reine“ Ökonomie auf einer theoretischen Grundannahme, die nichts mit der Realität zu tun hat: Sie unterstellt, daß die Gesellschaft nichts weiter als die Summe der Individuen sei, aus denen sie sich zusammensetzt. Sie verkennt damit völlig, daß die reale Gesellschaft eine viel komplexere Struktur ist, in der soziale Gruppen, Nationen, Staaten, Großunternehmen, Gesellschaftsentwürfe, politische, religiöse, ideologische Kräfte und so weiter aufeinandertreffen.

Man stelle sich vor, die Medizin wollte die Funktionsweise des menschlichen Körpers rekonstruieren, indem sie sich auf die Grundelemente beschränkt, die den Körper ausmachen, also auf die Zellen. Ohne die Existenz von Organen wie Herz und Leber zu berücksichtigen! Zum Glück haben sich die Mediziner nicht zu einer derart „reinen“ Medizin verstiegen. Die Wahrscheinlichkeit, daß selbst die komplexesten Modelle über die Wechselwirkung der Zellen eine Ähnlichkeit mit dem menschlichen Körper aufweisen, ist so groß wie die Chance, daß ein Affe, den man vor einen Computer setzt, die gesammelten Werke von Victor Hugo produziert. Ebenso unwahrscheinlich ist die Annahme, das Aufeinandertreffen von fast sechs Milliarden Menschen auf dem Weltmarkt werde zu einem allgemeinen wirtschaftlichen Gleichgewicht führen. Die Suche nach einer rationalen Erklärung der ökonomischen Zusammenhänge beginnt also mit einer mythischen Konstruktion.

Die Ökonomie verkennt nun keineswegs, daß der Mensch ein intelligentes Wesen ist und sein Verhalten an den vermuteten Reaktionen der anderen ausrichtet. Ihre Modelle dürfen nicht auf einer schlichten und kurzschlüssigen Rationalität basieren – ich kaufe mehr, wenn der Preis fällt –, sondern auf einer antizipatorischen Rationalität: Ich warte mit dem Kauf, wenn ich mit sinkenden Preisen rechne. Während sie offenbar ignoriert, daß die Gesellschaft sich selbst erzeugt, dementiert die „reine“ Ökonomie – so wie einige Universitätsleute sie praktizieren – sich selbst, indem sie Antizipation durchaus berücksichtigt. Womit sie eingesteht, daß das Individuum, das sie wie ein objektives Faktum behandelt, selbst das handelnde Subjekt seiner Geschichte ist.

Das bereitet allerdings Kopfzerbrechen: Wie beweisen, daß die Wechselbeziehungen zwischen den Handlungen der Individuen, noch dazu unter Berücksichtigung der Antizipation, ein (durch Preise, Einkommensverteilung, Arbeitslosenquote) bestimmbares Gleichgewicht erzeugen, und zwar nur ein ganz bestimmtes? Aus diesem Dilemma soll die Mathematik heraushelfen.

Von wegen! Die Mathematik beweist, daß ein derartiges Gleichungssystem keine Lösung bietet. Führt man eine Reihe zusätzlicher Hypothesen ein, wird eine Vielzahl von Lösungen möglich, noch mehr Hypothesen wiederum können dazu führen, daß sich nur eine einzige Lösung ergibt. Also wählen die Verfechter der „reinen“ Ökonomie „maßgeschneiderte“ Hypothesen, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Und sie denken sich jeweils eine Fabel aus, mit der sie jede Etappe ihrer Pseudo-Beweisführung bestreiten. Diese Fabeln unterstellen – oft angelehnt an Tiergestalten – plausible Verhaltensmuster, die einem einzigen Zweck dienen: die „Moral der Geschichte“ zu transportieren. Die gesamte „Ökonomik“ ist nach diesem Schema aufgebaut.

Die für ihre Argumentation entscheidende Fabel ist die vom perfekten Wettbewerb. Sie unterstellt, daß sämtliche Einzelangebote und –nachfragen zentralisiert, also vollständig überschaubar sind. Merkwürdigerweise geht es in diesem Modell so zu, als würde alles von einem zentralen Planungsexperten entschieden, der die Verhaltensweisen von fünf bis sechs Milliarden Bürgern genau kennt. Und das ergibt dann das gewünschte Gleichgewicht! Daß die liberale Theorie von der „reinen“ Ökonomie dazu führt, im Big Brother die Lösung der marktwirtschaftlichen Probleme zu sehen, ist an sich schon eine pikante Pointe. Aber natürlich gibt es diesen Superplaner nicht, und so muß man das System eben ständig variieren, je nach den Resultaten, die sich aus den realen Handlungen der Individuen auf den Märkten ergeben. Das – unmögliche – Gleichgewicht ist hier ein Resultat sowohl des Zufalls als auch der Eigenschaften, die das Kalkül der Akteure bestimmen.

Unter Berufung auf das Theorem von Sonnenschein1 haben wirkliche Mathematiker wie Giorgio Israel und Daniel Guerrien2 den Erzbetrug der „reinen“ Ökonomie aufgedeckt. Insbesondere für das Schlüsselproblem unserer Epoche, die Arbeitslosigkeit, würde das allgemeine Gleichgewicht – selbst wenn es auf wundersame Weise erreichbar wäre – absolut keine Antwort bieten. Indem die „reinen“ Ökonomen die Arbeitslosigkeit auf die angeblich hohen Kosten der Arbeit zurückführen, sehen sie großzügig darüber hinweg, daß jede Modifikation der Löhne in der Logik ihres eigenen Systems alle Voraussetzungen des allgemeinen Gleichgewichts verändert.

Ganz ähnlich behauptet der Monetarismus – der letzte Schrei der „reinen“ Ökonomie –, die Zentralbank könne die Höhe der Geldmenge frei bestimmen. Eine gründliche Analyse der Geldmengenpolitik zeigt hingegen, daß Geld insoweit keine Ware wie jede andere ist, als das Angebot durch eine Nachfrage bestimmt wird, die zum Teil von den Zinssätzen abhängt. Doch die Zentralbanken, von denen man sich eine „unabhängige“ Haltung wünscht – angesichts ihrer magische Macht, das Geldangebot festzulegen –, erweisen sich als höchst unfähig, diese Rolle auszufüllen, weil sie einfach jenseits ihrer Möglichkeiten liegt: Über die Festlegung des Zinssatzes können sie nur die Nachfrage nach Geld beeinflussen, und auch das nur partiell und indirekt, nicht aber das Angebot. Zudem reagiert diese Zinspolitik ihrerseits auf alle möglichen Aktivitäten (wie Investitionstätigkeit, Konsumverhalten usw.), also auf alle Gleichgewichtsfaktoren. Und für solchen monetaristischen Unfug hat man Milton Friedman den Nobelpreis verliehen ...

Die „reine“ Ökonomie entpuppt sich als Scheinwissenschaft, die von den Sozialwissenschaften so weit entfernt ist wie die Parapsychologie von der Psychologie. Wie jede Scheinwissenschaft kann sie alles beweisen, einschließlich des Gegenteils: „Sag mir, was du willst, und ich liefere dir die theoretische Begründung.“ Ihre Stärke liegt darin, ihre zentralen – vorgegebenen oder selbst gewählten – Ziele zu verschleiern, etwa die Verschärfung der Arbeitslosigkeit oder die wachsende Ungleichheit der Vermögensverteilung. Solche Ziele kann man natürlich nicht ausposaunen, weshalb es zu „beweisen“ gilt, daß sie nur einem Wandel dienen, der zu Wachstum, Vollbeschäftigung usw. führen werde.

Da die „Ökonomik“ jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrt, kann sie nur Amateurmathematiker rekrutieren, so wie die Parapsychologie mit Schmalspurpsychologen vorliebnehmen muß. Oder warum beschäftigt diese „Wissenschaft“ so viele mittelmäßige Mathematiker, die kein seriöses physikalisches Labor einstellen würde? Die Parallele zur Magie liegt auf der Hand.

Auch der Hexenmeister muß, um überzeugend zu klingen, ein Minimum von vernünftigen und plausiblen Sätzen fallen lassen. Der – überdurchschnittlich intelligente – große Hexenmeister wußte genau, was der König von ihm erwartete, und das hat er ihm geliefert. Entsprechend funktioniert die „reine“ Ökonomie. Die Methoden sind die gleichen, wozu vor allem eine esoterische Sprache gehört: die Terminologie einer verballhornten Mathematik zum exklusiven Gebrauch von Nichtmathematikern.

Und wie bei der Hexerei drängen alsbald die Sekten nach. Die kleinen Hexer scharen sich um Gurus, die wiederum ihre Schüler fördern. Nicht zufällig breiten sich die Sekten der Ökonomen mit ihrem arroganten neoliberalen Diskurs zur gleichen Zeit aus wie die Scharlatane der scheinwissenschaftlichen Parapsychologie. In beiden Fällen haben wir es eindeutig mit intellektuellem Betrug zu tun.

dt. Heide Musahl

* Wirtschaftswissenschaftler, Direktor des afrikanischen Büros des Forums Dritte Welt in Dakar; Autor u. a. der “Critique de l‘air du temps“ (erscheint demnächst bei L‘Harmattan, Paris); auf deutsch liegen vor: „Das Reich des Chaos. Der neue Vormarsch der ersten Welt“, Hamburg (VSA) 1992, und „Die Zukunft des Weltsystems. Herausforderungen der Globalisierung“, hrsg. v. J. Wilke, VSA 1997.

Fußnoten: 1 Das Theorem von Sonnenschein beweist die Unmöglichkeit, ausgehend vom Maximierungsverhalten den Verlauf von Angebots- und Nachfragekurven zu deduzieren. 2 Giorgio Israel, „La Mathématisation du réel“, Paris (Le Seuil) 1996; Daniel Guerrien, „L'Économie néoclassique“, Paris (La Découverte) 1996.

Le Monde diplomatique vom 15.08.1997, von SAMIR AMIN