10.07.1998

Pastranas Sieg

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Pastranas Sieg

Von IGNACIO RAMONET

BEI Einbruch der Nacht stürmen mehrere Dutzend Männer in Kampfanzügen und bis an die Zähne bewaffnet in ein Dorf. Sie treiben die Bevölkerung auf dem Marktplatz zusammen. Sie schwenken eine Namensliste. Danach selektieren sie einige Dorfbewohner und exekutieren sie unter den entsetzten Blicken der Verwandten. Einige Opfer werden erst gefoltert, dann schneidet man ihnen die Kehle durch oder enthauptet sie.

Solche Schreckensszenen tragen sich nicht nur in Algerien zu. Auch in Kolumbien sind sie an der Tagesordnung. Allein 1997 wurden 280 Massaker dieser Art gezählt; Tausende Menschen fielen ihnen zum Opfer. Zwanzig Gemeinderäte, elf Bürgermeister, drei Abgeordnete, ein Senator, zwei Gouverneure und Dutzende Menschenrechtsaktivisten wurden ermordet, darunter Eduardo Umaña Mendoza, ein bekannter Anwalt von Gewerkschaftern und politischen Gefangenen, der am 18. April dieses Jahres von bezahlten Killern aus nächster Nähe niedergeschossen wurde. Keiner der Urheber dieser Verbrechen wurde jemals verhaftet.

Dabei ist dieses Land, das 40 Millionen Einwohner zählt und zweieinhalbmal so groß ist wie Frankreich, durchaus keine Diktatur. Theoretisch gehört Kolumbien sogar zu den ältesten Demokratien Südamerikas. Dennoch liegt das Gewaltniveau hier höher als in den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern. Wie läßt sich das erklären?

Begonnen hat sozusagen alles im Jahre 1948, als Jorge Eliecer Gaitán, eine führende Persönlichkeit der Linken, in Bogotá ermordet wurde. Das Verbrechen löste einen Bürgerkrieg aus, der acht Jahre (1948-1957) dauern sollte. Diese „Violencia“ genannte Zeit, in der sich die beiden führenden politischen Kräfte des Landes – die Liberalen und die Konservativen – gegenüberstanden, kostete 300000 Menschen das Leben.1

Die Aussöhnung von Liberalen und Konservativen brachte weder die erhoffte Entwicklung noch eine Eindämmung der sozialen Ungleichheit. Mehrere bewaffnete Gruppen weigerten sich daher, ihre Waffen abzuliefern. Zwei davon, die „Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens“ (FARC) und das „Nationale Befreiungsheer“ (ELN), sind als die letzten beiden größeren Guerillaformationen Lateinamerikas noch heute aktiv. Die FARC kontrollieren mit 10000 Mitgliedern vor allem den südlichen Landesteil, das ELN (6000 Kämpfer) den Nordosten.

Gerade in diesen von der Guerilla kontrollierten Gebieten hat sich aber auch der Koka-Anbau ausgebreitet, und dort sind auch die Hochburgen der Drogenhändler. Diese merkwürdige Symbiose von Revolutionären und Rauschgifthändlern hat das Ansehen der dank Drogengeldern mitunter in Saus und Braus lebenden Guerilleros in den Augen zahlreicher Menschen ruiniert.

In denselben Gebieten stellen die Großgrundbesitzer vermehrt Bürgerwehren auf, deren Gesamtstärke auf 6000 Mann geschätzt wird. Sie haben sich zu der Organisation „Vereinigte Bürgerwehren von Kolumbien“ (AUC) zusammengeschlossen, um auch als politische Kraft zu firmieren. Wie die amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bestätigt, unterstützen diese Milizen die Armee.2 In einem im Mai dieses Jahres veröffentlichten Bericht schreibt sie, die Brigade 20 der Streitkräfte sei vor allem in die kürzliche Ermordung von Menschenrechtsaktivisten verwickelt.3 Diese paramilitärischen Gruppen haben sich als Todesschwadrone organisiert und üben bewußt Terror aus. Sie sind für die meisten Massaker verantwortlich und haben Hunderte ehemalige Guerilleros, mehr als 2000 Aktivisten der Kommunistischen Partei und 2200 führende Gewerkschafter ermordet. In den ländlichen Regionen verbreiten sie Angst und Schrecken. Nach Angaben von amnesty international sind heute in Kolumbien eine Million Menschen Flüchtlinge im eigenen Land.

DOCH auch die Städte geraten in den Strudel allgemeiner Unsicherheit. Ein Viertel aller Morde auf dem amerikanischen Kontinent werden in Kolumbien verübt (89,5 Morde pro 100000 Einwohner). Die USA beobachten diese Entwicklung mit Besorgnis. Der Befehlshaber der in Miami stationierten Schnellen Eingreiftruppe, General Charles Wilhem, erklärte: „Kolumbien stellt für die Sicherheit der Hemisphäre heute eine größere Bedrohung dar als Kuba.“4

Präsident Ernesto Samper, ein Liberaler, zeigte sich unfähig, das Land zu befrieden. Seine Autorität war angekratzt, seit ruchbar geworden war, daß das Kartell von Cali seine Wahlkampagne im Jahr 1994 mit Drogengeldern in Höhe von mehreren Millionen Dollar unterstützt haben soll.5 Die Regierung kontrolliert heute kaum 40 Prozent des Staatsgebiets, der Rest ist in den Händen von Guerilleros, Drogenhändlern und paramilitärischen Einheiten.

Der Wirtschaft geht es paradoxerweise gut. Das Land hat kaum Auslandsschulden, und das Wirtschaftswachstum ist seit den dreißiger Jahren ungebrochen. Die Wachstumsrate lag 1997 bei 3,2 Prozent und wird dieses Jahr 4,5 Prozent erreichen. Kolumbien exportiert Erdöl, Gas, Kohle, Smaragde, Kaffee und Blumen.6

Der Sieg des Konservativen Andrés Pastrana bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen gibt Anlaß zu Hoffnung. Nicht wegen seines Wahlprogramms, sondern weil alle friedliebenden politischen Kräfte – Gewerkschaften, demokratische Parteien, katholische Kirche, Universitäten, Medien, Bürgervereinigungen usw. – zum Handeln entschlossen sind, um die Dinge zu ändern und „für Frieden und gegen Korruption“ einzutreten, wie es der Schriftsteller Gabriel Garcia Márquez formulierte. Die Armee hat bereits die Auflösung der Brigade 20 angekündigt. Und die FARC hat ihre Bereitschaft erklärt, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Vielleicht besteht Aussicht auf ein Ende der Gewalt.

Fußnoten: 1 Siehe Maurice Lemoine, „Les 100 portes de l'Amérique latine“, Paris (L'Atelier) 1998, S. 109-120. 2 Le Monde, 18. August 1997. 3 El Pais, 13. Mai 1998. 4 Le Monde, 25. Mai 1998. 5 Newsweek, 20. Oktober 1997. 6 The Wall Street Journal, 16. März 1998.

Le Monde diplomatique vom 10.07.1998, von IGNACIO RAMONET