11.12.1998

New Labour entkommt seinen Arbeitern nicht

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New Labour entkommt seinen Arbeitern nicht

Von SEUMAS MILNE *

ACHTZEHN Monate nach dem Ende der achtzehnjährigen Regierung der „Neuen Rechten“ wird immer deutlicher, daß „New Labour“ nicht ganz so neu ist, wie der britische Premierminister Tony Blair und seine Verbündeten uns gerne weismachen wollen. Nachdem die rhetorischen Wirbelstürme abgeflaut sind, treten die Gemeinsamkeiten mit dem Thatcherismus – niedrige Einkommensteuern, Privatisierung, flexibler Arbeitsmarkt – immer deutlicher zutage. Unbestreitbar ist aber auch der – allerdings bescheidene – Tribut an die eigene sozialdemokratische Tradition: Einkommensumverteilung durch die Hintertür, neue Gewerkschaftsrechte und die erstmalige Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Blair zufolge zeigt sich gerade in einer solchen Kombination von Maßnahmen die beabsichtigte Verschmelzung von Sozialdemokratie und Liberalismus zu einem Dritten Weg.

Noch bevor Blair 1994 zum Vorsitzenden der Labour-Partei gewählt wurde, zeigte er sich im Verein mit einer kleinen Gruppe selbsternannter Modernisierer wild entschlossen, sein politisches Projekt als endgültigen Bruch mit den Traditionen der Arbeiterpartei darzustellen bzw. zu verkaufen. Dabei wandte er sich nicht nur frontal gegen die Politik der bereits in Auflösung begriffenen Labour-Linken, sondern vor allem gegen die traditionelle sozialdemokratische Rechte, gegen Politiker wie Roy Hattersley und Blairs Vorgänger John Smith, die der Arbeiterbewegung sehr nahe standen und an bestimmten traditionellen Themen wie etwa der Einkommensumverteilung und dem Sozialstaat festhielten. Die „Modernisierer“ um Blair wollten dagegen auf Distanz zu den Gewerkschaften gehen und das alte sozialdemokratische Anliegen „mehr Steuern und mehr Staatsausgaben“ über Bord werfen; sie versprachen „Null-Toleranz“ bei der Verbrechensbekämpfung und setzten mit Begeisterung auf das private Unternehmertum, die „Reform“ der Sozialhilfe und die Globalisierung.

Während sich John Smith und seine Anhänger an der europäischen Sozialdemokratie orientierten, richteten Blair und Mannschaft ihren Blick nach Australien, Neuseeland und in die Vereinigten Staaten.1 Aus Nordamerika importierten sie eine ganze Reihe von Wahlkampftechniken samt einiger ideologischer Patentrezepte, wie etwa das von einem „Mittelschichtenamerika“, das zu Großbritannien mit seinem noch stark ausgeprägten Klassenbewußtsein so gar nicht passen will. Doch nach Ansicht von Blairs Chefberater Philip Gould – einem Vermarktungsspezialisten, der die Wahlkampagne von Präsident Clinton mitgestaltet hat – sollte New Labour in Zukunft die „Mittelschicht“ in den Vorstädten2 zum „Herzstück der neuen fortschrittlichen Koalition“ erklären, obwohl sich die meisten Briten nach Meinungsumfragen immer noch zur Arbeiterklasse zählten.3

Noch mehr schockierte die Labour-Anhänger allerdings Blairs ständige Berufung auf das Vermächtnis Margaret Thatchers. Etliche der von ihr durchgesetzten Veränderungen, meinte Blair erst kürzlich wieder, seien durchaus „notwendige Modernisierungsmaßnahmen“ gewesen. Im Hinblick auf die Privatisierungsmaßnahmen der achtziger Jahre, von denen keine in der Bevölkerung eine Mehrheit hinter sich hatte, lobte er insbesondere, daß „ein großer Teil des industriellen Sektors dem Druck der Reformen und des Konkurrenzprinzip ausgesetzt wurden“.

Die Widersprüche des Schubladen-Reformismus

VIER aufeinanderfolgende Wahlniederlagen (1979, 1983, 1987 und 1992) hatten die Labour-Aktivisten und die Gewerkschaften derart gebeutelt und demoralisiert, daß sie jede Demütigung einsteckten und dem telegenen und beliebten Blair jeden Spielraum gewährten, um nur endlich die langen Jahren der Tory-Herrschaft zu beenden.

Die Blair-Gruppe hatten innerhalb der Labour-Partei nie eine echte politische Mehrheit. Doch es gelang ihnen, mit Hilfe einer entschlossenen Führung, eines gnadenlos zentralisierten Apparats und eines ausgeprägten Sinns für politische Stimmungen das Kommando zu übernehmen, zumal ihre Opponenten zersplittert waren und keine überzeugenden Alternativen anboten. Obgleich der Wahlerfolg im Mai 1997 mit 43 Prozent keineswegs die höchsten Labour-Werte nach 1945 erreichte – auch wegen der ungewöhnlich geringen Wahlbeteiligung in den Arbeitervierteln –, erzielte sie mit 419 Sitzen eine unerreichte Parlamentsmehrheit, weil sie ihr Wählerpotential effektiv ausschöpfte, während die Konservativen (165 Sitze) einen totalen Einbruch erlitten.

Wie wir heute wissen, zeugt der erdrutschartige Wahlsieg vom 1. Mai 1977 von einer abgrundtiefen Ablehnung einer korrupten und diskreditierten Tory-Regierung und einem starken Wunsch nach echten Reformen. Kurz nach der Wahl riet Samuel Brittan, ein Guru des Ultraliberalismus bei der Financial Times, seinen schwer gebeutelten Anhängern, sie sollten sich zu dem Premierminister Tony Blair gratulieren, denn Labour hätte sicher auch mit einem weit radikaleren Programmm gewonnen. Und er beklagte, trotz jahrelanger thatcheristischer Umerziehung sei das britische Volk immer noch „hoffnungslos kollektivistisch eingestellt“4 . Und damit niemand glaubt, das Werben von New Labour um die Geschäfts- und Finanzwelt, die Mittelklasse und die rechte Boulevardpresse sei nur ein Wahlmanöver gewesen, versicherte Blair beim Betreten von Downingstreet 10: „Wir wurden als New Labour gewählt, und wir werden als New Labour regieren.“

Dieses Versprechen hat die neue Regierung in reichem Maße erfüllt. Schon in ihren ersten Amtstagen machte sie unmißverständlich klar, wo die sozialen Prioritäten von New Labour liegen. Sie legte die Zinspolitik in die Hände eines nichtgewählten Komitees bei der Bank von England. Sie schrieb den Sparkurs fort, den die Konservativen vorgegeben hatten, und holte eine ganze Reihe von Aufsichtsratsmitgliedern großer Konzerne in die neue Regierung. Außerdem wurden die Beihilfen für Alleinerziehende und Behinderte beschnitten und Studiengebühren wiedereingeführt; und es wurden Privatisierungsmaßnahmen durchgesetzt – die man heute etwas verschämt als „öffentlich-private Partnerschaft“ bezeichnet –, um öffentliche Investitionen im Verkehrswesen und bei Krankenhäusern und Gefängnissen zu finanzieren.

Die Realität ist allerdings widersprüchlicher, als eine so eindeutig neoliberale Bilanz vermuten läßt. Der Präsident des wichtigsten Arbeitgeberverbands „Confederation of British Industry“, der konservative Hardliner Sir Clive Thompson, erklärte vor kurzem halb ernst, halb ironisch, New Labour sei inzwischen eine Mitte-rechts-Regierung, die auch er wählen könnte, aber dann fügte er hinzu, die Partei sei bedauerlicherweise immer noch mit „Old-Labour-Altlasten“ befrachtet. Seine Klagen bezogen sich auf die verstärkte rechtliche Regelung des Arbeitsmarkts, einschließlich eines gesetzlichen Mindestlohns, auf neue innerbetriebliche Gewerkschaftsrechte und auf die Umsetzung der EU-Arbeitszeitrichtlinie, die in Großbritannien aufgrund der allgemein längeren Arbeitszeiten einschneidendere Folgen haben wird.

Doch die sozialdemokratische Färbung der Blair-Regierung geht über beschwichtigende Hinweise auf die Kontinuität der organisatorischen Bindung zwischen Labour und Gewerkschaften hinaus. Zwar weigert sich Blair standhaft, den derzeitigen Einkommensteuerhöchstsatz von 40 Prozent anzuheben, und die New-Labour-Jünger bringen das Wort „Gleichheit“ kaum über ihre Lippen, aber immerhin bringen die Haushaltsentscheidungen bereits eine bescheidene Umverteilung zugunsten der Ärmsten. Die Gesundheits- und Bildungsausgaben sollen über die nächsten drei Jahre um 40 Milliarden Pfund (ca. 100 Milliarden Mark) steigen. Die „New Deal“-ähnlichen Ausbildungs- und Arbeitsbeschaffungsprogramme für Jugendliche und Langzeitarbeitslose, finanziert aus Privatisierungserlösen öffentlicher Versorgungsbetriebe, haben die Jugendarbeitslosigkeit auf den niedrigsten Stand seit 22 Jahren gedrückt. In paradoxer Verkehrung der üblichen Regierungspraxis bietet die Politik der Blair-Regierung den Labour-Stammwählern um so mehr Vorteile, je weniger Aufhebens sie von den einzelnen Maßnahmen macht.

Dieser Schubladen-Reformismus nimmt sogar an Bedeutung zu, weil das reale politische Leben sich wieder regt. Blair behauptet gerne, er habe mit den zahllosen Neumitgliedern, die Labour in Erwartung eines Wahlsiegs zuströmten, „eine völlig neue Partei“ geschaffen. Aber die neuen Mitglieder sehen den alten verblüffend ähnlich. Bei der Briefwahl zum Parteivorstand im Herbst dieses Jahres errangen linke Kandidaten vier von sechs Vorstandssitzen, und die Partei-Apparatschiks müssen sich immer raffiniertere Tricks ausdenken, um den populären Ken Livingstone, der als radikaler Linker nicht ins Bild von „New Labour“ paßt, von der Kandidatur zu den Londoner Bürgermeisterwahlen abzuhalten. Vertagt wurde auch der Plan, die Verbindungen zwischen der Partei und den Gewerkschaften zu kappen, aus denen sie hervorgegangen ist. Auf dem Gewerkschaftskongreß im September dieses Jahres ging TUC-Präsident John Edmonds mit New Labour hart ins Gericht und warf der Führung vor, sie verharre in der Thatcher-Ära und mache sich zum „Dienstboten des Konservativismus“. Da ein Drittel der Bevölkerung sich selbstpolitisch links von Labour ansiedelt5 , war Blair auf dem Jahresparteitag einen Monat später genötigt, die beginnende Renaissance der Linken anzuerkennen und davon zu reden, daß die „Flut des Individualismus“ endlich zurückweiche. Grundlegende Veränderungen betreibt Blair auf dem Gebiet der politischen Institutionen. Neben seinem Einsatz für den Friedensvertrag für Nordirland führte er in Schottland und Wales Länderparlamente ein6 , brachte die Demokratisierung des Oberhauses auf den Weg, setzte die Europäische Menschenrechtserklärung in nationales Recht um, stattete das Bürgermeisteramt mit umfassenderen Befugnissen aus und veränderte das britische Wahlrecht in Richtung Verhältniswahlrecht. Und er knüpfte engere Beziehungen zu den Liberaldemokraten, um den historischen Bruch zwischen beiden Parteien zu schließen, der in seinen Augen dafür verantwortlich ist, daß sich die Torys im 20. Jahrhundert die längste Zeit an der Macht halten konnten.

Diese Verfassungsreformen sind für Großbritannien zwar sehr bedeutsam, aber im übrigen Europa, wo eine gewählte zweite Kammer oder verfassungsmäßige Grundrechte kaum als Neuerung gelten können, wirken sie nicht besonders aufregend. Trotz aller Versuche Blairs, sich zum Vorreiter eines weltweit gültigen „dritten Wegs“ zu profilieren, und trotz der internationalen Beachtung für seine Erfolge, ist der Blairismus in Wirklichkeit doch ein sehr britisches Phänomen. Sicher, Blair hat die Idee der „Stakeholder- Gesellschaft“ (eine Art partnerschaftlicher Volkskapitalismus) popularisiert und mit kommunitaristischem Gedankengut gespielt – sein Lieblingssoziologe Anthony Giddens von der London School of Economics würde den kommunitaristischen Grundsatz „keine Rechte ohne Verantwortung“ gern zum „obersten Leitsatz der neuen Politik“7 machen. Doch muß selbst der Premierminister einräumen, daß dieses Projekt sich in einem „frühen Erprobungsstadium“8 befindet.

Sieht man vom Medienrummel ab, reduziert sich der Blairismus in logischer Fortschreibung der sozialistischen Regierungen im Spanien und Frankreich der achtziger Jahre im Kern auf einen weiteren Anpassungsschritt der Sozialdemokratie in Richtung neoliberaler Weltordnung. Der Blairismus ist geprägt durch die Besonderheiten des britischen Kapitalismus, aber auch einen allgemeineren sozialen Wandel; insofern ist er auch das Ergebnis der politischen und sozialen Niederlagen, die der Linken über achtzehn Jahre von der aggressivsten Rechtsregierung Europas zugefügt wurden. In diesem Kontext ist wohl nicht nur Blairs seltsame Vorliebe für den Medien-Tycoon Rupert Murdoch zu verstehen, der nach Ansicht einiger Labour-Anhänger nur durch die EU zu bändigen ist, sondern auch seine rückhaltlose Begeisterung für die US- amerikanische Außenpolitik, die in seinen Augen die britische Position in Europa und in anderen Regionen stärkt.

Die schicksalhafte Ironie des Blairismus liegt jedoch darin, daß ihm der Durchbruch just in dem Moment gelungen ist, da die neoliberale Hegemonie, die ihn hervorgebracht hat, an Boden zu verlieren scheint.

dt. Bodo Schulze

* Journalist, The Guardian (London).

Fußnoten: 1 In Neuseeland hat von 1984 bis 1990 eine Labour-Regierung eine Reihe ökonomischer und sozialer „Reformen“ ultraliberaler Ausprägung durchgeführt. In den Vereinigten Staaten hat der demokratische Präsident Bill Clinton ein Gesetz zur Abschaffung der Bundeshilfe an Arme unterzeichnet. Siehe zu diesen beiden Themen auch Serge Halimi, „Der leuchtende Pfad der Wettbewerbsgesellschaft“, Le Monde diplomatique, April 1997; Loic Wacquant, „Clinton reformiert Armut zu Elend“, Le Monde diplomatique, September 1996. 2 In den Vereinigten Staaten ziehen sich die Mittelschichten aus den Innenstädten, die sie den Armen überlassen, in die Vorstädte zurück. 3 Philip Gould, „The Unfinished Revolution“, London (Little Brown) 1998, S. 396. 4 Financial Times, 3. Mai 1997. 5 ICM-Meinungsumfrage, The Guardian, 6. Oktober 1998. 6 Dazu Philip Schlesinger, „Schottlands stille Unabhängigkeit“, Le Monde diplomatique, April 1998. 7 Anthony Giddens, „The Third Way“, London (Policy Press) 1998, S. 65. 8 Tony Blair, „The Third Way“, London (Fabian Society) 1998, S. 2.

Le Monde diplomatique vom 11.12.1998, von SEUMAS MILNE