16.10.1998

Drei Rezepte gegen Spekulation und wildgewordene Finanzmärkte

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Drei Rezepte gegen Spekulation und wildgewordene Finanzmärkte

Während die sich ausbreitende Krise immer größere Teile der Weltbevölkerung ins Elend stürzt, werfen die überhitzten Finanzmärkte weiterhin astronomische Gewinne ab. Gleichzeitig entwickeln multinationale Unternehmen globale Strategien, um Steuern zu umgehen. In den vergangenen zwanzig Jahren ist das Steueraufkommen in den Ländern der Europäischen Union zunehmend zu Lasten der Arbeitnehmer umgeschichtet worden, während sich das weltweit mobile Kapital den Beiträgen immer mehr entzogen hat. Unterdessn betben die ärmsten und schwächsten Staaten nolens volens soziales und ökonomisches Dumping, um die Investoren anzuziehen. Es ist höchste Zeit, die globale Steuerungerechtigkeit zu unterbinden. Neben den bereits erörterten Vorschlägen des Ökkonomen James Tobin zu einer Besteuerung der Devisenmärkte wäre es möglich, Auslandsdirektinvestitionen zu besteuern und die Gewinnermittlung der Unternehmen auf eine realitätsnahe Basis zu stellen.Auch die Einrichtung eines Steuerkoeffizienten für die Einhaltung vonMenschenrechten in den Investitions-Empfängerländern wäre denkbar, um Investitionen in ungerechte Gesellschaften unrentabel zu gestalten.

Von HOWARD M. WACHTEL *

IN dem Maße, wie die Globalisierung alle Grenzen niederreißt, läßt sie auch die Steuerbasis des Staates schrumpfen. Sie untergräbt insbesondere die Fähigkeit der Regierungen, spekulative Finanzgewinne und die Erträge und Investitionen von Großunternehmen zu besteuern. Daß die Kapitalien der Industrieländer ständig über den Globus hin- und hergeschoben werden, macht es erheblich schwerer, die steuerpflichtigen Gewinne oder auch nur das steuerberechtigte Land zu ermitteln. Die ärmsten Entwicklungsländer wiederum versuchen, mit zahlreichen Steuervergünstigungen um jeden Preis Auslandsinvestoren anzuziehen. Auf diese Zugeständnisse verweisen die Großunternehmen ihrerseits gegenüber den Regierungen ihrer Herkunftsländer, um auch dort Steuererleichterungen durchzusetzen, wobei die schrumpfende Feststellungsgrundlage der Kapitalsteuern eine höhere Besteuerung der Arbeitseinkommen zur Folge hat.

Besonders deutlich ist dieser Zusammenhang in den Ländern der Europäischen Union. Gemessen an den Gesamteinnahmen des Fiskus sank der Anteil der Kapitalertragssteuern und der Einkommensteuern von Freiberuflern zwischen 1980 und 1994 von 50 auf 35 Prozent, während der Anteil der Steuerabgaben von abhängig Beschäftigten im selben Zeitraum von 35 auf 40 Prozent gestiegen ist. In den Vereinigten Staaten stammten 1990 nur noch 17 Prozent der Steuereinnahmen des Bundes aus Unternehmenssteuern; 1965 waren es noch 27 Prozent.1

Diese Umschichtung im Steueraufkommen rührt zum einen von den steigenden Kosten der sozialen Absicherung in den modernen Staaten, zum anderen von der größeren Mobilität des Kapitals. Das Steueraufkommen eines Staates hängt von seiner Fähigkeit ab, seine Besteuerungsgrundlagen zu erhalten. Arbeit, Kapital und Grundbesitz sind die drei Produktionsfaktoren, von denen das Kapital die höchste und der Grundbesitz die geringste Mobilität aufweist; die Arbeit liegt irgendwo dazwischen, jedoch näher am Grundbesitz, wenn man von den wenigen Superreichen absieht. Während die Arbeit aufgrund ihrer Ortsgebundenheit „unelastisch“ und leicht zu besteuern ist, kann das Finanzkapital, in zunehmendem Maß aber auch das Industriekapital, aufgrund seiner „Elastizität“ dem Fiskus ein Schnippchen schlagen. Die Mobilität des Faktors Arbeit wird durch Einwanderungsgesetze eingeschränkt, während die Mobilität des Kapitals im wesentlichen unbegrenzt ist.

Die „Schattenwirtschaft“ der Großunternehmen verläuft auf zwei Ebenen: Sie entzieht sich dem Fiskus und profitiert zusätzlich von einem wirtschaftsrelevanten Umfeld (Infrastruktur, Bildung usw.), das der Steuerzahler finanziert. Die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) beruft sich auf diese Realität: „Aufgrund der steigenden internationalen Mobilität der Ausrüstungs- und Finanzinvestitionen kann es sich als notwendig erweisen, die Besteuerung der Kapitalerträge zu verringern. So entfällt die Hauptsteuerlast auf den Faktor Arbeit, der die geringste Mobilität besitzt.“2

Die Globalisierung gefährdet aber auch die Staatseinnahmen aus Verbrauchssteuern als weitere staatliche Einkommensquelle. Mit dem Cyberspace hat die technologische Revolution eine Handelszone hervorgebracht, die außerhalb aller staatlichen Hoheitsgebiete liegt und deshalb derzeit Steuerfreiheit genießt.3 Ein niederländischer Verbraucher, der in einem Geschäft in Den Haag ein Computerprogramm kauft, zahlt automatisch die landesübliche Mehrwertsteuer mit. Aber welcher Steuersatz gilt dann, wenn er dasselbe Programm per Fernbestellung über das Internet bezieht? Der des Käuferlands oder der des Verkäuferlands? Und wie sollen die Regierungen die Spur solcher Transaktionen zurückverfolgen, wo das Internet doch, wie The Economist schreibt, „nicht nur die Staatsgrenzen abschafft, sondern auch die Identität der Unternehmen und Einzelpersonen verwischt, die über das Internet Geschäfte machen“4 ?

Die US-amerikanische Buchhandlung mit dem höchsten Umsatzzuwachs ist nicht etwa einer jener Megaläden, die in jeder größeren Stadt aus dem Boden schießen, sondern die Website von Amazon.com, die in einem Randbezirk von Seattle gemacht wird. Mit minimalen Gesamtkosten und einem „Lagerbestand“ von mehreren Millionen Titeln kann das Unternehmen seine Preise frei gestalten und eine Dienstleistung anbieten, von der traditionelle Buchhandlungen nur träumen können: Zu jeder Tages- und Nachtzeit kann der Kunde in aller Ruhe zu Hause im Katalog der vorrätigen Bücher „blättern“. Bald werden weiterentwickelte CD-ROM-Systeme genauso leicht per Internet zu übermitteln sein wie die heute üblichen Software-Programme, was den Weg für zahlreiche neue Konsumartikel freimacht. Der amerikanische Verkauf per Internet macht derzeit erst 0,1 Prozent des gesamten Verkaufsvolumens in den Vereinigten Staaten aus; in den nächsten fünfunddreißig Jahren könnte dieser Anteil jedoch Schätzungen zufolge auf 25 Prozent steigen.

Die Gruppen, die an einem globalen System der Besteuerung von Kapital und Kapitalerträgen interessiert sind, haben gleichwohl recht unterschiedliche Zielvorstellungen. Die einen treten für die Einführung einer Ökosteuer ein, die anderen für eine stärkere Besteuerung der Arbeitseinkommen, die einen wollen den Reichtum zwischen reichen und armen Ländern umverteilen, die anderen den Besitzstand der einkommensschwachen Schichten in den Industrieländern sichern, ganz zu schweigen von den Interessenunterschieden zwischen Entwicklungs- und Industrieländern.5 Den transnationalen Unternehmen und Finanzinstituten, die jedes globale Steuersystem ablehnen, kommen diese Differenzen natürlich wie gerufen. Dennoch gibt es zwischen den Interessengruppen, die von einem solchen System profitieren würden, genügend Gemeinsamkeiten, um einige konkrete Vorschläge formulieren zu können.

So empfahl der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger James Tobin bereits 1978, die im Spotgeschäft auf den Devisenmärkten realisierten Gewinne zu besteuern6 , als Antwort auf die Finanzmarktprobleme der ausgehenden siebziger Jahre (monetäre Instabilität nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems, Ölpreisschock, drastische Kurseinbrüche beim Dollar, intensive Wechselkurs- und Goldspekulation, Schwierigkeiten bei der Einführung des neuen Systems flottierender Wechselkurse). Die Besteuerung von Spekulationsgewinnen sollte also einen Beitrag zur Stabilisierung der Finanzmärkte leisten. Die weitere Verwendung dieser Steuereinnahmen hat Tobin damals nicht zentral interessiert. Er meinte nur beiläufig, es sei „angebracht, den Ertrag in die Kasse des IWF oder der Weltbank zu leiten“. Erst später rückte die Verwendung der Tobin-Steuer in den Mittelpunkt der Diskussion über ein globales Steuersystem.

James Tobin ließ sich bei seinem Vorschlag von einem der bedeutendsten Staatstheoretiker des 20. Jahrhunderts inspirieren, dessen Voraussicht noch heute frappierend wirkt: John Maynard Keynes schrieb bereits ein halbes Jahrhundert vor Auftreten des PCs und der modernen Informationstechnologien und Kommunikationssatelliten: „Mit der Verbesserung der Organisation von Investitionsmärkten nimmt aber die Gefahr zu, daß die Spekulation die Oberhand gewinnt. [...] Spekulanten mögen unschädlich sein als Seifenblasen auf einem steten Strom der Unternehmungslust. Aber die Lage wird ernsthaft, wenn die Unternehmungslust die Seifenblase auf einem Strudel der Spekulation wird.“7 Nach einer von James Tobin popularisierten Metapher spricht sich Keynes dafür aus, „ein bißchen Sand ins wohlgeschmierte Getriebe“ der Finanzspekulation zu werfen.

Anfangs schlug Tobin vor, sämtliche Devisentransaktionen mit 1 Prozent zu besteuern und diese Abgabe in allen Ländern gleichzeitig einzuführen, damit die Finanzinstitute ihre Währungsoperationen nicht in die Off-shore-Zentren verlegen.8 Die Steuer sollte den Zentralbanken ein gewisses Maß monetärer Autonomie gegenüber den privaten Finanzmärkten zurückgeben.9 Viele Staaten besteuern den Kauf von Wertpapieren (Aktien und Obligationen), um die Spekulation auf diesen Märkten in Grenzen zu halten. Keiner jedoch besteuert die Kapitalmassen, die auf den Devisenmärkten bewegt werden. Wie die Erfahrung mit der Besteuerung von Wertpapieren zeigt, verlagern sich diese Transaktionen dadurch keineswegs in die Off-shore-Zentren: Sie sind an einen bestimmten Marktplatz mit seinen Informationsquellen und persönlichen Kontaktmöglichkeiten gebunden. Bei der Besteuerung der Devisenspekulation wäre dies nicht der Fall, da physische Nähe auf diesen Märkten nicht zählt.10

James Tobin konnte die explosionsartige Zunahme des Devisenhandels nicht vorhersehen. Belief sich das tägliche Gesamtvolumen 1985 noch auf 150 Milliarden Dollar, so überstieg es im Laufe der neunziger Jahre die 1000-Milliarden-Dollar-Marke und liegt derzeit bei schätzungsweise 1800 Milliarden Dollar. Dabei handelt es sich nicht nur um das Spotgeschäft, sondern auch um Termingeschäfte, die sogenannten Futures, sowie Kaufs- und Verkaufsoptionen. Diese von Tobin nicht berücksichtigten Transaktionen müßte man irgendwie in die Bemessungsgrundlage der Spekulationssteuer miteinbeziehen.11

Die Handlungs- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD) hat den voraussichtlichen Ertrag der Tobin-Steuer hochgerechnet und Vorschläge für dessen Verwendung ausgearbeitet. Bei einem täglichen Transaktionsvolumen von 1000 Milliarden Dollar und einem Steuersatz von 1 Prozent ergeben sich nach Schätzungen der UNCTAD Jahreseinnahmen von 720 Milliarden Dollar12 – trotz des niedrigen Steuersatzes eine kolossale Summe. Nach einem ersten Entwurf der UNCTAD könnte dieser Steuerertrag in zwei Teile geteilt werden: 360 Milliarden gehen an die steuererhebenden Staaten, 360 Milliarden an einen Umverteilungsfonds zugunsten der ärmeren Länder.

Für den Erfolg oder Mißerfolg einer globalen Steuer sind folgende Kriterien ausschlaggebend: einfache und leichte Verwaltung, die Integration in eine „vernünftige“ Wirtschaftspolitik, um die auf jede Steuer allergisch reagierende öffentliche Meinung zu besänftigen, ein finanzieller Ertrag, der den politischen Kampf um die Einführung der Steuer lohnt, und die Einbindung der Länder der nördlichen wie der südlichen Hemisphäre. Die Tobin- Steuer erfüllt die ersten drei Voraussetzungen, wendet sich aber ausschließlich an die reichen Länder, insbesondere die Vereinigten Staaten, Japan und Großbritannien, wo der überwiegende Teil der Transaktionen auf den rund um die Uhr geöffneten Devisenmärkten abgewickelt wird. Die Dritte Welt würde von der Steuer vor allem profitieren, wäre an ihrer Umsetzung jedoch nicht beteiligt.

Als weitere Form der Kapitalsteuer kommt die Besteuerung von Auslandsdirektinvestitionen (ADI) in Gebäude und die dazugehörigen Ausrüstungsgüter und Technologien in Frage. Wie sie mit der Tobin-Steuer zu verknüpfen wäre, liegt auf der Hand. Wenn die Finanzsphäre einen wachsenden Anteil des Reichtums aufsaugt und Direktinvestitionen vernachlässigt werden, droht den einzelnen Staaten eine Gefahr, die Keynes bereits in den dreißiger Jahren beschrieben hat: Wenn „die Kapitalentwicklung eines Landes das Nebenerzeugnis der Tätigkeiten eines Spielsaales wird, wird die Arbeit voraussichtlich schlecht getan werden“13 . Ursprünglich bezogen sich die Unternehmenssteuern auf den Unternehmensgewinn. Dieser Ansatz brachte in den ersten Nachkriegsjahrzehnten gute Resultate und versorgte die Regierungen mit handfesten Steuereinnahmen. Doch bei der heutigen Globalisierung und Volatilität der Kapitalien bereitet die Ertragssteuerveranlagung außerordentliche Schwierigkeiten.

Die Widersprüche der Marktfundamentalisten

SEIT Beginn der siebziger Jahre verstehen es die transnationalen Unternehmen immer besser, namentlich mit Hilfe der sogenannten Transferpreise Steuern zu umgehen, wobei diese Strategie zunächst im Warenhandel, später auch bei den Dienstleistungen angewandt wurde.14 Wenn ein Unternehmen die Herstellung eines komplexen Produkts auf mehrere Länder verteilt, nimmt es zahlreiche unternehmensinterne Buchungsoperationen vor, die nicht auf dem eigentlichen Markt in Erscheinung treten. Es läßt die Produktkomponenten in verschiedenen Ländern fertigen, erbringt die dazugehörigen Dienstleistungen an verschiedenen Orten, fügt alle irgendwo auf dem Globus zum Endprodukt zusammen, betreibt seine Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten an allen Ecken der Welt, verkauft die Ware weltweit und managt den Herstellungs- und Verkaufsprozeß an mehreren Unternehmenssitzen. Mit welchem „Preis“ diese Aktivitäten auf dem unternehmensinternen Markt bewertet werden, liegt ausschließlich in seiner Entscheidung, so daß es hohe Kosten – also niedrige Gewinne – in Ländern mit hoher Steuerbelastung ausweist und Profite dort deklariert, wo der Staat die geringsten Steuern erhebt.

Nike beispielsweise läßt alle Tätigkeiten mit intensiven Arbeitskosten (Forschung und Entwicklung, Marketing und Management) in den Vereinigten Staaten erledigen, um dort bescheidene Gewinne auszuweisen. Die anderen Produktionsaktivitäten wurden nach Indonesien, ein Land mit geringer Steuerbelastung, verlagert. Das Unternehmen verfolgt damit eine globale Steuerstrategie. Die Regierungen der jeweils betroffenen Länder können diese Art der Manipulation, wenn überhaupt, nur unter größten Schwierigkeiten nachweisen: Das Beweisverfahren ist derart kostspielig, daß es die Mühe nicht lohnt.

Damit die steuerliche Veranlagung des Kapitals wirklich greift, müssen die Regierungen an einer Unternehmensaktivität ansetzen, die sich der Besteuerung nicht entziehen kann: an den Auslandsdirektinvestitionen. Die führenden ADI-Empfängerländer haben auch das niedrigste Lohnniveau, die schlechtesten Arbeitsschutzgesetze, die schlimmste Umweltzerstörung und die geringsten Kapitalsteuern. Weltweit sind die ADI innerhalb von zwölf Jahren auf fast das Sechsfache gestiegen: 1985 lagen sie bei 60 Milliarden Dollar, 1995 bei 315 Milliarden und 1997 bei 355 Milliarden Dollar. Der Anteil dieser Investitionsströme, der in die Dritte Welt fließt, lag in den letzten Jahren höher als je zuvor und ist heute bei 40 Prozent angekommen. Zwischen 1990 und 1995 stieg er von 20 auf 35 Prozent. Damit investieren die OECD-Länder jährlich rund 130 Milliarden Dollar in Ländern der Dritten Welt, mehr als 40 Milliarden davon allein in China.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, auf welche Weise die Niedriglohnländer, die sämtliche Normen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in puncto Gewerkschaftsfreiheit, Kinderarbeit, Häftlingsarbeit und Zwangsarbeit mißachten, in die Weltwirtschaft integriert werden sollen.15 Überdies haben die transnationalen Unternehmen schnell begriffen, daß man nicht nur die arbeitsintensivsten Tätigkeiten in Niedriglohn- und –steuerländer verlagern kann, sondern auch hochqualifizierte Tätigkeiten, die seitens der Empfängerländer hohe Investitionen an Humankapital erfordern.

Die Gewerkschaften in den Industrieländern sehen dadurch die Löhne, die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsplatzsicherheit ihrer Mitglieder bedroht. Zwar werden die Auswirkungen der Produktionsverlagerung in Niedriglohnländer in etlichen Studien heruntergespielt16 , doch die Großunternehmen und ihre regierungsamtlichen Schaltstellen sind ersichtlich anderer Ansicht. Erstere verweisen bei Lohnverhandlungen und drohenden Fabrikschließungen immer wieder auf die Konkurrenz der Niedriglohnländer. Letztere greifen auf dasselbe Argument zurück, um die Arbeit ständig noch weiter zu flexibilisieren. Beide spielen dabei ein doppeltes Spiel, wie übrigens auch die OECD: In ihrem bereits zitierten Bericht fordert die Organisation auf der einen Seite mehr Flexibilität – Senkung der Sozialleistungen, Lockerung der Arbeitsgesetzgebung –, behauptet gleichzeitig jedoch, besagte Konkurrenz spiele dabei keine Rolle.

Eine Besteuerung der Auslandsdirektinvestitionen sollte zum einen der Steuerflucht vorbauen, die durch die Mobilität des Kapitals ermöglicht wird, und zugleich helfen, die Grundrechte der Arbeitnehmer in den Empfängerländern sicherzustellen. Und dies, ohne die armen Länder von den Investitionsströmen abzuschneiden oder den Unternehmen vorzuschreiben, wo sie zu investieren haben. Die Steuer bezöge sich auf alle Direktinvestitionen, gleichgültig ob sie in den reichen oder den armen Ländern getätigt werden. Der Steuersatz würde mit einer vom Internationalen Arbeitsamt (IAA) vergebenen „Note“ gewichtet, in der sich widerspiegelt, inwieweit das Empfängerland die Grundrechte der Arbeiter (Gewerkschaftsrechte, Verbot von Kinderarbeit usw.) respektiert, wobei das Lohnniveau nicht in die Bewertung eingehen soll. Die Strenge der Bewertungskriterien könnte je nach Entwicklungsniveau variieren.

Dem Einwand, diese Maßnahme stelle eine indiskutable Behinderung der „Freiheit des Handels“ dar, ist entgegenzuhalten, daß sie diese Freiheit im Gegenteil gerade gewährleisten will. Wenn die Rechte der Arbeitnehmer mit Füßen getreten werden, ist ein besonders heikler Markt, der Arbeitsmarkt nämlich, gerade nicht frei. Echter Freihandel setzt voraus, daß im gesamten System Freiheit herrscht. Ein unfreier Arbeitsmarkt ist mit der Rede vom freien Handel völlig unvereinbar.

Der Höchststeuersatz, der bei Investitionen in Empfängerländer erhoben würde, die die Grundrechte der Arbeitnehmer am wenigsten respektieren, könnte etwa zunächst bei 20 Prozent liegen. Bei Ländern, die diese Rechte stärker achten oder entsprechende Anstrengungen erkennen lassen, könnte der Steuersatz bis auf 10 Prozent gesenkt werden. Eine klare Botschaft an die Adresse der transnationalen Unternehmen: Sie können investieren, wo immer sie wollen, aber sie werden höher besteuert, wenn sie sich für Länder entscheiden, die die schlechtesten sozialen Bedingungen aufweisen.

Gerechtfertigt ist eine Besteuerung der Auslandsdirektinvestitionen vor allem deshalb, weil die Regierungen der Kapitalexportländer einen Teil der durch die Mobilität des Kapitals verursachten Kosten – insbesondere die Arbeitslosigkeit – durch Besteuerung der betroffenen Bevölkerung – im Wirtschaftsjargon „immobiler Produktionsfaktor“ genannt – finanzieren müssen. Auch die Entwicklungsländer könnten von einer solchen Maßnahme nur profitieren. Der hemmungslose Wettlauf um Auslandsinvestitionen führt zu einer ständigen Herabsetzung der sozialen Normen und läßt sie in Dauerarmut versinken. Diese Politik führt in eine Sackgasse, da sich stets ein Land finden wird, das noch niedrigere Löhne anbietet und die Rechte der Arbeitnehmer noch drastischer einschränkt. Eine variable Steuer auf die Auslandsdirektinvestitionen würde eine nachhaltige, sozial fortschrittliche Entwicklung fördern und damit aus der Geschichte des wirtschaftlichen Aufschwungs die nötigen Lehren ziehen.

Ein Höchststeuersatz von 20 Prozent würde ein jährliches Steueraufkommen zwischen 65 und 32,5 Milliarden Dollar erbringen, je nachdem, welchen Bezugszeitraum man wählt und welche Steuerdegression man ansetzt.17 Das wäre zwar weitaus weniger als die 720 Milliarden der Tobin-Steuer, aber für die Entwicklungsländer hätte die ADI-Steuer zwei wesentliche Vorteile: Sie packt die strukturellen Ursachen von Niedriglöhnen und unmenschlichen Arbeitsbedingungen bei der Wurzel, und sie erspart im Gegensatz zur Spekulationssteuer den schwierigen politischen Kampf um die Umleitung eines Teils des Steueraufkommens in Richtung Süden. Im übrigen könnte man sich durchaus eine Kombination beider Steuerarten vorstellen.

Eine zweite wichtige Maßnahme, mit der man die Kapitalbesteuerung umstrukturieren könnte, ist die Unterbindung der Steuerflucht mittels manipulierter Transferpreise. Dies erfordert eine andere Gewinnberechnung und eine Festlegung des Orts, an dem die Steuern anfallen. Hier würde sich eine Methode nach Art der amerikanischen unitary tax anbieten. Diese beruht auf Bemessungsgrundlagen, die bekannt und nur schwer zu manipulieren sind: auf dem konsolidierten weltweiten Gewinn sowie dem weltweiten bzw. dem in jedem einzelnen Land anfallenden Umsatz. Um den Besteuerungsmaßstab für ein gegebenes Land zu berechnen, dividiert man den landesweiten Umsatz durch den weltweiten Umsatz des Unternehmens. Diesen Prozentsatz multipliziert man dann mit dem konsolidierten weltweiten Gewinn und erhält so den steuerpflichtigen Gewinnanteil für dieses Land. Nehmen wir an, Nike erwirtschaftet einen konsolidierten weltweiten Gewinn von 1 Milliarde Dollar und tätigt 40 Prozent seines Umsatzes in den Vereinigten Staaten. Nach der neuen Berechnungsmethode hätte das Unternehmen in den Vereinigten Staaten damit einen Gewinn von 400 Millionen Dollar erwirtschaftet und würde dementsprechend steuerlich veranlagt. Der große Vorteil dieser „Einheitssteuer“: Sie löst das Problem der Transferpreise, sie ist leicht zu berechnen und zu erheben, und sie schränkt die Möglichkeiten zur Steuerflucht drastisch ein. Sie wird sowohl im Norden als im Süden angewandt, und für die Länder der Dritten Welt schwindet der Druck, sich als Steueroasen zu profilieren.

Diese drei Steuerarten – die Tobin- Steuer, die Steuer auf Auslandsdirektinvestitionen und die Einheitssteuer – bilden ein Argumentationsreservoir, aus dem alle schöpfen können, die für mehr Gerechtigkeit und Fairneß in der Welt eintreten. Die „Eliten“ haben die Modernisierung und Globalisierung schon lange als Begriffskanone entdeckt, um die sozialen Sicherungssysteme, die armen Bevölkerungsgruppen der Industrieländer und die ärmsten Entwicklungsländer unter Beschuß zu nehmen. Es wird Zeit, ihnen zu zeigen, daß auch die Kräfte, die ihnen Widerstand entgegensetzen, die Waffen der Modernisierung und Globalisierung zu bedienen wissen.

dt. Bodo Schulze

* Professor für Wirtschaftswissenschaften und Dekan des College of Arts and Sciences an der Amercian University (Washington), Mitglied des Transnational Institute (Amsterdam).

Fußnoten: 1 Um auf diese Prozentangaben zu kommen, muß man die Sozialabgaben der Unternehmen vom bundesstaatlichen Steuergesamtaufkommen abziehen. Vgl. Council of Economic Advisers, „Economic Report of the President“, Washington 1995, S. 367. 2 OECD, „Taxation and Economic Performance“, 3. März 1997. 3 Vgl. Bernard Cassen, „Adieu au rêve libertaire d'Internet“, Le Monde diplomatique, August 1997; Herbert I. Schiller, „Tendenzen des US-Imperialismus“, Le Monde diplomatique, August 1998. 4 The Economist, 31. Mai 1997. 5 Die Frage der Ökosteuern wird hier absichtlich ausgespart, um die konzeptionelle Einheit unserer Beschäftigung mit dem Problem der Unternehmenssteuern und der Besteuerung der anderen Produktionsfaktoren zu wahren. 6 James Tobin, „A proposal for international monetary reform“, in: ders., „Essays in Economics. Theory and policy“, Cambridge/Mass. 1982 (MIT Press), Seiten 488-494. Wie Tobin schreibt, schlug er die Einführung dieser Steuer bereits 1972 vor, doch damals „hatte die Idee denselben Effekt, als würde man einen Stein in einen Brunnen werfen“. Vgl. Ibrahim Warde, „Liberale Musterknaben und designierte Sitzenbleiber“, Le Monde diplomatique, Februar 1997. 7 John Maynard Keynes, „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“, dt. v. Fritz Waeger, Berlin (Duncker und Humblot) 1994; vgl. Michel Beaud und Gilles Dostaler, „Keynes oder Der Geist der praktischen Verantwortung“, Le Monde diplomatique, Dezember 1996. 8 Barry Eichengreen, James Tobin u. Charles Wyplosz, „Two Cases for Sand in the Wheels of International Finance“, The Economist Journal, 105 (Januar 1995). 9 Vgl. Howard M. Wachtel, „The Money Mandarins“, Amonk/NY (ME Sharpe Editions) 1990. 10 Vgl. Joseph E. Stiglitz, „Using Tax Policy to Curb Speculative Short-Term Trading“, Journal of Financial Services Research, 3 (1989). 11 Gute Gründe sprechen dafür, die „Futures“ der Tobin-Steuer zu unterwerfen, da auch sie ein spekulatives Finanzinstrument darstellen. Die Optionen werfen hingegen das Problem der Doppelbesteuerung auf. Bisher gibt es keine Untersuchung, die diesen Fragenkreis mit dem nötigen differenzierten Instrumentarium angeht. 12 Zur Berechnungsmethode vgl. David Felix, „The Tobin Tax Proposal“, Futures, 27 (2), 1995. 13 John Maynard Keynes, a. a. O. 14 Vgl. Vito Tanzi, „Taxation in an Integrating World“, Washington (The Brookings Institution) 1995. 15 Vgl. Bernard Cassen, „Moraliser le libre- échange“ und „Pas de prime à l'exploitation de la main d'uvre“, Manière de voir, 32 (“Scénarios de la mondialisation“), November 1996. 16 Matthew Slaughter u. Philip Swagel, „The Effect of Globalization on Wages in the Advanced Economies“, IWF-Arbeitsspapier, April 1997. 17 Berechnungsgrundlage war der Stand der Auslandsdirektinvestitionen Mitte der neunziger Jahre (325 Milliarden Dollar jährlich). Die zu erwartenden Steuereinnahmen hängen von der „Benotung“ der sozialen Standards und dem Steuersatz ab.

Le Monde diplomatique vom 16.10.1998, von HOWARD M. WACHTEL