13.02.1998

Das privatisierte Individuum

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Das privatisierte Individuum

DER am 26. Dezember 1997 verstorbene Philosoph und Psychoanalytiker Cornelius Castoriadis war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des französischen Geisteslebens. Der gebürtige Grieche kam 1945 nach Paris, wo er die Zeitschrift Socialisme ou Barbarie gründete. 1968 veröffentlichte er mit Edgar Morin und Claude Lefort „Mai 68, La brèche“. Sein Hauptwerk „Gesellschaft als imaginäre Institution“ erschien 1984, weitere wichtige Arbeiten sind als Sammelband publiziert: „Durchs Labyrinth: Seele, Vernunft, Gesellschaft“. Den nachstehenden Vortrag hat Castoriadis am 22. März 1997 in Toulouse gehalten.(1)

Von CORNELIUS CASTORIADIS

Die Philosophie ist keine Philosophie, wenn sie kein autonomes Denken äußert. Was bedeutet „autonom“? Es bedeutet autos-nomos, „der sich selbst sein Gesetz gibt“. In der Philosophie ist das klar: Sich selbst sein Gesetz geben bedeutet, daß man Fragen stellt und keinerlei Autorität akzeptiert. Nicht einmal die Autorität des eigenen bisherigen Denkens.

Genau damit hapert es übrigens ein wenig, denn die Philosophen errichten fast immer Systeme, die geschlossen sind wie ein Ei (siehe Spinoza, siehe vor allem Hegel, und ein wenig auch Aristoteles). Oder sie kleben an bestimmten Formen, die sie einmal geschaffen haben und dann nicht mehr in Frage stellen können. Gegenbeispiele gibt es nur wenige. Platon wäre zu nennen, ein weiteres Gegenbeispiel ist Freud, auch wenn er kein Philosoph war.

Autonomie im Bereich des Denkens ist gleichbedeutend mit unbegrenztem Fragen, das vor nichts haltmacht und sich ständig selbst in Frage stellt. Dieses Fragen ist kein leeres Hinterfragen; leeres Hinterfragen bedeutet nichts. Damit eine Fragestellung Sinn macht, muß man vorab eine Reihe von Begriffen als vorübergehend unstrittig setzen, sonst ist sie ein simples Fragezeichen und kein philosophisches Fragen. Das philosophische Fragen ist artikuliert und bereit, auf die Begriffe zurückzukommen, die den Ausgangspunkt der Artikulation gebildet haben.

Was aber bedeutet Autonomie in der Politik? Nahezu alle menschlichen Gesellschaften sind heteronom instituiert, also nicht autonom. Das heißt: Obwohl alle Gesellschaften ihre Institutionen selbst schaffen, findet sich in diesen Institutionen meist der für die Mitglieder dieser Gesellschaften unstrittige Gedanke verkörpert, daß diese Institution nicht Menschenwerk ist, nicht durch Menschen geschaffen wurde, jedenfalls nicht durch die im Augenblick lebenden Menschen. Sie wurde durch die Geister, die Ahnen, die Heroen, die Götter geschaffen, aber sie ist nicht Menschenwerk.

Einen erheblichen Vorteil bietet das stillschweigende Übereinkommen, das vielleicht doch nicht so stillschweigend ist: In der jüdischen Religion ist die Übergabe der Gesetze Gottes an Moses schriftlich niedergelegt, expliziert. Seitenlang wird im Alten Testament in allen Details das Regelwerk beschrieben, das Gott an Moses übergab. Und zwar nicht nur die Zehn Gebote, sondern sämtliche Gesetzesdetails. Und all diese Bestimmungen stehen außer Frage. Sie in Frage zu stellen hieße, entweder die Existenz Gottes oder seine Wahrhaftigkeit oder seine Güte oder seine Gerechtigkeit in Frage zu stellen. Doch all diese Attribute sind Gott wesensgleich. Dasselbe gilt auch für andere heteronome Gesellschaften.

Worin besteht nun der große Bruch, den zunächst die griechische Demokratie, später – in erweiterter, allgemeinerer Form – die Revolutionen der Moderne und die darauf folgenden revolutionären demokratischen Bewegungen einführen? In nichts anderem als in dem expliziten Bewußtsein, daß wir unsere Gesetze selbst schaffen und daß wir sie daher auch ändern können.

Die Gesetze im alten Griechenland beginnen ausnahmslos mit der Formulierung édoxè tè boulè kai to démo, „Es schien dem Rat und dem Volke gut“. Es „schien gut“, und nicht: „es ist gut“. Es wurde beschlossen, was in diesem Augenblick gut schien. Und in der Moderne haben wir in den Verfassungen die Idee der Volkssouveränität. In der Präambel der französischen Menschenrechtserklärung hieß es zum Beispiel: „Die Souveränität gehört dem Volk und wird von ihm entweder direkt oder vermittelt über seine Repräsentanten ausgeübt.“ Der Einschub „entweder direkt“ ist in der Folgezeit verschwunden, so daß uns nur noch die „Repräsentanten“ geblieben sind.

Es gibt also eine politische Autonomie, und diese politische Autonomie setzt das Wissen voraus, daß die Menschen sich ihre Institutionen selbst schaffen. Sie erfordert das Bestreben, diese Institutionen in Kenntnis der Sachlage, bei klarem Verstand und nach kollektiver Beratung zu setzen. Ich nenne dies kollektive Autonomie, deren absolut unerläßliches Pendant die individuelle Autonomie bildet.

Eine autonome Gesellschaft kann nur von autonomen Individuen gebildet werden. Und autonome Individuen können nur in einer autonomen Gesellschaft wirklich existieren.

Warum dieses? Aus dem einfachen Grund, weil ein autonomes Individuum eines ist, das soweit irgend möglich erst nach reiflichem Überlegen und Nachdenken handelt. Wenn es nicht so handelt, kann es kein demokratisches Individuum einer demokratischen Gesellschaft sein.

In welchem Sinn ist ein autonomes Individuum in einer Gesellschaft, wie ich sie beschreibe, frei? In welchem Sinn sind wir heute frei? Wir besitzen eine Reihe von Freiheiten, die als Produkt oder Nebenprodukt der revolutionären Kämpfe der Vergangenheit entstanden. Diese Freiheiten sind nicht nur formeller Natur, wie Karl Marx zu Unrecht behauptete. Daß wir uns versammeln dürfen, daß wir sagen dürfen, was wir wollen, ist keineswegs etwas Formelles. Aber es ist etwas Partielles, etwas Defensives, sozusagen Passives.

Wie kann ich frei sein, wenn ich in einer Gesellschaft lebe, die durch ein für alle verbindliches Gesetz regiert wird? Das erscheint als unauflösbarer Widerspruch, und viele haben daraus wie der deutsche Philosoph Max Stirner2 geschlossen, daß so etwas nicht existieren könne. In seinem Gefolge behaupteten die Anarchisten, eine freie Gesellschaft bedeute die völlige Abschaffung jeglicher Macht, jeglicher Gesetze. Stillschweigend vorausgesetzt war dabei, der Mensch sei von Natur aus gut und unter besagten Bedingungen werde diese Natur zum Vorschein kommen, ohne irgendeiner äußeren Regel zu bedürfen. Ich halte dies für eine unstimmige Utopie.

Ich kann sagen, daß ich in einer Gesellschaft, in welcher es Gesetze gibt, frei bin, sofern ich wirklich (und nicht nur auf dem Papier) die Möglichkeit hatte, an der Diskussion, Beratung und Gestaltung dieser Gesetze mitzuwirken. Die gesetzgebende Gewalt muß also wirklich in den Händen der Kollektivität, des Volks, liegen.

Dieses autonome Individuum ist im übrigen auch der eigentliche Gegenstand jeder wohlverstandenen Pychoanalyse. Die Problematik ist hier etwas anders gelagert, denn dem Schein nach ist der Mensch ein bewußtes Wesen; doch in den Augen eines Psychoanalytikers besteht er vor allem aus seinem Unbewußten. Und dieses Unbewußte ist ihm normalerweise nicht bekannt. Nicht weil er faul wäre, sondern weil es eine Schranke gibt, die ihm die Erkenntnis verwehrt. Diese Schranke heißt Verdrängung.

Wir werden zum Beispiel als psychische Monaden geboren, die sich als allmächtig erleben, die keine Grenzen kennen beziehungsweise keine Grenzen der Wunscherfüllung anerkennen, so daß alle Hindernisse, die sich dabei in den Weg stellen, verschwinden müssen. Und wir enden als Individuen, die wohl oder übel die Existenz anderer akzeptieren – wiewohl wir die anderen sehr häufig mit Todeswünschen bedenken (die sich in den meisten Fällen nicht erfüllen) – und die akzeptieren, daß die anderen denselben Anspruch auf Wunscherfüllung haben wie wir selbst. Dieser Wandel vollzieht sich im Zusammenhang mit einer grundlegenden Verdrängung, die all diese tiefliegenden Neigungen der Seele ins Unbewußte abschiebt und dort einen Gutteil unserer radikalen Phantasieprodukte festhält.

In Kenntnis der Dinge oder aus Leidenschaft?

EINE Psychoanalyse impliziert, daß das Individuum mittels psychoanalytischer Mechanismen dahin kommt, diese Schranke zum Unbewußten zu durchbrechen, das Unbewußte so weit wie möglich zu erkunden, unbewußte Triebregungen zu überprüfen und nicht ohne Überlegung zu handeln. Dieses autonome Individuum ist das Endziel des psychoanalytischen Prozesses.

Auf die politische Ebene bezogen, liegt es auf der Hand, daß wir ein solches Individuum brauchen, daß wir jedoch nicht sämtliche Individuen der Gesellschaft einer Psychoanalyse unterwerfen können. Daher rührt die enorme Bedeutung der Erziehung und die Notwendigkeit ihrer radikalen Reform, mit dem Ziel, sie zu einer wahrhaften paidaia, wie die Griechen sagten, umzugestalten, einer paidaia der Autonomie, einer Erziehung für die Autonomie und zur Autonomie, damit alle Erzogenen – nicht nur die Kinder – dahin kommen, sich ständig selbst zu befragen, ob sie in Kenntnis der Dinge handeln oder sich vielmehr durch eine Leidenschaft oder ein Vorurteil mitreißen lassen.

Nicht nur die Kinder, weil die Erziehung eines Individuums im demokratischen Sinn ein Unterfangen darstellt, das mit der Geburt beginnt und erst mit dem Tod endet. Alles was sich im Laufe des Lebens eines Individuums ereignet, wirkt bildend oder verbildend. Die Erziehung, die die Gesellschaft ihren Mitgliedern in der Grundschule, in den weiterführenden Schulen und an den Universitäten angedeihen läßt, beschränkt sich heute im wesentlichen auf die Vermittlung instrumenteller Fähigkeiten, das Erlernen einer beruflichen Tätigkeit. Und dann ist da noch die andere Erziehung, nämlich der Unfug, den das Fernsehen verbreitet.

Zur Frage der politischen Repräsentation meinte Jean-Jacques Rousseau, daß die Engländer sich im 18. Jahrhundert für frei hielten, weil sie alle fünf Jahre ihre Repräsentanten wählten. Und sie seien in der Tat frei, aber eben nur einmal alle fünf Jahre. Dabei ging Rousseau noch nicht weit genug. Denn es liegt auf der Hand, daß man auch an diesem einen Tag nicht frei ist. Warum? Weil man für Kandidaten zu stimmen hat, die von den Parteien vorgeschlagen werden. Man kann nicht irgendwen wählen. Und man hat seine Wahl in einer Situation zu treffen, die vom bisherigen Parlament fabriziert wurde, wodurch vorentschieden ist, in welchen Begriffen die aktuellen Probleme diskutiert werden können und daher auch, welche Lösungen, zumindest welche Lösungsmöglichkeiten sich aufdrängen – und diese sind den wirklichen Problemen fast nie angemessen.

Im allgemeinen läuft Repräsentation darauf hinaus, daß die Repräsentierten ihre Souveränität an die Repräsentanten veräußern. Das Parlament unterliegt keiner Kontrolle. Die Kontrolle findet nach fünf Jahren durch eine Wahl statt, doch die große Mehrheit des politischen Personals kann praktisch nicht abgewählt werden. In Frankreich ist es in Ansätzen möglich, anderswo weit weniger. In den USA etwa werden die Senatoren im Endeffekt auf Lebenszeit gewählt. Und so wird es bald auch in Frankreich sein. Um in den Vereinigten Staaten gewählt zu werden, braucht man ungefähr vier Millionen Dollar. Wer gibt einem diese vier Millionen? Nicht die Arbeitslosen, die Unternehmen geben dieses Geld. Und warum geben sie es? Damit der Senator so handelt, wie ihre Lobby in Washington es erwartet, damit er für Gesetze stimmt, die ihnen Vorteile bringen, und gegen Gesetze, die ihnen von Nachteil sind. Das ist der fatale Weg, auf dem sich unsere Gesellschaften befinden.

Man kann beobachten, wie sich dies auch in Frankreich durchsetzt, trotz aller angeblichen Vorkehrungen gegen die Korruption. Die Korruption der Politiker hat sich zu einem System- oder Strukturmerkmal unserer heutigen Gesellschaften entwickelt. Korruption ist ein integraler Bestandteil der Funktionsweise des Systems, es geht gar nicht mehr anders.

Wie sieht die Zukunft dieses Autonomnie-Projektes aus? Diese Zukunft hängt davon ab, ob die überwiegende Mehrheit aktiv wird. Man kann nicht mehr davon ausgehen, daß eine bestimmte Klasse dazu prädestiniert sei, etwa das Industrieproletariat. Es macht längst nur noch einen sehr geringen Teil der Bevölkerung aus. Man kann jedoch sagen – und ich gehe davon aus –, daß mit Ausnahme der 3 Prozent Privilegierten an der Spitze der Gesellschaft die gesamte Bevölkerung eigentlich ein persönliches Interesse an einem radikalen Wandel der Gesellschaft, in der sie lebt, haben müßte.

Statt dessen beobachten wir seit ungefähr fünfzig Jahren den Triumphzug der kapitalistischen imaginären Bedeutung, das heißt einer grenzenlosen Ausweitung der angeblich rationalen, angeblich erreichten Beherrschung sämtlicher Lebensbereiche; und auf der anderen Seite die Verkümmerung, die Auflösung der anderen großen imaginären Bedeutung der Moderne, das heißt der Autonomie.

Wird diese Situation von Dauer sein? Wird sie vorübergehen? Keiner kann das sagen. Prophezeiungen haben hier nichts verloren. Die derzeitige Gesellschaft ist sicherlich nicht abgestorben. Wir leben nicht in Byzanz oder im Rom des fünften nachchristlichen Jahrhunderts. Es gibt immer noch Bewegungen. Es gibt immer noch Menschen, die reagieren, nachdenken und ihre Ideen in Umlauf bringen. Im Vergleich zu den ungeheuren Aufgaben, die vor uns liegen, sind das nur winzige Ansätze, Bruchstücke. Aber für mich steht fest, daß das Dilemma, das wir zur Zeit von Socialisme ou Barbarie in Anlehnung an Leo Trotzki, Rosa Luxemburg und Karl Marx formuliert haben, noch immer Gültigkeit besitzt. Unter der Voraussetzung natürlich, daß man den Sozialismus nicht mit den totalitären Ungeheuerlichkeiten verwechselt, die Rußland in ein Ruinenfeld verwandelt haben, und auch nicht mit der absurden „Organisation“ der Wirtschaft, der maßlosen Ausbeutung der Bevölkerung und der völligen Knechtung des Kultur- und Geisteslebens, die dort Wirklichkeit geworden waren.

Warum ist die derzeitige Lage so ungewiß? Weil sich in der westlichen Welt mehr und mehr ein Typus von Individuum herausbildet, der mit dem Individuum einer demokratischen Gesellschaft oder einer Gesellschaft, in der man für mehr Freiheit kämpfen kann, nichts mehr zu tun hat: der Typus eines privatisierten Individuums, das sich in seinem kleinen persönlichen Umfeld abkapselt und der Politik nur noch mit Zynismus begegnet.

Bei Wahlen dominiert längst ein Zynismus. Die Menschen glauben nicht an das Programm, das ihnen präsentiert wird, sondern meinen, daß X oder Y ein kleineres Übel ist im Vergleich zu dem, was Z vor ihm war. Bei den nächsten Wahlen3 werden sicherlich ein Haufen Leute für Lionel Jospin stimmen, nicht etwa weil sie ihn mögen oder von seinen Ideen begeistert sind – das wäre verwunderlich –, sondern schlicht deshalb, weil sie die derzeitige Situation satt haben. 1995 war es übrigens genauso. Damals hatten die Leute die Nase voll von vierzehn Jahren angeblichem Sozialismus, der in Frankreich im wesentlichen einen hemmungslosen Liberalismus eingeführt und den Abbau der sozialen Errungenschaften aus der vergangenen Periode eingeleitet hat.

Unter dem Blickwinkel der politischen Organisation besteht eine Gesellschaft, explizit oder implizit, stets aus drei Teilen: 1) dem, was die Griechen oikos genannt hätten, „das Haus“, die Familie, das Privatleben; 2) der agora, dem öffentlich-privaten Platz, auf dem die Individuen sich treffen, diskutieren, Handel treiben, Verbände und Unternehmungen gründen, wo Theatervorstellungen stattfinden, ob private oder subventionierte spielt dabei keine Rolle. Das ist die seit dem 18. Jahrhundert so genannte societas civilis, die bürgerliche Gesellschaft (auch Zivilgesellschaft), eine Bezeichnung, die zu Mißverständnissen führte und es heute in noch stärkerem Maße tut; 3) der ecclesia, dem öffentlich-öffentlichen Ort, der Macht, dem Ort, an dem die politische Macht ausgeübt wird, existiert, niedergelegt ist.

Die Beziehung zwischen diesen drei Sphären darf nicht fest und starr, sondern muß beweglich und flexibel sein. Andererseits lassen sich diese drei Sphären auch nicht radikal voneinander trennen.

Der derzeitige Liberalismus behauptet, man könne den öffentlichen und den privaten Bereich vollständig voneinander trennen. Aber das ist unmöglich, und die Behauptung, man handle nach dieser Vorstellung, ist eine demagogische Lüge. Kein Staatshaushalt, der nicht in das privat-öffentliche Leben, ja in das Privatleben eingriffe. Und das ist nur ein Beispiel. Genausowenig gibt es eine Macht, die nicht genötigt wäre, ein Minimum an einschränkenden Gesetzen zu erlassen und zum Beispiel festzulegen, daß Mord verboten ist oder, um ein moderneres Beispiel zu nennen, daß das Gesundheits- und Bildungswesen subventioniert werden muß. Wir brauchen in diesem Bereich eine Art Zusammenspiel von Staatsgewalt und agora, das heißt die Gemeinschaft.

Nur unter einer wirklich demokratischen Regierung besteht die Möglichkeit, die drei Sphären ins rechte Verhältnis zu setzen, was nichts anderes heißt, als daß ein Höchstmaß an privater Freiheit gewährleistet ist, desgleichen die Freiheit der agora – was bedeutet, daß die Individuen auch in ihren gemeinsamen öffentlichen Aktivitäten ein Höchstmaß an Freiheit genießen –, und daß im übrigen alle Mitglieder der Gesellschaft an der Staatsgewalt teilhaben. Doch tatsächlich gehört diese Staatsgewalt heute einer Oligarchie, und ihre Tätigkeit findet faktisch im Geheimen statt, denn alle wesentlichen Entscheidungen werden hinter den Kulissen getroffen.

dt. Bodo Schulze

Fußnoten: 1 Vgl. Robert Redeker, „Werde autonom“, Le Monde diplomatique, September 1997. 2 Der deutsche Philosoph Max Stirner (1806- 1856) verfaßte unter anderem „Der Einzige und sein Eigentum“ (1845) und „Geschichte der Reaktion“ (1852). 3 Der Redebeitrag wurde am 22. März gehalten, also vor den vorgezogenen Parlamentswahlen im Mai/ Juni 1997, die Lionel Jospin im übrigen tatsächlich gewann.

Le Monde diplomatique vom 13.02.1998, von CORNELIUS CASTORIADIS