15.08.1997

Erosion des Gemeinwohls – ein Merkmal der neuen Weltordnung

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Erosion des Gemeinwohls – ein Merkmal der neuen Weltordnung

Je genauer wir unser eigenes „modernes Zeitalter“ betrachten, desto deutlicher könnte sich die historische Parallele zur Niedergangsphase des Römischen Reiches abzeichnen. Auf der einen Seite die Massen verzweifelter Proletarier, die von Polizeiregimentern drangsaliert wurden. Auf der anderen Seite eine Anhäufung enormer Reichtümer, deren Besitzer sich hinter festen Mauern in ihren Villen verschanzten. Schon damals gab es zwischen diesen beiden Welten keine Berührungsflächen ...

 ■ Von DENIS DUCLOS *

„Die Kaiser des vierten Jahrhunderts (...) fragten sich niemals, ob es der Mühe wert war, das Römische Reich zu retten, wenn man doch nur ein riesiges Gefängnis für Millionen Menschen daraus machen wollte.“ (M. R., S. 393)1

Keine Herrschaftsform ist vor der Lust an der Unterdrückung gefeit, vor allem, wenn sich ihr nichts mehr entgegenstellt – so als könne die Beherrschung des Anderen die eigenen Frustrationen lindern. Sind in dieser Hinsicht der Liberalismus und die untergegangenen Mächte, die von der Beherrschung der Menschheit träumten, so weit auseinander? Jede Universalherrschaft, die sich gesellschaftlich abkapselt, verwandelt sich zwangsläufig in eine Diktatur. Und wenn es nicht gelingt, ihr ein gewisses Maß an Zivilität abzuringen, wird sie sich, wie eh und je, zu einer brutalen Vernichtungsmaschinerie entwickeln.

Seit 1989 zeichnet sich ein Übergang von der liberalen in die autoritäre Gesellschaft ab. Es entstehen neue Zwangsmechanismen und zunehmend hierarchische Strukturen, die an vergangene Kaiserreiche erinnern. Wir befinden uns an der Schwelle zu einer Herrschaftsform, die ihre Hegemonie vollends dadurch absichern will, daß sie den Mächtigen die extravagantesten Launen gestattet, während sie die freien Bürger erniedrigt und die Bedürftigen unterdrückt.

Erscheint die Macht einmal abgesichert, kommen offenbar drei Entwicklungen in Gang: Erstens kennen die Eliten keine Hemmungen mehr, die Menschen, die ihren Wohlstand sichern, unter Druck zu setzen. Zweitens gehen sie auf sozialen Abstand und ziehen sich von diesen unterdrückten Mitbürgern weit zurück. Drittens vernachlässigen sie ihre Akkumulationsfunktion und setzen statt dessen auf die Wunderwelt der Spekulation, von der sie sich Zutritt zum Paradies der virtuellen Werte versprechen. Unter Berufung auf die Vernunft haben die Eliten den Großtanker der Gesellschaft auf einen Kurs gebracht, der direkt auf die drei Klippen zuführt, an denen auch die spätantike Gesellschaft zerschellt ist: Elend der Massen, Narzißmus der Reichen, allgemeiner Wahnsinn.2

Druck auf die Untergebenen

„Die Oberschicht in den Städten (...) tat alles, um die Reste ihres Vermögens zu retten, und bedrückte die niederen Klassen, die tatsächlich von allen Seiten bedrängt und ausgeraubt wurden.“ (M. R., Bd. 2, S. 183)

Es beginnt mit dezenten Indizien wie diesem: Der Vorstand eines öffentlichen Unternehmens setzt auf exorbitante Profitmargen bei privaten „Zwangsabnehmern“, um den Industriellen Dumpingpreise bieten zu können. „Zwangsabnehmer“ klingt ganz harmlos, aber der Gedanke an eine Art Knechtschaft liegt nicht allzu fern, wenn einer von der Idee begeistert ist, daß er mit den Menschen nach Belieben umspringen kann.

„Wir haben die Arbeitsplätze und ihr den Sozialstaat“, hat John Major als britischer Premierminister einmal seinen europäischen Partnern entgegengehalten. Dabei können in seinem Land, das sich damit brüstet, die etatistischen Irrwege hinter sich gelassen zu haben, 2,3 Millionen „fuel poor“ ihre Wohnungen nicht mehr heizen, 19 Prozent der Haushalte verfügen über kein Bankkonto, und 30 Prozent der Familien sind auf eine ständig knapper ausfallende Sozialhilfe angewiesen. Die Freiheit zur Verbilligung der Arbeitskraft geht offenbar damit einher, das Elend als unvermeidlich in Kauf zu nehmen.

Indem die Weltwirtschaft von dieser „Befreiung“ profitiert, erweist sie sich als direkte Fortsetzung der Sklaverei. Von den weltweit 120 Millionen vollbeschäftigten Kindern unter 14 Jahren arbeiten viele ohne Bezahlung, also nur für den Profit der Zulieferer und Arbeitsverleiher, die mit den führenden Weltkonzernen Verträge abschließen. Dabei ist unerheblich, daß Heineken und Carlsberg in Birma oder Reebok in Indien solche Verträge nach Boykottdrohungen wieder gekündigt haben. Ohne diese Schattenwirtschaft würde der Süden keine attraktiven Investitionsrenditen mehr bieten.

Um ihr Gewissen zu beschwichtigen, fordern Aktionäre von Pensionsfonds, die beteiligten Unternehmen müßten Sozialklauseln abschließen. Doch von diesen Firmen eine Verzinsung von 12 Prozent zu verlangen und zugleich ihre Beziehungen zu den Sklavenhändlern zu überwachen, sind unvereinbare Ziele. Der Anblick, wie in Asien oder Südamerika die Menschenmassen an Wachttürmen vorbei in die Industriezonen strömen, macht uns klar, daß die englischen Schlackenhalden des letzten Jahrhunderts (oder die Bergwerke als Zuchthäuser der Antike) keineswegs der Vergangenheit angehören.

Unzählige illegale Schneiderwerkstätten, in denen erwachsene Immigranten (in Paris und Bangkok, in New York und Haiti) für die internationale Konfektion an Nähmaschinen sitzen, belegen die universelle Verbreitung der sweat shops, die wir dem 19. Jahrhundert zurechnen. Chinesen, Pakistani und Türken, die am Rande der Städte in Schuppen schuften, um das Fahrgeld und ein paar Quadratmeter Wohnfläche zu finanzieren, haben das gleiche Schicksal wie die illegalen Einwanderer in den USA (300000 pro Jahr). Und überall profitieren über die unzähligen Deckfirmen so „saubere“ Marken wie Morgan, Burton, Monoprix oder C&A.

Auch die Wiederkehr des Dienstpersonals erinnert an die Sklaverei. Über den Mißhandlungen von Hausangestellten aus Sri Lanka oder den Philippinen, die aus den Golfscheichtümern berichtet werden, darf man nicht vergessen, daß weltweit immer mehr ausländisches Dienstpersonal engagiert wird, das seinen Lohn zum Teil nur in Naturalien erhält.

Eine Abwärtsspirale

„Der Grundzug im Wirtschaftsleben des spätrömischen Reiches war die allmähliche Verarmung. Je ärmer das Volk wurde, um so primitiver wurde das Wirtschaftsleben des Reiches.“ (M. R., Bd. 2, S. 231)

„Werde ich zum Bettler?“ – „Werde ich fliehen müssen?“ – „Wird meine Flucht je ein Ende haben?“ – „Wird man mir meinen Lohn auszahlen?“3 – Fragen eines Ägypters an ein spätrömisches Orakel. Ähnliche Ängste bedrücken in den USA und demnächst auch in einem vollends liberalisierten Europa auch die neuen Armen der Gegenwart. Sie werden sich in „neue Nomaden“ verwandeln, ähnlich wie der (zwischen freien Bürgern und Sklaven angesiedelte) Menschenschlag der „peregrini“, der sich in der Endzeit des Römischen Reiches endemisch ausbreitete. Nach dem Aufruf von Staatspräsident Chirac, der die Jugendlichen zur Mobilität ermahnt hat, reichen die vielen in Frankreich wild parkenden Wohnwagen als Beleg für die Entstehung eines ganzen Heeres mobiler Zeitarbeitskräfte. Und in der Nuklearindustrie werden die Arbeiter der Putzkolonnen intern bereits als „Zigeuner“ bezeichnet.

Aber ist dies nicht ein begrenzter sozialer Bodensatz, der nach der liberalen Theorie von der Aufwärtsspirale der Marktdynamik mit der Zeit nach oben befördert wird? Diese Annahme setzt leider voraus, daß auf weltwirtschaftlicher Ebene das allgemeine Lohnniveau steigt. Doch entgegen den Ermahnungen der OECD, welche die wichtigsten Industrieländer vereinigt, zeigt der jüngste Vorstoß zur Brechung gewerkschaftlicher Rechte in Süd-Korea, daß auch in den „Tigerländern“ Asiens das durchschnittliche Lohnniveau nach unten tendiert.4 Zumal dieselben Sachverständigen der OECD betonen, man solle „in Europa die Rolle des Mindestgehalts überdenken“ und „die großzügigen Sozialleistungen einschränken“.5 Doch wenn wir unser Lohn- und Konsumniveau flexibilisieren, entmutigen wir die koreanischen oder chinesischen Gewerkschafter in ihrem Kampf um einen höheren Lebensstandard und halten Russen, Marokkaner und Haitianer davon ab, die Katakomben ihrer Schattenwirtschaft zu verlassen.

Trotz einiger Felder gesteigerter Produktivität zeigt die Entwicklungsspirale der Welt nach unten. Die Vorstellungen von einem „gespaltenen Wachstum“ sind wirklichkeitsfremder als folgende Schilderung eines Historikers des dritten nachchristlichen Jahrhunderts:

„Die Arbeit war desorganisiert, die Produktionskraft ging zurück (...). Die Industrie konnte nicht gedeihen, da der Markt für die Industrieprodukte sich ständig verkleinerte und die Kaufkraft der Bevölkerung sich verminderte.“ (M. R. Bd. 2, S. 213)

Soziale Distanz als Krisenzeichen

Über Petronius Probus, einen „Millionär“ des vierten Jahrhunderts, berichtet ein Zeitgenosse: „Sein Grundbesitz ist über das ganze Kaiserreich verstreut – ob rechtmäßig erworben oder nicht, darüber maße ich mir kein Urteil an.“ (zit. nach P. B., S. 32)

Was könnte das Motiv sein, das unsinnige Ziel der Verarmung voranzutreiben? Nichts anderes als das Interesse, sich von der Masse abzusetzen, also purer Machtwille. Seitdem der Spätkapitalismus keinen ernstzunehmenden Widerstand mehr spürt, verfolgt er eine Neuaufteilung der Reichtümer zu seinen Gunsten. Man denke nur an jenes französische Großunternehmen aus der Konfektionsbranche, dessen Aktionäre 1996 um 140 Prozent erhöhte Einkünfte kassierten, während die Gehälter und Betriebsausgaben um 14 Prozent schrumpften.

Oder man denke an die astronomischen Summen, die manche Vorstände der Multis dafür einstreichen, daß sie gegenüber den Gehaltsempfängern ihrer Imperien quasi militärische und polizeiliche Aufgaben wahrnehmen, um ihre Aktionäre zufriedenzustellen. Wie etwa Thomas Labrecque, der von der Chase Manhattan Bank 9 Millionen Dollar Prämie dafür bezog, daß er zehntausend Arbeitsplätze strich. Weniger bekannt ist, daß solche persönlichen Zuwendungen – mehr noch als bei der fürstlichen Besoldung der condottieri – mit dem kapitalistischen Charakter des Unternehmenseigentums zusammenhängen. So besteht der Hauptanteil der an Roberto Goizeta, den Vorstandsvorsitzenden von Coca Cola, gezahlten Vergütung aus stock options und steuerbegünstigten oder steuerfreien, später zu zahlenden Bezügen.6

Die Wiedereroberung der Macht durch die Spitzenverdiener hat somit doppelten Symbolwert: Zum einen erinnert ihr gigantischer Einkommensvorsprung an die Aristokratie des Ancien régime, die einen ganzen Kosmos von Bediensteten unterhielt, und dies auf Kosten einer auf den Durchschnittskonsumenten ausgerichteten Produktion. Zum anderen drückt die kapitalistisch geprägte Form der Honorierung den Vorrang des Profits vor dem Gehalt aus, womit die Überlegenheit des Geldes gegenüber der Arbeit, aber auch gegenüber den Gebrauchswerten hervorgehoben wird.

Ein Unternehmer, der sich mit dem „Ausschlachten“ ertragsschwacher Unternehmen einen Namen gemacht hat, formulierte es so: „Ein Unternehmen gehört den Investoren, und nicht seinen Angestellten oder Zulieferern oder gar seinem Standort.“7 Mit anderen Worten: Allein der Eigentümer ist ein freier Bürger.

„Wie bei vielen kosmopolitischen Aristokratien fühlen sich die Menschen, die derselben Gesellschaftsschicht entstammen und die gleiche Bildung genossen haben, einander näher als der überwiegenden Mehrheit ihrer Nachbarn.“ (zit. nach P. B., S. 17)

Künden die unzähligen Flaggen und Banner, die im Zeichen der Multis und Großhandelsketten unsere Landschaften überschwemmen, vom staatsbürgerlichen Bewußtsein der Reichen oder doch eher von der Freude über einen erzwungenen Sieg? Der Kontrast zu den Wundmalen der Niederlage ist jedenfalls augenfällig: Die verfallenen Höfe und Häuser in kleinen Ortschaften stehen für die untergegangene überschaubare Gesellschaft, die ab sofort in der Welt der modernen „Kommunikation“ aufgeht; von Efeu und Misteln überwucherte Bäume werden gefällt, damit die riesigen Lastwagen durchkommen. Aus den in „historische Zentren“ umgetauften Stadtkernen, Zeugen einer abgedankten Bürgerkultur, ziehen die gebildeten Schichten weg. Man denkt zwangsläufig an das späte römische Kaiserreich und den „Rückzug“ einer von Schulden erdrückten städtischen Bevölkerung.

Es entwickelt sich nicht etwa eine neue Raumordnung im Sinne einer Bürgerkultur, vielmehr wird der gesamte Raum zum Schauplatz des sozialen Auseinanderdriftens. Die kleinen Leute brauchen Stunden, um von der Wohnung zum Arbeitsplatz zu kommen, während sich die Reichen in exklusive Landstriche wie Périgord oder Tarn verziehen. Während sich früher die Wege der Wohlhabenden und der Armen auf der Straße oder auf der Treppe desselben Wohnhauses kreuzten, leben sie heute Hunderte von Kilometern auseinander. Die Eliten haben selbst die Business- class der Flugzeuge den Mittelschichten überlassen und reisen lieber in privaten Langstreckenflugzeugen. Die neue globale „Aristokratie“ entzieht sich den Bindungen, welche den englischen niederen Adel noch mit dem dritten Stand verknüpften und beide Seiten zur Demokratie anhielten. Sie zieht sich in Landstriche zurück, wo kein gemeines Volk sie stört und sie endlich die Träume verwirklichen kann, zu denen sie sich durch ihren ungeheuren Reichtum berechtigt fühlt. Das kann sie nur, wenn sie jede öffentliche Verantwortung zurückweist – ein Eskapismus, dessen gefährliche Konsequenzen schon vor 1600 Jahren zu beobachten waren.

„Große, privat finanzierte öffentliche Bauten in den Städten werden immer seltener errichtet. Die Prachtentfaltung beschränkt sich hinfort auf private Paläste und Landhäuser, die zu eigenen kleinen Welten werden.“ (zit. nach P. B., S. 42)

„Da die Immunitätsverleihungen zum Teil gerade den Reichsten zugute kamen, lasteten die Liturgien8 jetzt schwer auf den Grundbesitzern und Kleinindustriellen, die in der Hauptsache dem Mittelstand angehörten.“ (M. R.,Bd. 2, S. 122)

Ein ähnlicher Verfallsprozeß ist heute beim Solidarprinzip zu beobachten. Der Druck, die soziale Absicherung durch Kapitalanlagen zu gewährleisten, ist nichts anderes als eine moderne Version der „Abgabenbefreiung“, ein Versuch, die Ungewißheit der Zukunft (das auf die Gesellschaft abgewälzte kapitalistische Risiko) auf die Kleinanleger zu verlagern. Allem Blendwerk zum Trotz (denn besagtes System hat vor dem Krieg schon einmal Millionen von Sparern ruiniert) werden die Rentner durch die Privatisierung der Renten dem Risiko eines Konjunkturumschlags ausgeliefert. Doch dieses Modell ist bei sinkender Anzahl der Beitragszahler ähnlich anfällig wie der heutige Generationenvertrag, und auch der privatisierte Pensionsfonds wird sich schlichtweg in Luft auflösen, wenn der Staat nicht einspringt. Angesichts dessen erinnert die hochgelobte „Anlage zur Alterssicherung“ an die Entscheidung der russischen Regierung, keine Ruhestandsgelder aus der Zeit des Sowjetregimes mehr zu zahlen. Man läßt also offenbar die Alten in Krisenzeiten lieber verarmen oder sogar sterben (daß im liberalen Rußland die Lebenserwartung der Männer auf 59 Jahre gesunken ist, resultiert durchaus aus dieser Menschenverachtung).

Es geht hier nicht um ein wirtschaftliches Problem, sondern um das Verhältnis zwischen Machthabern und Bürgern: Eine Gesellschaft, die ihren betagten Mitgliedern einen so harten Schock zumutet, hat wahrscheinlich weniger Zusammenhalt als eine Gesellschaft, deren Strukturen vom Respekt vor der Erfahrung der Alten mitgeprägt sind.

„Der Grund und Boden war im Besitz von Städtern, die (...) im Grundbesitz nur eine Form der Kapitalanlage sahen.“ (M. R.,Bd. 2, S. 60)

„Aber diese Bourgeoisie war nicht mehr die alte. Sie war von niedriger, knechtischer Art, sie übte sich im Erfinden von Vorwänden und Tricks, um sich den Forderungen des Staates zu entziehen; es war eine Bourgeoisie, die Spekulation und Ausbeutung zur Grundlage ihres Wohlstands machte und mit der es trotzdem ständig bergab ging.“ (M. R., Bd. 2, S. 172)

Wofür kann eine von allen kollektiven Zwängen befreite Bevölkerungsschicht noch Geld ausgeben, wenn sie erst einmal die ausgefallensten ihrer privaten Phantasieträume verwirklicht hat? Womöglich sogar... für gar nichts mehr! Der Kapitalismus lebt vom Virtuellen. Das Machtstreben, das in uns steckt, erschöpft sich im permanenten Rückfluß des Geldes. Was von diesen ehernen Prioritäten abweicht, wird von vornherein heruntergemacht: Die von den vorangegangenen Generationen aufgebauten gesellschaftlichen Werte werden nicht mehr respektiert (Gesundheit, öffentliche Verkehrsmittel, Energieversorgung etc.), man jagt nur noch abstrakten Dividenden hinterher.

Hierarchischer Konformismus

Befreit von Verpflichtungen, die früher gegenüber den Lohnempfängern, aus dem Generationenvertrag und für öffentliche Abgaben anfielen, verzetteln sich die Mächtigen im spekulativen Spiel. 1994 haben die französischen Unternehmen, deren Finanzanlagen jetzt den Wert ihrer Sachanlagen übersteigen, an der Börse um 133 Milliarden Franc „gespielt“, anstatt Arbeitskräfte einzustellen oder zu investieren, und jedes Jahr wird der Einsatz höher.9 Entgegen dem Augenschein ist ein Unternehmen nicht mehr in erster Linie eine Produktionsstätte. Der Finanzvorstand steuert die Geldströme, denen man Fabriken und Belegschaft opfert, so wie man früher Kaffeebohnen in Lokomotiven verheizt hat.

Das spekulative Spiel ist längt zum allgemeinen Zwang geworden. So haben die amerikanischen Haushalte 1996 Aktien im Wert von 222 Milliarden gekauft. „Zwei Drittel werden heute durch Kredite finanziert. Insofern sind diese Kapitalanlagen besonders anfällig für jede längere Baisse der auf Kredit erworbenen Wertpapiere. Dies um so mehr, als die Bruttoverschuldung der Haushalte bald ein volles verfügbares Jahreseinkommen ausmacht und damit den höchsten Stand seit den sechziger Jahren erreicht.“10

„Um das Jahr 200 ist die Welt in den Augen der Kaiser ein riesiges Netz von Straßen, versehen mit Relaisstationen, für die jede kleine Gemeinde ständig wachsende Mengen an Nahrung, Kleidung, Tieren und Arbeitskräften aufbringen muß, um dem Bedarf von Hofhaltung und Heer zu genügen.“ (zit. nach P. B., S. 15)

Im dritten Jahrhundert „ist der Preis, der für die Eingliederung ins Reich zu zahlen ist, ein grenzenloser Konformismus.“ (zit. nach P. B., S. 16)

Die politische Hegemonie der Kaiserzeit hat unter anderem eine grundlegende Funktion: Sie schafft überall homogene Verwaltungsabläufe durch einen Behördenapparat, der dafür sorgt, daß sich lokale Reststrukturen auflösen oder im römischen System aufgehen. Während solche Homogenität in der Antike mit Hilfe einer internationalen Armee und einer Verwaltungsaristokratie durchgesetzt wurde, wollen die Machthaber heutzutage die Nationalstaaten durch weltweit agierende unabhängige Körperschaften ausschalten, die – so unterschiedlich sie sich auch darstellen – alle in die gleiche Richtung streben: Internationale Organisationen, multinationale Unternehmen, selbst regierungsunabhängige Organisationen sind aufgerufen, die öffentliche Sphäre unter sich aufzuteilen. Gewollt oder ungewollt stecken sie ihre Einflußzonen ab, die kaum noch Raum lassen für schlichte „staatsbürgerliche Tätigkeit“, die einen verfassungsmäßigen Rahmen voraussetzt. Mangels „gemeinsamer Normsetzung“ setzen sich einengende Normen durch, denn die globalen Organisationen schließen sich gern mit marktaggressiven Großunternehmen zusammen, um fragile lokale Gleichgewichtsstrukturen aufzubrechen.11

Dieser Organismus verfügt längst über so viel Macht, daß er Veränderungen an der Spitze einer „resistenten“ Gesellschaft durchsetzen kann. So hat der Internationale Währungsfonds (IWF) mit seiner Aufforderung an die Regierung in Neu-Delhi, die gesetzlich verankerten Schutzklauseln für kleine Grundbesitzer aufzuheben, den Gärungsprozeß einer größeren soziopolitischen Katastrophe angestoßen. Dieser Schritt birgt die Gefahr, daß die eher demokratisch gesonnene Mehrheit der Bauern zur Landflucht getrieben wird, die bislang wie durch ein Wunder vermieden wurde. Wenn diese Bauernmassen zum städtischen Lumpenproletariat von Kalkutta oder Bombay hinzukommen würden, müßten sie – wie in den lateinamerikanischen Megalopolis-Regionen – in die Überlebenskriminalität hineinrutschen.

Die indischen Bauern müssen heute notgedrungen zu verschlechterten terms of trade beim multinationalen Saatgutkonzern Cargill das Saatgut teuer zurückkaufen, das sie ihm zuvor – auf Betreiben einer bestochenen Regierung – zu lächerlichen Preisen liefern mußten. Während sich so eine neue Hungersnot abzeichnet, machen in einem vegetarischen Land mit jahrtausendealten kulinarischen Traditionen überall Kentucky Fried Chicken Restaurants auf. Einige gingen zwar bald in Flammen auf, aber wie lange kann der Aufstand der Bauern gegen eine absurde „Ordnung“ durchhalten, wenn jeder Widerstand durch die globale Erpressung erstickt wird?12

Das Unternehmen als Zentrum politischer Macht

Im dritten Jahrhundert „sind die von den Bauern direkt an den Kaiserhof gesandten Petitionen verschwunden: Jeder Versuch, sich zu schützen und gegen das Unrecht zu kämpfen, ist auf die Vermittlung eines bedeutenden Mannes angewiesen, eines patronus, der bei Hofe Einfluß hat“. (zit. nach P. B., S. 21)

Die liberale Autoritätsausübung läßt sich nicht auf die amerikanische Form der Hegemonie reduzieren. Überall, auf jeder Etage und auf jedem Treppenabsatz, wird der neue Herrschaftsstil unter Gleichgestellten etabliert. Diese „neue“ Ordnung verdankt ihren angeblichen Einfluß der Tatsache, daß sie sich der Kybernetik bedient: Jeder Akteur steht mit allen anderen am Markt vertretenen Akteuren über eine umfassende Kommunikation in Verbindung und ist dieser Gesamtheit, die zur besten aller möglichen Gesellschaften avanciert ist, Rechenschaft schuldig. Die Unternehmen haben nach dieser Vorstellung die Aufgabe, die Menschen auf die widersprüchlichen Anforderungen der postmodernen Gesellschaft abzurichten, indem sie ihnen Mobilität und Qualität, Disziplin und Initiative, Verantwortung und interdisziplinäre Verwendbarkeit, Disponibilität und Leistungsfähigkeit abverlangen, und natürlich Abstinenz bei Lohnforderungen, trotz ungesicherter Arbeitsplätze.

Die Finanzkonzerne üben einen wachsenden Einfluß auf Verbraucher, Erwerbstätige und Arbeitslose aus und sind insofern nicht bloße „Wirtschaftseinheiten“, sondern Machtzentren. Die vertikal strukturierten menschlichen Beziehungen widersprechen zwar der Idee von der Gleichheit der Mitglieder einer politischen Gemeinschaft, doch diese neue Art der Menschenführung gilt als technisch notwendige „Anpassung“ an die Bedingungen eines offenen Wirtschaftskrieges. In den Führungskreisen der Wirtschaft ist von einer „härteren Gangart“ die Rede, von „Veränderungen, die man durchsetzen muß“. Die Hardliner rechtfertigen ihr Verhalten mit dem Glauben, bis zum Jahrtausendwechsel seien durchgreifende gesellschaftliche Veränderungen absolut notwendig!

Wenn Louis Schweitzer, der Vorstandsvorsitzende der Renault AG, sich überrascht zeigte, als die brutale Schließung von Renault-Fertigungsstätten in Europa so viel Aufruhr auslösen konnte, so ist dies typisch für die Art und Weise, wie sich die Vorstandsriegen gegenseitig anstecken. Die Vorstandschefs, die eine weitreichende, über das amerikanische Beispiel hinausreichende Deregulierung als „reell und vernünftig“ erachten, verschanzen sich immer hermetischer hinter ihrem reinen Gewissen, wobei sie diejenigen Untergebenen um sich scharen können, die am wenigsten von Kündigung oder befristeten Verträgen bedroht sind.

Teils ist hier Eigeninteresse im Spiel, teils der realitätsblinde Trugschluß, man habe „zum Wachstum zurückgefunden“. Ganz wie sich vor ein paar Jahrhunderten die Perversion der Religionskriege hinter einem alles übertönenden Wahrheitsanspruch versteckte, ist heute jede Führungskraft, die sich anschickt, das fragile Gleichgewicht der gesellschaftlich gewachsenen Strukturen zu kippen, besten Glaubens, zum „Wohle“ aller zu handeln. „Es tut mir ja weh, schmerzliche Reformen vornehmen zu müssen. Aber wenn wir uns nicht anpassen, sind wir morgen weg vom Fenster, und mit uns unsere Arbeitsplätze“, argumentiert ein Personalchef.

Die Faszination der Macht greift auf die unteren Schichten über

Viele Untergebene haben die Zwänge längst verinnerlicht. Zunächst aus Angst, aber dann auch, weil der von der Spekulationsspirale ausgelöste Gesellschaftskrieg sie fasziniert. Die Kündigungswelle, von der 57 Prozent der im Dienstleistungssektor Beschäftigten betroffen waren, müßte den Amerikanern eigentlich noch in den Knochen sitzen. Aber sie suchen die Verantwortung nicht in den Chefetagen, sondern bei den Gehaltsempfängern selbst.13 Dabei beweisen alle Untersuchungen, daß Wall Street um kurzfristiger finanzpolitischer Ziele willen an den massiven Entlassungen unmittelbar interessiert war.14 Die Hälfte aller Erwerbstätigen stellt Unternehmerentscheidungen nicht in Frage, solange der eigene Arbeitsplatz erhalten bleibt. Noch leichter sind diejenigen zu gängeln, die den Schock einer Kündigung schon einmal verkraftet haben: 80 Prozent von ihnen sind mit Urlaubsverzicht, 69 Prozent mit reduzierten Sozialleistungen und 44 Prozent mit einer Gehaltskürzung einverstanden.

„Die Aktionäre haben uns wissen lassen, daß sie jetzt eine Rendite von 10 Prozent erwarten“, erzählt eine Bankangestellte. „Einige von uns haben das Handtuch geworfen. Die anderen arbeiten noch mehr. Häufig komme ich erst um 8 oder 9 Uhr abends nach Hause.“ Eine Kritik am geheiligten Prinzip, das „Vertrauen der Investoren“ zu rechtfertigen, käme ihr dennoch nie in den Sinn.

Niemand scheint sich der Magie des Aufrufs von Bundesbankpräsident Hans Tietmayer, man müsse „gemeinsam zupacken“, um wieder auf Wachstumskurs zu kommen, entziehen zu können15 , obwohl jeder weiß, daß damit Nacht- und Wochenendarbeit, vermehrter Streß, eine ungewisse Zukunft und eine immer härtere Gangart angesagt sind.

Warum? Wahrscheinlich, weil drei Arten von morbider Ersatzbefriedigung in Aussicht stehen: Erstens kann man diejenigen knechten, die schwächer sind, zweitens kann man die kollektiven Freuden genießen, die die Abstrafung einzelner Opponenten bietet, drittens kann man sich dem Spekulantenspiel verschreiben und hoffen, einen Gewinn zu erzielen oder zumindest nicht in den Crash mitgerissen zu werden, wie es den meisten blüht.

Wir „bescheidenen und braven“ Arbeitnehmer sollten uns von solchen Versuchungen keinesfalls frei fühlen. Das Ideal der Beherrschung kommt auch auf den unteren Ebenen ziemlich gut an. Es ist allzu bequem, die Verachtung auf den Volontär, den Angestellten auf Zeit, die Aushilfskraft, den Neueingestellten abzuwälzen. Nach Ansicht der Soziologin Danièle Linhart leiden wegen der „aktuellen, höchst tayloristischen Arbeitsorganisation“ immer mehr Leute unter ihrer Arbeit, und der Arbeitspsychologe Christophe Dejours registriert in allen Schichten einen Anstieg des Mißtrauens unter Kollegen und eine Zunahme perverser Verhaltensweisen wie etwa sadistischer „Einstandsrituale“.

Selbstknechtung im Dienst des „Gemeinwohls“

Der kollektive Sadismus, der die verstärkten Frustrationen kompensieren soll, setzt paradoxerweise auf das Bedürfnis neurotischer Selbstknechtung. Soziologen haben bewiesen, daß extrem zugespitzte Hygienestandards sogar noch die Anforderungen des Taylorismus übertreffen (der auch bei physischer Erschöpfung nicht den Kopf beansprucht), weil sie sich auf das Ideal soziotechnischer Zugehörigkeit beziehen: „Die bakteriologische Isolierung des Produkts erzeugt eine soziale und psychologische Isolierung der Personen, die sich zwangsläufig (...) als Ansteckungsfaktoren verstehen.“16

Schon die in der Verpackungsindustrie entstandene und von Supermärkten und im Straßenverkauf von Backwaren übernommene Angewohnheit, alle Waren unter Folie und mit Handschuhen anzubieten, setzt das Reinheitsgebot in symbolischen Gegensatz zum Kontakt mit Ausdünstungen oder Blut. Das Ergebnis ist eine genauestens einzuhaltende moralische Ordnung, die in eine technische Ordnung umgemünzt wird.

Im zweiten Jahrhundert „ist der Arzt die beherrschende intellektuelle Figur der römischen Gesellschaft. Die Hypochondrie ist ein seltsames und beunruhigendes Symptom.(...) Die folgenden Generationen neigen dazu, die Krankheit als etwas, das aus ihnen selbst auftaucht, wegzuleugnen: Der Kampf gegen die Dämonen beschäftigt sie mehr als ihre körperlichen Bewerden.“ (zit. nach P. B., S. 55)

Als nützliche Hilfskonstrukte bei der Knechtung des Mitmenschen dienen die Utopie organisatorischer Perfektion, der Glaube an soziales Engineering, an die effiziente Behandlung von Fehlfunktionen, so als ob es sich um Mikroben handle. Man evoziert eine Art himmlisches Jerusalem, in das sich die Menschen integrieren, wo ihre (“Streß“ und „Depression“ genannte) Verweiflung gelindert und abweichendem Verhalten entgegengewirkt wird; oder wo es zumindest gelingt, die damit einhergehenden Schädigungen oder Schmerzen zu unterbinden.17

„Im dritten Jahrhundert (...) verstärkte sich der Druck, den der Kaiser auf die munizipale Bourgeoisie ausübte, in wachsendem Maße. (...) In großem Umfang wurden Zwangsmaßnahmen angewendet. (...) Einige der wesentlichen Rechte, wie sie dem freien Mann und dem römischen Bürger (...) zukamen, wurden beschnitten.“ (M. R., Bd. 2, S. 228)

Die politische Führungsriege widersetzt sich dieser Faszination durch die Macht (über andere oder sich selbst) keineswegs; diese wird vielmehr gefördert und durch eine Obsession nach „Sicherheit“ geradezu provoziert. In harten Zeiten, heißt es, sei Solidarität unter ordnungsliebenden Menschen angesagt. Das bedeutet, den Kollegen anzuzeigen, der gegen die Hygienegebote verstößt, einen Nachbarn zu denunzieren, der „gesellschaftlich nicht tragbarer“ sexueller Begierden verdächtig ist, die ärztliche Stellungnahme zu einem Patienten, der sich einer empfohlenen Behandlung entziehen will, an die Justizbehörden weiterzuleiten, Ankunft und Abreise eines ausländischen Freundes der Polizei zu melden. Das alles geht in dieselbe Richtung: Jeder soll sich an der großen soziotechnischen Regulierung beteiligen, die dem Wohl aller dient und vor allem dem Wohlergehen derjenigen, die ein Quentchen Macht über ihre Mitmenschen besitzen.

Der gebotene zwischenmenschliche Umgangsstil ist von Unterwürfigkeit geprägt. Zu seiner Rechtfertigung heißt es, die Durchsetzung einer neuen Idealwelt gehe nun einmal nicht ohne Turbulenzen vonstatten. Leiden seien unvermeidlich, und Widerstand müsse man eben leider Gottes niederschlagen.

Die Erniedrigung des Bürgers erfolgt in Form von Übergriffen auf sein Privatleben – im Namen der Notwendigkeit, der Dringlichkeit oder der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung. Ärzte werden zu Behandlungen verpflichtet, die als Bestrafung zu werten sind. Zur „Entlastung der Gefängnisse“ ist die elektronische häusliche Überwachung im Kommen.

Ob man die französische Gesetzesvorlage (projet Debré) zur Meldepflicht von Gästen nimmt oder den Gesetzentwurf in den USA, demzufolge Ärzte und Lehrer Einwanderer ohne ordnungsgemäße Papiere den Behörden anzuzeigen haben: Die öffentliche Gewalt verschafft sich nach und nach die Befugnis, „sich in das Privatleben jedes Bürgers einzumischen und ihn auf Schritt und Tritt zur Rechenschaft zu ziehen.“18

Der autoritäre Liberalismus pfeift auf die in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verbriefte „Pflicht zum Widerstand gegen Unterdrückung“ und möchte die Staatsbürgerschaft auf die bloße Umsetzung von Gesetzestexten beschränken. Jedes zivile Verhalten beinhaltet jedoch immer „ein letztes Quantum an Subjektivität, welche sich nicht aus vorgefertigten Regeln ableiten läßt“19 .

Entfesselung von Haß

„Haß und Neid herrschten überall: die Bauern haßten die Grundbesitzer und die Beamten, das städtische Proletariat haßte die städtische Bourgeoisie, das Heer wurde von jedermann gehaßt, sogar von den Bauern.“ (M. R., Bd. 2, S. 213)

Die Blockwartmentalität, die diese Politik fördert, ist kaum angetan, Ordnung zu stiften. Sie bringt die Bürger lediglich zu aggressivem und kompromißlosem Verhalten. Sie verkehrt Frieden in Krieg, zivile in Gewaltverhältnisse, Toleranz in hysterische Strenge. Sie verwandelt friedliche Bürger in einen leicht zu provozierenden Mob, der sich an medialen Rufmorden ergötzt (ebenfalls wie in Rom). Sie fördert die Bereitschaft, Zuständigkeiten zu verlagern, Erinnerungen zu tilgen, gewachsene kollektive Einrichtungen zu zerstören, Funktionsträger auszuschalten, denen Solidarität wichtiger ist als der „schlanke Betrieb“. Und sie wird alsbald Parteien hervorbringen, die ihren Anhang auffordern, mit Begeisterung auf die Ausländer einzuschlagen, wie auch Minister, die es wagen, „Kritik an der Polizei“ (auch das eine bürgerliche Grundpflicht) mit einer Strafanzeige zu beantworten.

„Während des Bürgerkriegs und nach seinem Abschluß war das Reich voll von Heimatlosen, denen des Kaisers Polizisten (...) auf den Fersen waren. In Verzweiflung umherwandernd, vereinigten sie sich zu Räuberbanden und verwüsteten das Land.“ (M. R., Bd. 2, S. 123)

In ihrem Film „La Promesse“ zeigen Luc und Jean- Pierre Dardenne, wie der Leiharbeitsvermittler Roger aus existentieller Not zum gewöhnlichen Kriminellen wird.20 Andere wiederum lehnen sich gegen die Verhältnisse auf. Ausgrenzung ist kein rein volkswirtschaftliches Phänomen, sondern eine Demütigung. Khaled Kelkal hat es so formuliert: „Was die Jugendlichen suchen, ist ein Job.“21 Irgendwann kommt der Augenblick, an dem es etliche als Beleidigung empfinden, keine Arbeit zu haben. Dann werden sie zum Klassenprimus im Drogenhandel, oder zu Gehilfen bei der Demütigung der eigenen Leute, oder – sie greifen zu den Waffen.

Denken die Mächtigen, die jedes Jahr in Davos zum Schaulaufen antreten, auch nur eine Sekunde an die Möglichkeit, daß die Machtgier auch die unteren Gesellschaftsschichten erfassen und zu einer Lawine werden könnte, die sie eines Tages wie einen Strohhalm hinwegfegen könnte?

Zur Erinnerung: Seit dem dritten Jahrhundert begannen die humiliores, die sich zum Rückgrat des Heeres entwickelt hatten, die honestiores (Stadtbürger) zu vernichten, von denen sie vorher ausgebeutet worden waren. Der Soldat liquidiert – als Retter in der Not nach einer gewaltigen Wirtschaftskrise – die verhaßten Eliten und löst so den Untergang der Gesellschaft aus, deren Teil er ist.

dt. Margrethe Schmeer

* Soziologe, Forschungsleiter am Centre national de la recherche scientifique (CNRS), Verfasser von u. a. “Complexe du loup-garou: la fascination de la violence dans la culture américaine“, Paris (La Découverte) 1994, und “Nature et démocratie des passions“, Paris (PUF) 1996.

Fußnoten: 1 Die hervorgehobenen Zitate sind den Werken zweier bedeutender Historiker der Spätantike entnommen: Michael Rostovtzeff, „Gesellschaft und Wirtschaft im Rom der Kaiserzeit“. 2 Bde., Leipzig 1929, abgekürzt M. R., und der französischen Ausgabe des Buches von Peter Brown, „La Tiare et la Mitre, le monde de l'antiquité tardive“ Paris (Thames & Hudson) 1995, abgek. P. B. 2 Ich dank Hélène Y. Meynaud für die sachkundigen Gespräche, die diesen Artikel vorbereiten halfen. 3 An ein Orakel gerichtete Fragen (Papyrus P. Oxyr, 1477; 3. Jh. n. Chr.). 4 Dazu Laurent Carroué, „Arbeiter und Studenten bändigen den Tiger“, Le Monde diplomatique, Februar 1997. 5 Studie des Sekretariats der OECD, Le Monde, 13. Februar 1997. 6 Auch in Frankreich bieten stock options den Spitzenmanagern die Chance, Wertpapiere ihrer Unternehmen zu 80 Prozent ihres Börsenwerts zu erwerben und sie mit einem Steuersatz von nur 18,5 Prozent wiederzuverkaufen. 7 Albert J. Dunlap mit Bob Andelman, „How I Save Bad Companies and Make Good Companies Great“, New York (Times Books) 1996, S. 199f. 8 Liturgien waren unentgeltliche Leistungen für das Gemeinwesen, die im späten Kaiserreich immer zahlreicher wurden und hauptsächlich zu Lasten der Kleinbürger (humiliores) gingen. 9 Alternatives économiques, Nr. 132, Dezember 1995. 10 Zitiert von Eric Leser in Le Monde, 15. Februar 1997, S. 17. 11 So die Feststellung von Yves Bonny bei Pierre Merle und Françoise Vatin, „La Citoyenneté d'aujourd'hui, extension ou régression“, Presses universitaires de Rennes 1995. 12 Vgl. Edgar Morin und Sami Nair, „Une politique de civilisation“, Paris (Arléa) 1996. 13 The New York Times, „The Downsizing of America“, New York (Times Books) 1996. 14 James Petras, John Cavaluzzi, „Wall Street fait la guerre aux salaires“, in „Le nouveau modèle américain“, Manière de voir, Nr. 41, Aug./Sept. 1996, S. 61-64. 15 Dazu Pierre Bourdieu in Libération, 25. Oktober 1996. 16 S. Sami Dassa und Dominique Maillard, „Exigences de qualité et nouvelles formes d'aliénation“, Actes de la recherche en sciences sociales, Paris, Dezember 1996, S. 28-37. 17 Vgl. dazu „Pratiques de la folie“, Aufruf vom 19. März 1997. 18 François Bonnet, „Le gouvernement face à une mobilisation inédite“, Le Monde, 14. Februar 1997. 19 Etienne Balibar, „Etat d'urgence démocratique“, Le Monde, 17. Februar 1997. 20 Libération, 7. Februar 1997. 21 „Moi, Khaled Kelkal“, Le Monde, 7. Oktober 1995.

Le Monde diplomatique vom 15.08.1997, von DENIS DUCLOS