13.11.1998

Risikokalkulation — eine hochriskante Sache

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Risikokalkulation — eine hochriskante Sache

Kaum hatte die japanische Regierung im Oktober 500 Milliarden Dollar für die Nationalisierung der Banken bereitgestellt, erklomm der Nikkei-Index sein bisheriges Jahreshoch. Angesichts der Turbulenzen großer Bankinstitute begrüßte „der Markt“ mit einem Mal wieder einen Staat, den er noch ein halbes Jahr vorher nicht genug anprangern konnte. Mit ihrem hochriskanten Engagement bei Spekulationsfonds haben sich die Banken großen Gefahren ausgesetzt. So unwillkommen steuerliche Verpflichtungen sind, wenn Gewinne verteilt werden, so gern sind sie gesehen, wenn Verluste ausgeglichen werden sollen.

Von IBRAHIM WARDE *

DIE meisten großen internationalen Bankinstitute versprachen sich für 1998 einen Prachtsommer. Seit mehreren Monaten stiegen ihre Gewinne, trotz einiger Verluste auf den asiatischen Märkten, und die Börsenkurse erstürmten immer höhere Gipfel. Nichts schien die Aufwärtsentwicklung bremsen zu können, die man wohlausgeklügelten Strategien zu verdanken glaubte.

Die großen französischen Banken beispielsweise hatten lange gebraucht, um sich von der Immobilienflaute zu erholen. Nach gelungener Verjüngungskur meldeten sie sich hocherfreut zurück und schienen nun bestens im Rennen zu liegen beim Wettlauf um die Gewinnmaximierung. Denn hauptsächlich an dieser Kennzahl – dem Verhältnis von Gewinn zu Eigenkapital – messen die Finanzinstitute derzeit ihren Erfolg. Sie haben sich neuen und erheblich lukrativeren Aktivitäten zugewandt, seitdem die Rentabilität ihrer klassischen Vermittlertätigkeit (Umwandlung der Spargelder in Unternehmens- und Privatkundenkredite) nachließ.1 Schlüsselwörter dieser neuen Strategie sind: Globalisierung (mit besonderem Gewicht auf den „aufstrebenden Märkten“), „trading“ (Interventionen am Markt auf eigene Rechnung oder auf Rechnung ihrer Kunden) und Innovation (Schaffung neuer Produkte durch „Finanzengeneering“).

Das Vorbild für diese strategische Wende kommt aus den Vereinigten Staaten. Wegweisend wirkte die Bankers Trust, die den größten Teil ihres Filialnetzes schloß, ihren traditionellen Kundenkreis aufgab und sich aus dem klassischen Kreditwesen zurückzog, um als neuer „risk manager“ aufzutreten.2 Das Unternehmen spezialisierte sich auf Finanzderivate, das heißt Finanzinstrumente (Terminkontrakte oder Futures, Optionen, Tauschverträge oder Swaps), deren Wert sich aus den zugrundeliegenden (finanziellen oder realen) Aktiva ableitet.

Diese Neuorientierung bezieht ihre Attraktion aus der unbegrenzten Möglichkeit, neue Produkte mit immer größeren Gewinnmargen zu schaffen.3 Finanzderivate können einfach sein oder auch „hybrid“, das heißt eine Kreuzung aus unterschiedlichen finanziellen Transaktionen und unterschiedlichen Risikograden, oder schlechterdings „exotisch“, also so kompliziert, daß man sie nicht mehr versteht. Je neuer, um so komplexer und auch lukrativer ist ein Produkt. „Risikominimierung für Vermögensverwalter, Renditesteigerung für Anleger, geringer Zins für Darlehensnehmer“: von eventuellen Risiken sprechen die Verkaufsstrategen für Finanzderivate so gut wie nie.

Solche Argumente prägten den Wandel der Bankenwelt und ihrer Reglementierung. Für die Rechtfertigung und Verbreitung der neuen Grundsätze setzte sich vor allem die „Gruppe der Dreißig“ ein (auch bekannt als Beratungsgruppe für internationale Wirtschafts- und Währungsangelegenheiten), eine Art privater think tank mit Sitz in New York, der von den Giganten der internationalen Finanzwelt finanziert wird. Seine dreißig handverlesenen Mitglieder gehören zum „Who's who“ der privaten und öffentlichen Finanzszene. Unter dem Vorsitz von Paul Volcker, vormals Präsident der Federal Reserve, wirken dort weitere Zentralbankpräsidenten, darunter Jean-Claude Trichet, Gouverneur der Banque de France, Jacob A. Frenkel, Chef der Israelischen Notenbank, und Andrew D. Crockett, Generaldirektor der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), der „Zentralbank der Zentralbanken“, außerdem die Chefs von Finanzinstituten wie Morgan Stanley, Merrill Lynch oder Dresdner Bank. Mitglieder sind auch namhafte Wirtschaftswissenschaftler wie die Professoren Peter Kenen von der Universität Princeton oder Paul Krugman vom Massachusetts Institute of Technologie (MIT).

Aus den Veröffentlichungen und Kolloquien der „Gruppe der Dreißig“ ist ein quasi unangefochtener Katechismus hervorgegangen, der sogleich urbi et orbi von der Finanzpresse, den „Verfechtern der Marktwirtschaft“ und den Finanzanalysten verkündet wurde: Die Finanzen sollen „modernisiert“ und Innovationen gefördert werden, die internationale Reglementierung ist zu „harmonisieren“, man muß den freien Kapitalverkehr und die Öffnung der Märkte absichern und vor allem auf die selbstregulierenden Kräfte der Märkte vertrauen, besonders was spekulative Fonds und Finanzderivate betrifft.4

In diesem Kontext vollzogen sich innerhalb der letzten zwei Jahre drei für die internationale Finanzwelt und ihr Ordnungssystem bedeutende Entwicklungen. Im Dezember 1997 vereinbarten 102 Länder auf Empfehlung der Internationalen Handelsorganisation (WTO) das Abkommen über den freien Austausch von Finanzdienstleistungen, das 1999 in Kraft treten soll. In demselben Jahr hat das Basler Komitee für die internationale Bankenordnung (eine Gruppierung der Zentralbanken der führenden Industrieländer unter Vorsitz von William McDonough, dem Präsidenten der Federal Reserve von New York, und unter Einbeziehung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich) seine „25 Leitlinien für die Bankenaufsicht“ (Core Principles of Banking Supervision) erlassen, die theoretisch ab Oktober 1998 in allen Ländern angewandt werden sollen.

Eben dieses Basler Komitee, auf das auch die Cookschen Kennzahlen5 zurückgehen, hat nun seine Kriterien gelockert. Die großen Finanzinstitute können für ihre Risikokalkulation mit einer geringeren Regulierung und größeren Flexibilität rechnen, falls sie „angemessene Modelle“ vorweisen.6

Genau diese Modelle zur Risikokalkulation haben sich jedoch als so katastrophal erwiesen, daß man nun wieder die Dogmen in Frage stellt, auf die man bislang fast einmütig setzte. Henry Kaufman, ein Wirtschaftsexperte, dessen Ratschläge zeitweilig an der Wall Street sehr beachtet, dann aber als veraltet abgetan wurden, sieht bei den Bankiers das Verständnis für folgende vier Grundsätze schwinden: Ein überzogener Wettbewerb macht übermütig, denn Banken, die ihre Konkurrenten überholen wollen, mißachten die elementarsten Vorsichtsregeln; die Wirklichkeit ist viel zu komplex, als daß sie sich auf einige veränderliche Größen aus dem Bereich der Wirtschaft reduzieren ließe; die Dominanz von Mathematik und Quantifizierung erweist sich als gefährlich, weil sie meist auf der Annahme beruht, daß die jüngste Vergangenheit sich notwendig wiederholt; und – schließlich – Euphorie erzeugt die Illusion einer unbegrenzten Liquidität.7

Aus diesen Irrtümern lassen sich wahrscheinlich die kolossalen Verluste erklären, die die Börsenhändler der Banken und die Makler unlängst hinnehmen mußten. Die jungen Traders sind meistens erst seit dem Börsenkrach von 1987 in ihrem Beruf und seitdem nur mit haussierenden Märkten vertraut, weswegen sie unverbrüchlich an den „Hebeleffekt“ glauben: Je höher man sich verschuldet, um so größer sind ihrer Meinung nach die möglichen Gewinne. Wenn man mit 10 eine Kreditsumme von 90 ersteht, hat man bei einer Wertsteigerung von 10 Prozent seinen Einsatz verdoppelt. Aus derlei Gleichungen, Modellen und all dem Expertengefasel nährt sich im übrigen die Illusion einer risikofreien Spekulation. Aufgeschreckt durch eine Reihe von Warnschüssen und sinkende Bewertungen hat die Rating-Agentur Moody's hervorgehoben, die neuen Modelle der Risikokalkulation hätten bei mehreren Banken ein „unbegründetes Sicherheitsgefühl“ erzeugt, worauf sie sich sogleich in Risikomärkten engagierten. Nach Auffassung von Moody's ist aber „die Leistungsfähigkeit dieser Modelle, so stark sie ansonsten auch sein mögen, in illiquiden Märkten sehr begrenzt. Sie können keinesfalls die Umsicht und das unbefangene Urteil eines Bankiers ersetzen.“

Seit Mitte Juli kippte die Stimmung der Märkte. Zuerst glaubte man dort lediglich an eine Korrektur, die den Börsen eine Verschnaufpause verschaffte, bevor sie aufs neue durchstarten würden. Statt dessen kam es zum regelrechten Börsenkrach. Besonders geschockt zeigten sich die Investoren angesichts der russischen Entwicklungen im August: freier Fall des Rubels, Aussetzung der Schuldentilgung durch eine von politischen und sozialen Wirren verunsicherte Regierung. Noch 1997 hatte Rußland den Spitzenplatz unter den aufstrebenden Märkten belegt. Dann erfaßte ein Dominoeffekt ganz unvermittelt ebendiese Märkte, die als die großen Nutznießer der Globalisierung galten.8 Die vagabundierenden Gelder verschwanden aus zahlreichen Ländern ebenso plötzlich, wie sie gekommen waren, und ließen damit die selbsterzeugten Spekulationsblasen platzen. Nach Rußland steht nun Brasilien am Rand des finanziellen Abgrunds und könnte Argentinien, Chile und Mexiko mit in die Tiefe reißen.9

Die Pechsträhne setzte sich fort mit der Mitteilung, daß der Spekulationsfonds LTCM (Long Term Capital Management) gestützt werden müsse. Noch wenige Wochen zuvor hatten sich die Anleger die Risiko-Bonds aus den Händen gerissen, jetzt finden sie keinen Abnehmer mehr. Zahlreiche Institute, die ähnliche Wetten abgeschlossen hatten, bleiben derzeit auf ihren Beständen sitzen. Mit Ausnahme Afrikas, das immer schon ein Stiefkind der Investoren war, erfassen die Turbulenzen alle Regionen der Welt und alle Finanzinstitute. Nur die besonders vorsichtigen, die aus irgendeinem traditionellen Selbstverständnis heraus oder – seltener – aufgrund weitsichtiger Analysen den globalen Finanzen stets mit Mißtrauen begegnet waren, bleiben verschont.10

Die Schweizer UBS, Europas größte Bank, gesteht Verluste in Höhe von 950 Millionen Schweizer Franken (ca. 1,15 Milliarden Mark) infolge der Schieflage von LTCM ein. Mathis Cabiallavetta, der Vorsitzende des Verwaltungsrates, trat zurück, „um zur Wiederherstellung des Vertrauens in die Bank beizutragen“.11 Merriyll Lynch gibt zu, mit 2 Milliarden Dollar in Spekulationsfonds engagiert gewesen zu sein, davon 1,4 Milliarden bei LTCM, und will 3400 Stellen, also 5 Prozent ihres Personalbestands, streichen. Die Gewinne der Citigroup und der Bank of America sind auf die Hälfte geschrumpft. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), die 1991 gegründet worden war, um den osteuropäischen Ländern den Übergang zur Marktwirtschaft zu erleichtern, hat zum ersten Mal einen Verlust zu verzeichnen. Lehman Brothers, eine amerikanische Investitionsbank und Brokerfirma, kämpft gegen das Gerücht des drohenden Konkurses.

Das Katastrophenszenario des „systemimmanenten Risikos“, einer Kette von Konkursen, die das Vertrauen in das gesamte Bankensystem erschüttern würde, rückt in greifbare Nähe. Die Krise der Finanzwirtschaft droht auf die reale Wirtschaft überzugreifen, wenn eine Verengung des Kreditmarktes (credit crunch) den Unternehmen und Privathaushalten die Luft abschnürt. John Maynard Keynes hatte schon festgestellt: „Spekulation ist harmlos, wenn sie nur eine Blase über einem Strom produktiver Aktivitäten bildet. Das Gegenteil ist der Fall, wenn die Produktionstätigkeit nicht mehr ist als eine Luftblase im Strudel der Spekulationen.“12

Vor diesem Hintergrund verstand man besser, warum es die Federal Reserve so eilig hatte, durch eine zweimalige Senkung der Geldmarktzinsen (am 29. September und 15. Oktober) zu versuchen, den Spekulationsfonds LTCM zu retten und die Märkte wieder fit zu machen.13

dt. Margrethe Schmeer

* Professor an der Universität Berkeley, Kalifornien.

Fußnoten: 1 Man erinnere sich etwa an eine Äußerung von Jacques Chirac, der bei einer Asienreise die „Unfähigkeit“ des französischen Bankensystems beklagte, „seine Verantwortung gegenüber den Unternehmen wahrzunehmen“. In L'Express, 3. Juli 1996. 2 Martin Mayer, „The Bankers: The Next Generation“, New York (Dutton) 1997, S. 28f. 3 Ibrahim Warde, „La dérive des nouveaux produits financiers“, Le Monde diplomatique, Mai 1994. 4 http:// www.group30.org. 5 Die Kennziffern für Zahlungsfähigkeit verpflichten die internationalen Banken dazu, Eigenkapitalbestände in Höhe von mindestens 8 Prozent ihrer Kredite zu halten. 6 Ibrahim Warde, „The Regulation of foreign Banking in the United States“, San Francisco (IBPC) 1998. 7 Henry Kaufman, „What Bankers Don't Know“, US News and World Report, 12. Oktober 1998. 8 Peter Marber, „From Third World to World Class: The Future of Emerging Markets in the Global Economy“, Reading, Massachusetts (Perseus Books) 1998. 9 Vgl. François Chesnais, „Die Dämme der Weltwirtschaft geraten unter Druck“, Le Monde diplomatique, September 1998, und Serge Halimi, „system error!“, Le Monde diplomatique, Oktober 1998. 10 So sind in Frankreich einzig die genossenschaftlichen Netze mit heiler Haut davongekommen. Dazu Le Nouvel Economiste, 2. Oktober 1998. 11 Schon 1997 hatten die Transaktionen mit Finanzderivaten in London die Bank ca. 600 Millionen Schweizer Franken (720 Millionen Mark) gekostet. 12 Zitiert in John Kenneth Galbraith, „Finanzgenies. Eine kurze Geschichte der Spekulation“, a. d. Engl. v. Wolfgang Rhiel, Frankfurt/Main (Eichborn) 1992. 13 Offiziell wurde die Zinssenkung vom 15. Oktober damit gerechtfertigt, daß man das Inflationsrisiko im Griff habe. An demselben Tag veröffentlichte Zahlen belegen hingegen, daß die monatliche Inflationsrate gerade den Jahreshöchststand erreicht hatte.

Le Monde diplomatique vom 13.11.1998, von IBRAHIM WARDE