14.11.1997

Ruinöse Verhältnisse

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Ruinöse Verhältnisse

Von IGNACIO RAMONET

IN Kioto versammeln sich vom 1. bis zum 12. Dezember die Vertreter von 150 Staaten. Sie beraten über Maßnahmen gegen die durch zunehmende Treibgasemissionen verursachte Erderwärmung. Ort des Geschehens ist der Ferne Osten, jene Region also, die gerade von einer Reihe finanzieller und ökologischer Katastrophen heimgesucht wird.

Bis vor kurzem wurden die alten und neuen „Drachen“ (Taiwan, Hongkong, Singapur, Süd-Korea, Indonesien, Philippinen, Malaysia, Thailand) von Institutionen wie Weltbank, IWF und OECD und von allen Weihrauchschwenkern des Neoliberalismus als nachahmenswertes Modell und Gegenbeispiel gegen „das Scheitern der Dritten Welt“ gerühmt, da geraten sie unversehens in schwerste Börsenturbulenzen. Nach dem Hongkonger Börsenkrach sind weltweit die Finanzmärkte ins Trudeln gekommen. Seither geht das Schreckgespenst vom Zusammenbruch des internationalen Währungssystems um.

Längst hat das so lange gepriesene Wachstumsmodell, in welchem sich billige Arbeitskraft, unterbewertete Währung und kompromißlose Exportwirtschaft mit einem hohen Zinssatz verbanden, der Spekulanten wie Investoren anlocken sollte, seine beispielsetzende Kraft eingebüßt. Flankiert womöglich von autoritären Herrschaftsstrukturen, wirkt dieses Modell nunmehr geradezu abschreckend.

Einige der von der Börsenkrise am stärksten betroffenen Länder – Indonesien und Malaysia – wurden obendrein Opfer ökologischer Katastrophen von ungeheurem Ausmaß. Tausende Großbrände sind außer Kontrolle geraten und haben auf den Inseln Sumatra, Borneo, Java und Sulawesi 800000 Hektar Wald vernichtet. Giftige Rauchwolken, groß wie ein halber Kontinent, ließen Städte wie Kuala Lumpur in Ruß und Dunkelheit versinken und lösten reihenweise Unfälle aus (beim Absturz eines Airbus kamen 234 Menschen ums Leben, ein Schiffsunglück forderte 29 Tote).

Offensichtlich existiert ein Zusammenhang zwischen der Finanz- und der Umweltkatastrophe. Mitverantwortlich für die Brände ist zwar eine von dem zyklischen Klimaphänomen El Niño ausgelöste Dürre, Hauptursache jedoch ist die rücksichtslose Rodungspolitik der letzten Jahrzehnte, die auf einem hyperproduktivistischen, rein exportorientierten, spekulativen und letztlich selbstmörderischen Modell basiert. Im Namen eines als Entwicklung ausgegebenen Wachstums wird die systematische Vernichtung der natürlichen Umwelt fortgesetzt. Die Zerstörungsprozesse, die Böden, Gewässer und Atmosphäre auf verschiedenste Weise betreffen, gehen immer weiter. Rasante Urbanisierung, Abholzung tropischer Regenwälder, Verseuchung von Grundwasser, Meeren und Flüssen, Aufheizung des Weltklimas, Ausdünnung der Ozonschicht, saurer Regen: all dies zusammengenommen gefährdet die Zukunft der Menschheit.

Alljährlich verschwinden sechs Millionen Hektar Ackerland im Zuge fortschreitender Versteppung. Weltweit führen Erosion und Überwirtschaftung zu einer immer schnelleren Erschöpfung landwirtschaftlicher Nutzflächen. Das ökologische Gleichgewicht ist durch die Umweltverschmutzung der nördlichen Industrieländer und die Armut des Südens empfindlich gestört. Und noch immer sterben infolge einer absurden wirtschaftlichen und politischen Logik unzählige Menschen an Hunger, leiden 800 Millionen an Unterernährung.1

2010 wird der Waldbestand der Erde gegenüber 1990 um 40 Prozent geschrumpft sein. Die Konzentration der Treibhausgase könnte bis 2040 eine globale Erwärmung um 1 bis 2 Grad sowie einen Anstieg des Meeresspiegels um 0,2 bis 1,5 Meter bewirken. Das ist zwar nicht sicher, aber wenn wir warten, bis wir wissenschaftliche Gewißheit haben, könnte es zu spät zum Handeln sein, weil der Anstieg der Ozeane dann vielleicht schon irreparable Schäden hinterlassen hat.

JÄHRLICH verschwinden 10 bis 17 Millionen Hektar Waldfläche, viermal das Territorium der Schweiz. Die Abholzung zerstört ein einzigartiges biologisches Erbe: 70 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten sind in den tropischen Regenwäldern beheimatet; jedes Jahr werden rund 6000 von ihnen ausgelöscht. Der Welt-Naturschutz- Union (UICN) zufolge werden in zehn Jahren 20 Prozent aller heute existierenden Arten ausgestorben sein.

Am stärksten betroffen sind die Tropenwälder. In Indonesien wurden seit den siebziger Jahren fast 80 Prozent des Regenwaldes der Insel Sumatra vernichtet. Und auf Borneo hat sich die Zahl der gefällten Bäume in den letzten sechzehn Jahren verfünffacht. Grund für diese Zerstörung ist zweifellos das rasche Anwachsen der Bevölkerung, die das Holz als Brennstoff und die Böden zur Landwirtschaft nutzt, vor allem aber die Ausbeutung der Wälder für die reichen Abnehmerländer.

Die Berliner Klimakonferenz im April 1995 hat die Erkenntnis bestätigt, daß der Weltmarkt den globalen Umweltrisiken nichts entgegensetzen kann und will. Der Schutz der Artenvielfalt und Lebensräume durch eine nachhaltige Entwicklung wird zum Gebot der Stunde: Eine „nachhaltige“ Entwicklung aber würde bedeuten, den künftigen Generationen eine Umwelt und Lebensqualität zu vererben, die zumindest der vorgefundenen entspricht.

Die westlichen Länder – insbesondere die USA, die für die Hälfte der CO2-Emissionen aller Industriestaaten verantwortlich sind – müssen die auf dem Umweltgipfel in Rio 1992 unterzeichneten Verpflichtungen einhalten. Aber sie tun es nicht. Während die Europäische Union dafür ist, den CO2- Ausstoß bis zum Jahre 2010 um 15 Prozent zu reduzieren, plant die Clinton- Regierung nur eine Senkung auf das Niveau von 1990, und auch das erst für das Jahr 2012. Für das Jahr 2008 ist zudem die Einführung übertragbarer „Verschmutzungs-Gutscheine“ vorgesehen. Etliche Regierungen des Südens wiederum weigern sich anzuerkennen, daß Schäden am Ökosystem dramatische Folgen für die gesamte Menschheit haben könnten.

Ohne eine kollektive Anstrengung wird es uns nicht gelingen, dem Planeten Luft zu verschaffen. Es ist höchste Zeit, im Norden wie im Süden mit einem Wachstumsmodell zu brechen, das die Welt in den Ruin treibt.

Fußnote: 1 Vgl. René Dumont, „Famines, le retour“, Paris (Politis-Arléa) 1997.

Le Monde diplomatique vom 14.11.1997, von IGNACIO RAMONET