17.04.1998

Humanitäre Hilfe zum Völkermord

zurück

Humanitäre Hilfe zum Völkermord

Von ALEX DE WAAL *

DIE Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) hat einen Ausschuß aus bedeutenden Persönlichkeiten gebildet, der den ruandischen Völkermord und seine Folgen untersuchen soll. Dieser Beschluß vom 28. Februar wurde kaum wahrgenommen, ist aber höchst bemerkenswert: Der Ausschuß soll nicht noch einmal die individuelle Verantwortung für die Massaker ermitteln, was ja bereits dem Internationale Strafgerichtshof von Arusha obliegt; er soll vielmehr herausfinden, ob die internationalen Institutionen ihre in der Völkermord-Konvention von 1948 festgelegten Verpflichtungen erfüllt haben.1

Auch wenn die OAU nicht glaubt, daß sie ihre Ziele voll und ganz wird erreichen können, könnte diese einzigartige Initiative die Grundlage für ein neues Modell humanitären Eingreifens in Afrika sein – vergleichbar dem Modell, das die Alliierten Ende der vierziger Jahre für Europa schufen. So werden die Afrikaner u. a. den Vorwurf überprüfen müssen, die UNO und die OAU hätten mit ihrem Verhalten in Ruanda ihre Aufgaben sträflich vernachlässigt.

Der afrikanische Kontinent ist derzeit im Begriff, das hinter sich zu lassen, was man den afrikanischen „Weltkrieg“ nennen könnte. Vor zehn Jahren markierten die Konflikte in Angola, Äthiopien, Somalia und Sudan den Höhepunkt der blutigen innerstaatlichen Auseinandersetzungen. Und vor vier Jahren verkündete der US-amerikanische Journalist Robert D. Kaplan, Afrika stehe am Rande eines unentrinnbaren Chaos. Sein Artikel „Die kommende Anarchie“ wurde im Februar 1994 im Atlantic Monthly veröffentlicht (dt. in Lettre International, 1. Vj. 1996) und machte mit seinem abgrundtiefen Pessimismus einen nachhaltigen Eindruck auf etliche führende Politiker der westlichen Welt: Überbevölkerung, Epidemien, Umweltzerstörung und wachsende Kriminalität seien die wesentlichen Faktoren, welche die Sicherheit in Zukunft bedrohen, und der Westen verfüge über keinerlei angemessene Mittel, diesen Gefahren entgegenzutreten.

Manche Beobachter führen es direkt auf diese „Kaplandoktrin“ zurück, daß die Clinton-Administration nicht bereit war, in Ruanda während des Völkermords zu intervenieren. Dabei hegte der Journalist keineswegs isolationistische Absichten, sondern betonte im Gegenteil die Notwendigkeit, zu intervenieren, damit „das Elend Afrikas sich nicht destabilisierend auf die USA auswirken“ könne.

Hilfslieferungen um jeden Preis

AFRIKA war 1994 auf dem Tiefpunkt angekommen. Da sich nach dem Ende des Kalten Krieges die Hoffnungen auf einen weltweiten Frieden und einen allgemeinen Sieg der Demokratie schon bald zerschlagen hatten, erschienen die Probleme des Schwarzen Kontinents unlösbar. Allenthalben breiteten sich neue Formen des Krieges aus. Die zentralisierten Staaten lösten sich auf oder brachen zusammen; an die Stelle konventioneller Armeen traten jetzt plündernde Milizen und Guerillatruppen – ein Übel, das alsbald zur Epidemie wurde. „Erneuerer“ wie der heutige Präsident Liberias, Charles Taylor, hatten keine Skrupel, Kinder für ihre Elitetruppen zu rekrutieren und deren Gefügigkeit für besonders gefährliche Aufträge auszubeuten. Der grausame Terror der Renamo gegenüber der Zivilbevölkerung in Mosambik wurde zum Vorbild für die meisten Rebellenbewegungen. Diktatoren wie Mobutu Sésé Séko, denen man ständig ihren Sturz voraussagte, konnten sich ungehindert weiter bereichern, trotz – oder gerade wegen – des Niedergangs ihres Landes. Doch dann kam Ruanda. Hier nahm die Katastrophe nie dagewesene Ausmaße an: In knapp hundert Tagen wurden fast eine Million Menschen umgebracht.

Die Erscheinungsform des „neuen Krieges“ ist ein Phänomen, das sich immer weiter ausbreitet. Dieser Kriegstyp erwächst aus – zumeist manipulierten – Identitätskrisen; seine Akteure sind nichtstaatliche Truppen, die innerhalb der jeweiligen Region wirtschaftliche oder ethnische Ziele durchsetzen wollen. In ihrem Buch „New Wars“ beschreiben Mary Kaldor und Basker Vashee Beispiele aus allen Kontinenten, vor allem aus Europa.2 Doch nirgends entwickelte sich die Fragmentierung der militärischen Auseinandersetzungen so schnell und bedrohlich wie in Afrika.

Parallel zu dieser Entwicklung begannen die UNO und die anderen internationalen Organisationen, neue humanitäre Prinzipien zu entwerfen, die auch militärische Interventionen einschlossen. Am Anfang standen Überlegungen, die sich auf Einzelfälle bezogen. Etwa auf eine politische Lösung für Kambodscha oder darauf, zu verhindern, daß im Zuge des Exodus der irakischen Kurden vor laufenden Fernsehkameras ein Massaker stattfand. Auf Basis solcher Präzedenzfälle kam es alsbald weltweit zu entsprechenden Regelungen.

Seit der Verabschiedung der Genfer Konventionen von 1949 hatte sich das internationale humanitäre Recht vierzig Jahre lang vorrangig um den Schutz der Kriegsgefangenen, der Verwundeten und der Zivilbevölkerung bemüht. Der legale Raum für humanitäre Hilfe blieb höchst begrenzt, selbst nach der Überarbeitung der Genfer Protokolle im Jahre 1977. Die radikale Wende kam Anfang der neunziger Jahre, nach einer Reihe von Beschlüssen des UN-Sicherheitsrats – darunter die im Falle Bosnien, die zumeist auf dem notwendigen Schutz der humanitären Hilfskonvois beharrten. Auch die Operation „Restore Hope“ der USA war einzig und allein dazu gedacht, in Somalia ein sicheres Umfeld für die humanitäre Hilfe zu schaffen. So wurde die Durchführung der humanitären Hilfsaktionen zum wichtigsten Anliegen der internationalen Gemeinschaft, ohne daß dies je offen Thema gewesen wäre. Das internationale Recht sollte plötzlich in erster Linie den Schutz der „Hilfsgeber“ garantieren.

Auf diese Art und Weise entstand eine „humanitäre Indemnität“, eine Freiheit von Rechenschaftspflicht gewissermaßen. Sie beruht auf der Hypothese: Wer Hilfe bringt, tut automatisch das Gute und Richtige. Damit wird jedoch das internationale humanitäre Recht in ungewöhnlichem Maße verzerrt. Diese Verzerrung rührt unter anderem daher, daß die Konfliktparteien nicht anwesend waren, wenn die Resolutionen abgestimmt oder die „humanitären Prinzipien“ formuliert wurden. Und das mit gutem Grund, wenn man Robert Kaplan folgen will, denn die Vertreter der Konfliktparteien – in der Regel Kriegsherren, die einen undiziplinierten, ethnisch definierten Banditenhaufen befehligen – würden sonst in den Genuß einer formellen Anerkennung gelangen; im übrigen würden sie sich an solche Prinzipien ohnehin nicht halten.

Umgekehrt nutzen die neuen Doktrinen auch den institutionellen Interessen der UNO und ihrer Unterorganisationen. Das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlingshilfe (UNHCR) funktioniert keineswegs als diplomatische Vertretung der Flüchtlinge, es ähnelt de facto eher einem gewerblichen Nahrungsmittellieferanten, und seine Haushaltsansätze sind erheblich aufgestockt worden. Auch regierungsunabhängige Organisationen wie Care oder „Ärzte ohne Grenzen“ profitieren kräftig von der Ausweitung dieses privilegierten Schutzes.

Am deutlichsten traten die Auswirkungen der „humanitären Indemnität“ zweifellos in Somalia zutage. Bei ihrer Jagd auf den Fraktionschef Mohamad Farah Aidid haben UN-Soldaten mehrmals die Genfer Konventionen verletzt: sie schossen wahllos auf Zivilisten, bombardierten Krankenhäuser und verhafteten zahlreiche Somalis ohne jeglichen Anklagepunkt; laut The Philadelphia Inquirer haben die US-Truppen 1993 in Somalia mehr als 1000 Zivilisten getötet.3 Als der Autor den Militärankläger der UNO darauf ansprach, meinte dieser, die UNO habe die Genfer Konventionen nicht unterschrieben, sei also technisch nicht an diese gebunden; vielmehr handelten sie im Auftrage des Sicherheitsrates, der eine Genehmigung „aller notwendigen Maßnahmen“ einschließe.

Die meisten Beobachter ließen sich von den Schlachtszenen des Stadtkriegs in Somalia hypnotisieren und nahmen die Erneuerung des humanitären Rechtsbegriffs samt deren beunruhigenden Folgen nicht zur Kenntnis. Die Ereignisse nach dem Völkermord in Ruanda lieferten ein weiteres Beispiel, doch dieses Mal erkannten die internationalen Hilfsorganisationen, daß die Indemnität einen Preis hat.

Im Juli 1994 flüchteten fast eine Million Ruander nach Zaire, wo das UNHCR ihnen Hilfe und Schutz bot. Doch diese Menschen waren keine Flüchtlinge. Die Genfer Konvention von 1951 definiert einen Flüchtling als einen Menschen, „der aus begründeter Angst vor Verfolgung flieht“, und verbietet die Anwendung dieses Statuts auf Kriegsverbrecher. Nun geschah aber der ruandische Exodus in keinster Weise spontan, sondern wurde von denselben Kräften organisiert, die den Völkermord orchestriert und durchgeführt hatten und die in den Lagern in Zaire weiterhin das Leben der dort gefangenen Zivilisten kontrollierten. Die Verfolgung ging in diesem Fall wohl eher von den geflohenen Soldaten als von der Regierung Ruandas aus. Dennoch wurden diese genau wie die Zivilisten als „Flüchtlinge“ aufgenommen, versorgt und geschützt. Kein einziger wurde entwaffnet. In flagranter Verletzung der afrikanischen Flüchtlingskonvention blieben die Lager dicht an der ruandischen Grenze bestehen und dienten den Extremisten so als Militärstützpunkte.

Natürlich war eine Lösung nur schwer vorstellbar. Fest steht aber, daß das UNHCR, indem es die Lager und damit die extremistischen Milizen schützte, gewiß die Lage nicht verbesserte. Denn zur gleichen Zeit intensivierten die wieder einsatzfähigen Extremisten jenseits der Grenze im Westen Ruandas die Massaker unter den Überlebenden des Völkermords. Schließlich griff die ruandische Regierung zum letzten Mittel: der militärischen Offensive. Das UNHCR beschrieb die Lage daraufhin mit Begriffen, die direkt von Robert Kaplan hätten stammen können, und forderte eine internationale Intervention zum Schutz der Lager. Diese unterblieb zu guter Letzt, weil die ruandische Armee und die zairischen Rebellen vorher einen entscheidenden militärischen Sieg errangen, woraufhin die Mehrzahl der „Flüchtlinge“ (diesmal spontan) nach Ruanda zurückkehrten.

Im Namen der humanitären Prinzipien hatten das UNHCR und etliche Hilfsorganisationen also eine bewaffnete extremistische Gruppe „gedeckt“. Zweieinhalb Jahre lang hat die UN keinerlei Strafmaßnahme gegen die mißbräuchliche Verwendung ihrer Programme unternommen, ohwohl Hunderte Millionen Dollar Hilfsgelder zweckentfremdet wurden, um einen neuen Völkermord zu unterstützen. In den Augen vieler Afrikaner, unter anderem der Verantwortlichen in Ruanda und in mehreren Nachbarländern, haben die UNO und ihre Tochterorganisationen das internationale humanitäre Recht diskreditiert. Kein Wunder also, daß Kabilas Truppen bei ihrem Marsch auf Kinshasa den humanitären Hilfsorganisationen nur eine höchst begrenzte Rolle zugestanden. Die Situation hatte sich von einem Extrem ins andere verkehrt.

Zur eigenen Verantwortung stehen

DIE Begeisterung für die Idee der humanitären Intervention hat sich gelegt, der Pessimismus, der dieser Begeisterung zugrunde lag, ist verflogen. Zwar sind viele Konflikte in Afrika nach wie vor unlösbar (man denke etwa an den Sudan und an Sierra Leone), doch die neue Kriegsform hat sich keineswegs allgemein ausgebreitet. Verantwortlich dafür sind gewiß die militärischen Erfolge konventioneller Armeen, wie etwa in Ruanda und Eritrea; doch auch das politische Selbstbewußtsein vieler afrikanischer Staatsoberhäupter war nicht unwesentlich. In vielen Ländern agieren die staatlichen Handlungsträger inzwischen deutlich „konventioneller“, und man kann heute auf eine politische „Normalisierung“ Afrikas hoffen, die vor vier Jahren noch unvorstellbar schien.

Dennoch könnte die verlorene Glaubwürdigkeit der UNO die afrikanischen Verantwortlichen dazu verleiten, sich eine andere Art von „Indemnität“ zu genehmigen und alle möglichen Taten im Namen einer zweiten Befreiung des Kontinents zu rechtfertigen. Das humanitäre Völkerrecht kann in Afrika nur dann eine Renaissance erleben, wenn es mit den militärisch und politisch Verantwortlichen Afrikas ausgehandelt wird, die die Zukunft des Kontinents bestimmen. Entscheidend ist dabei, daß die „Doktrin“ der „humanitären Indemnität“ endgültig auf dem Müllhaufen der Geschichte landet und daß die Hilfsorganisationen ihre Aufgaben mit ein bißchen mehr Bescheidenheit wahrnehmen.

Genau wie die internationalen Organisationen sollten aber auch die afrikanischen Armeen und Regierungen einer Untersuchung unterzogen werden. Unabdingbar ist dabei, daß die Verbrechen und Fehler der Vergangenheit anerkannt werden. Der Ermittlungsausschuß der OAU für das Gebiet der Großen Seen gibt Afrika die Gelegenheit, zu seiner Verantwortung zu stehen.

dt. Christiane Kayser

* Mitdirektor von African Rights, London.

Fußnoten: 1 Konvention zur Vorbeugung und Unterdrückung von Völkermord, 9. Dezember 1948. 2 Mary Kaldor und Basker Vanshee, „New Wars“, London (Frances Pinter) 1998. 3 Zitiert nach The Observer, London, 22. März 1998.

Le Monde diplomatique vom 17.04.1998, von ALEX DE WAAL