16.10.1998

Kleine Lösungen für große Aufgaben

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Kleine Lösungen für große Aufgaben

WIE für viele Länder bedeutete die Globalisierung auch für den Senegal einen harten Einschnitt. Der schlimmste Moment dieser „Anpassung“ im Eilverfahren kam vor fünf Jahren, als der CFA-Franc um 100 Prozent abgewertet wurde. Inzwischen ist das „Experiment Senegal“, das lange Zeit als Musterbeispiel gerühmt wurde, an die Grenzen seiner Möglichkeiten gestoßen: Die Schattenwirtschaft ist überallhin vorgedrungen, die innenpolitische Situation scheint verfahren, ein Teil der Führungsschicht ist in Korrupionsafären verstrickt, und es steht zu befürchten, daß der endlose Sezessionskrieg in der Casamance weitergehen wird. Die einzige Hoffnung liegt darin, daß die „Zivilgesellschaft“ an Einfluß gewinnen könnte.

Von TOM AMADOU SECK *

Als erstes Land südlich der Sahara hat Senegal 1984 ein Strukturanpassungsprogramm in Kraft gesetzt. Die Institutionen von Bretton Woods zeigten sich zufrieden mit der Entwicklung des Landes, und im April 1998 sind mit der Weltbank ein neuer Strukturanpassungsplan und ein dritter Strukturanpassungskredit (“Facilité d'ajustement structurel renforcé“, FASR) für die Jahre 1998 bis 2000 vereinbart worden. Die Wachstumsrate lag 1997 ungefähr bei 5 Prozent, und der Internationale Währungsfonds (IWF) hat den Umgang mit den großen makroökonomischen Indikatoren für gut befunden.1 Doch trotz der guten Ergebnisse der beiden dynamischsten Sektoren, Fischerei und Tourismus, bleibt das wirtschaftliche Gleichgewicht prekär. Der Niedergang der Ertragslandwirtschaft (Erdnuß, Baumwolle und Reis) wirkt sich in der Tat auf alle Wirtschaftssektoren aus.

Das Strukturanpassungsprogramm stößt auf zahlreiche Probleme: die Ausweitung des informellen Wirtschaftssektors, die Zunahme von Armut und sozialen Spannungen (Streiks, wachsende Kriminalität in den Städten). Die verschiedenen entwicklungspolitischen Rezepte, die seit der Unabhängigkeit erfolglos angewandt worden sind, hatten ihren sozialen Preis. Für die Mehrheit der Bevölkerung ist der Zugang zu Grundversorgungsleistungen (Bildung, Gesundheit, Trinkwasser, Strom, kollektive Infrastrukturen) immer schwieriger geworden. Eine Reihe von Untersuchungen belegen, daß zwei Drittel der Einwohner Senegals unter der Armutsgrenze leben. 1997 ergab eine Studie, die das senegalesische Statistische Amt zur Lage der Privathaushalte durchführte, daß „die Senegalesen hoch verschuldet sind und über ihre Verhältnisse leben“2 . Eine andere, von ortsansässigen Forschern durchgeführte Studie stellt fest: „Nur 16,7 Prozent aller Haushalte haben fließendes Wasser, 23 Prozent Strom. In Dakar genießen 24,7 Prozent der Haushalte das Privileg eines annehmbaren Abwassersystems, 36 Prozent besitzen einen Fernseher, 28,6 Prozent einen Kühlschrank, 11,8 Prozent ein Auto.“3

In ihren Verlautbarungen geben die Vertreter der Weltbank heute der Unterstützung des Bildungs- und des Gesundheitssektors Vorrang. Doch trotz der 14,9 Millionen Dollar, die bereits in ein computergestütztes Verwaltungs- und Frühwarnsystem zur Bekämpfung der großen Massenkrankheiten (Malaria, Bilharziose, Onchozerkose) gesteckt wurden, bleibt noch sehr viel zu tun: 40 bis 50 Prozent der Arztbesuche und Ausgaben von 3,16 Milliarden Franc CFA4 (etwa 1 Prozent des Bruttosozialprodukts) werden durch die 450000 erfaßten Malariafälle pro Jahr verursacht. Laut einem Bericht der Unicef sind die öffentlichen Pro-Kopf-Ausgaben in den Bereichen Gesundheit und Bildung von 1980 bis 1991 real um 20 Prozent gesunken.

Senegal wendet 74 Prozent seiner regulären Staatsausgaben für den Schuldendienst auf und kann es sich nicht leisten, für diese unterversorgten Bereiche die 20 bis 25 Prozent der Strukturanpassungsgelder zu verbrauchen, die zur Einrichtung eines minimalen „sozialen Netzes“ nötig wären. Seit der Abwertung des CFA- Franc Ende Januar 1994 ist die Arbeitslosigkeit gestiegen; in den Städten ist nun mehr als ein Viertel der erwerbsfähigen Bevölkerung betroffen. Die Situation verschärft sich durch dramatischen Bevölkerungszuwachs und den Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion. Heute leben mehr als 40 Prozent – im Erdnußanbaugebiet sogar mehr als 50 Prozent – der ländlichen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Der Bericht des Statistischen Amts konstatiert abschließend „ein Auseinanderbrechen und eine Neuzusammensetzung der Kernfamilie. In manchen Haushalten wohnen bis zu vier Generationen unter einem Dach.“ Die Urbanisierungsrate von etwa 40 Prozent bedeutet in der Praxis die Ausweitung der Vorstadtsiedlungen und ist von einem Anwachsen der Schattenwirtschaft begleitet5 , die in der Krise ein echtes Sicherungs- und Überlebenssystem bedeutet, sowie vom Ansteigen der Kriminalität. Im November 1997 hatte Präsident Abdou Diouf im Ministerrat zur „allgemeinen Mobilisierung gegen die Unsicherheit und den Schmutz in den senegalesischen Städten“ aufgerufen.6

Heute übernehmen die Schattenwirtschaft und die Bürgerbewegungen wesentliche Aufgaben, die die staatlichen Einrichtungen nicht mehr gewährleisten können – dies gilt insbesondere für die öffentliche Sicherheit. In manchen Vierteln haben sich private Selbstverteidigungsmilizen gebildet. Die Europäische Union finanziert erfolgreich Maßnahmen zur direkten Unterstützung kleiner Hersteller und Händler – der „Stiefkinder des Wachstums“ – im Sektor der Schattenwirtschaft. Auch die Islamische Entwicklungsbank hat im Senegal ihr erstes Programm im selben Bereich gestartet.

Nach einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) dürfte „die Wirtschaft der kleinen Leute in den afrikanischen Städten 93 Prozent der künftigen Arbeitsplätze schaffen. Heute leben fast zwei Drittel der schwarzafrikanischen Bevölkerung von diesem Sektor, er erzeugt mehr als die Hälfte der Gesamtproduktion des subsaharischen Afrika ...“7 Doch die wirtschaftliche und soziale Bedeutung dieses Bereichs wird nicht anerkannt, und juristisch ist er in keiner Weise definiert. Vielen gilt er sogar als illegal, wenn nicht gar als „mafiös“.

Die Rolle der Zivilgesellschaft

IN den Ländern, in denen ihre Bedeutung anerkannt wird und man sie nicht zu verdrängen versucht, schaffen die städtischen und ländlichen Kleinstunternehmen dauerhaftes Wachstum, bieten Grundversorgungsleistungen und produzieren Ersatzteile für Maschinen. Der Gesetzgeber sollte einen Rahmen schaffen, um die Kleinstunternehmen zu juristisch anerkannten Klein- und Mittelbetrieben zu machen, die mit den entsprechenden Einrichtungen im Landwirtschaftssektor zusammenwirken können. Die Dachorganisation westafrikanischer Unternehmen, die vierhundert Unternehmer aus dreizehn Ländern umfaßt, könnte eine wichtige Rolle für Beratung und auch Ausbildung in diesem Umwälzungsprozeß spielen, aus dem vielleicht eine echte Unternehmermentalität hervorgeht.

Der Staat hat mit den Organisationen der landwirtschaftlichen Produzenten einen Dialog begonnen, so zum Beispiel mit der FONGS (Fédération des Organisations Non-Gouvernementales du Sénégal)8 , die in die Nationale Konferenz der Landbevölkerung (CNCR) integriert ist. In der CNCR sind sieben Produzentendachverbände zusammengefaßt, die drei Millionen Erwerbstätige vertreten: Landwirte, Viehzüchter, Fischer. Zur Zeit wird ein von der Weltbank finanziertes und von der CNCR geleitetes Projekt zur Unterstützung der Produzenten in den Regionen Kolda und Tambacounda getestet, das auf das ganze Land ausgeweitet werden könnte. Eine Vielzahl von kleinen Familienunternehmen trägt ebenfalls zur Dynamik des Landwirtschaftssektors bei. Der Organisation ENDA zufolge könnte eine arbeits- und eintragsintensivere Landwirtschaft, die sparsam mit Energie, Wasser, chemischem Dünger und Raum umgeht und Baumpflanzung und Saisonanbau kombiniert, zur Weiterentwicklung der Agroökologie beitragen und das Vorrücken der Wüste aufhalten. In den ländlichen Gebieten bilden sich neue Freiheitsräume, neue Gegenkräfte heraus.

Der Anbau von Gemüse und Obst kann also erneut Antrieb erhalten, indem man sich auf die ländlichen Kleinstunternehmen stützt (insbesondere in den bewässerten Anbauzonen im Tal des Senegalstroms) sowie auf selektive Subventionen für Saatgut. Doch in den Bereichen Gartenbau und Viehzucht können sich dynamische ländliche Kleinstunternehmen nur dann vervielfältigen, wenn die Landfrage geregelt, Nachbarschaftskredite zur Verfügung gestellt und flexible Gesetzesrahmen geschaffen werden, die eine Integration von Landwirtschaft und Viehzucht ermöglichen.

Die Armutsbekämpfung geht einher mit der Verbesserung des juristischen, wirtschaftlichen und steuerlichen Umfelds zugunsten der Förderung der Privatinitiative sowie mit der Einführung eines Programms zur Dezentralisierung der Verwaltung, das die Institutionen von Bretton Woods unter dem Stichwort „good governance“ lanciert haben: Transparenz und Effizienz der öffentlichen Verwaltung, Rechtsstaatlichkeit, Einführung eines wirklichen rechtlichen Statuts für Unternehmen, Vermittlung finanzieller Beihilfen (Langzeitkredite, Risikokapital, Garantiefonds) ... Solche Reformen können in- und ausländische Investoren anlocken sowie eine dynamische Industriestruktur schaffen, die den Export halbfertiger Produkte in den regionalen Umkreis und die Konsolidierung der Regionalbörse für westafrikanische Wertpapiere in Abidjan ermöglicht.

Ende 1996 hat Senegal ein Gesetz zur Dezentralisierung der Verwaltung verabschiedet, doch die Übertragung der Entscheidungsbefugnisse an die lokalen Behörden ist noch längst nicht vollzogen.9 Bei den Wahlen für die Einrichtung einer territorialen und lokalen Vertretung der Dorfgemeinschaften im Dezember 1996 wurden nur die politischen Parteien zugelassen. Dadurch wurde ein Großteil der Wählerschaft und der Vertreter der Zivilgesellschaft (Bürgerinitiativen, lokale regierungsunabhängige Organisationen, Produzentenvereinigungen, Gewerkschaften) de facto ausgeschlossen und die Vorherrschaft der Sozialistischen Partei (PS) auf lokaler Ebene verstärkt. In Zukunft sollten unbedingt die Dorfkommissionen, die Vertreter der Kleinstunternehmen und der Klein- und Mittelbetriebe, die Föderationen der kleinen Landwirtschaftsproduzenten und alle anderen betroffenen wirtschaftlichen Akteure einbezogen werden. Die Leitung der regionalen und lokalen Versammlungen und die Aufteilung der Gelder für die Finanzierung der Aktivitäten zwischen der PS und den anderen wirtschaftlichen und politischen Akteuren wird die Nagelprobe für den Erfolg der Dezentralisierung darstellen.

Die Abstimmung unter den Vertretern der Zivilgesellschaft, der öffentlichen Hand und der Geldgeber hinsichtlich der Formulierung, Umsetzung und Evaluierung der Strukturanpassungsprogramme und der großen nationalen Entscheidungen muß institutionalisiert werden. In den Städten (insbesondere im informellen Sektor) sollten sich Bürgerbewegungen (die Jugend- und Frauenorganisationen in den Stadtvierteln), Kleinhändlervereinigungen, Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen stärker als Gegenkräfte konstituieren und Gesprächsforen schaffen, um den Dialog mit der öffentlichen Hand und den Geldgebern zu verbessern, damit die großen Reformen vorangetrieben werden, wie etwa die Privatisierung, die mittlerweile alle Bereiche (Wasser, Strom, Telefon, Transport, Tourismus, Bau usw.) betrifft.10

Die Dynamik der Zivilgesellschaft könnte insbesondere durch die FONGS und die CNCR verstärkt werden. Des weiteren könnte eine Absprache zwischen der Zivilgesellschaft, der öffentlichen Hand und den Geldgebern zu einer besseren Ausformulierung der Strukturanpassungsprogramme führen. Doch das würde eine Stärkung der städtischen und ländlichen Gegenmacht der Zivilgesellschaft und eine Professionalisierung ihrer Führungskräfte voraussetzen. Auch müßten die nationalen Strukturanpassungsprogramme in regionale Entwicklungsprogramme eingebettet werden – im Falle des Senegal etwa in die Westafrikanische Wirtschafts- und Währungsunion (UEMOA)11 – um die Vorhaben zu koordinieren, die Märkte auszuweiten und Vergeudung zu vermeiden. Dadurch würde es auch möglich, von den aufgezwungenen Vorgaben der Geldgeber überzugehen zu Übereinkünften, die von den lokalen Akteuren und den nationalen Verantwortlichen getroffen werden.

Durch den Entwurf eines Gesellschaftsprojekts, das in der Zivilgesellschaft verankert ist, könnte Senegal, wie auch andere afrikanische Länder, in die Lage versetzt werden, dem Schock der Globalisierung besser standzuhalten, ohne wesentliche Bestandteile seiner kulturellen Identität zu verlieren. Selbst die Weltbank beginnt festzustellen, daß der Markt allein, „ohne soziale Entwicklung“12 , keinen gesellschaftlichen Zusammenhalt ermöglicht, und daß ein Wirtschaftswachstum ohne Gleichberechtigung sehr bald auf Grenzen stößt.

dt. Christiane Kayser

* Lehrbeauftragter an der Universität Paris-I. Verfasser von „La Banque Mondiale et l‘Afrique de l‘Ouest, l‘exemple du Sénégal, Paris (Publisud) 1997.

Fußnoten: 1 1997 betrug die Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts 5,7 Prozent, die Inflationsrate 1,8 Prozent, das Finanzdefizit 1,5 Prozent und das Zahlungsbilanzdefizit 7,6 Prozent. 2 Untersuchung bei 777931 Haushalten, Direction de la Statistique du Senegal, 1997. Weitere Einzelheiten in „Senegal, an Assessment of Living Conditions“, Weltbank, Mai 1995, Dakar, und Bara Diop, „La pauvreté dans le bassin arachidier“, Politique Africaine, Nr. 45, Paris (Karthala), März 1992. 3 Momar Coumba Diop u.a., „La lutte contre la pauvreté à Dakar; programme de gestion urbaine“, Dakar 1995. 4 100 CFA-Franc entsprechen etwa 0,30 Mark. 5 Emmanuel S. Ndione, „Dakar, une société en grappes“, Paris (ENDA-Karthala) 1994. 6 Marchés Tropicaux, Paris, 14. November 1997. Siehe auch Donald B. Cruise O'Brien, „Au Sénégal, une démocratie sans alternance“, Le Monde diplomatique, April 1993. 7 Revue Internationale du Travail, Band 132, 1993. Siehe auch „L'emploi dans le monde“, Internationales Arbeitsamt (IAA), Genf, 1995. 8 Die Föderation der regierungsunabhängigen Organisationen (NGOs) im Senegal schließt die ländlichen Kleinproduzenten zusammen: 100000 Mitglieder vertreten 24 Vereinigungen in 850 Dörfern in allen Regionen Senegals. 9 Artikel 27 des Dezentralisierungsgesetzes (Gesetz 96-07) erlaubt dem Staat „alle oder Teile der ländlichen Raumordnungsgebiete nach per Erlaß festgelegten Kriterien natürlichen oder juristischen Personen, lokalen Gemeinschaften oder einer jeglichen juristischen Person zuzuweisen oder zu überlassen, um im Rahmen des Bodenplans wirtschaftliche und soziale Entwicklungsprojekte durchzuführen“. Das ist eine große Neuerung, zumindest auf der Ebene der Absichten, denn es erlaubt dem Staat, Kompetenzen im Bereich der Raumordnung an die Regionen, Gemeinden und ländlichen Gemeinschaften abzugeben. Siehe Tom Amadou Seck, Bericht über die Landwirtschaft im Senegal, erstellt für die „Groupe de Reflexion Stratégique du Sénégal“, Dakar, September 1997. 10 33 Prozent der Aktien der Telefongesellschaft Sonatel wurden von France-cÛbles-radio, einer Filiale von France Telecom, übernommen, 10 Prozent gingen an die Beschäftigten, und 34 Prozent verbleiben dem Staat. Die Operation war ein finanzieller Erfolg (ca. 100 Millionen Mark). Bezüglich des Wassers wurden Verwaltung und Verteilung privatisiert, der Staat ist weiterhin Eigner der Vorkommen. Eine Filiale der französischen Bouygues-Gruppe, die SAUR, hält die Mehrheit der Aktien. 35 Prozent der Aktien gehören senegalesischen Investoren und 9 Prozent den Arbeitnehmern. 11 Die UEMOA umfaßt die Staaten der Franc-Zone in Westafrika. 12 James D. Wolfensohn, Vorsitzender der Weltbank, Le Monde, 15. Februar 1996. Die Weltbank hat sich verpflichtet, 900 Millionen Dollar in die Grundschulbildung afrikanischer Mädchen zu investieren (70 Prozent Analphabetinnen auf dem Land). Auf der Washingtoner Konferenz im Januar 1997 verpflichtete sich die Weltbank zur Förderung von Mikrokrediten.

Le Monde diplomatique vom 16.10.1998, von TOM AMADOU SECK