12.02.1999

Ein Recht auf Geschwister?

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Ein Recht auf Geschwister?

STEHT die chinesische Bevölkerungspolitik vor einem Kurswechsel? Oder handelt es sich nur um einen Trick der chinesischen Staatsführung, um den Westen für sich einzunehmen und sich damit die erhofften Finanzhilfen zu sichern? Es ist noch zu früh, um diese Frage zu beantworten. Doch immerhin schlägt China erstmals seit 1980 in Sachen Bevölkerungspolitik eine neue Richtung ein. Am Ende der Mao-Ära wurde eine drakonische Reduzierung der Geburtenraten eingeleitet: Seither durften die Staatsangestellten, die Lohnabhängigen und allgemein die Stadtbewohner, von behördlich genehmigten Ausnahmen abgesehen, nicht mehr als ein Kind haben, und auch die Bauern wurden zu nur einem Kind „angehalten“.

Die Irrtümer der Vergangenheit werden nun keineswegs zugegeben. Doch heißt es jetzt offiziell: „Wir halten die Paare an, nur ein Kind zu bekommen. Aber wir halten sie nur dazu an, wir akzeptieren ihre eigenen Entscheidungen.“ Man setzt auf Überzeugungsarbeit statt auf Zwang. Sechs Distrikte, und bald noch elf weitere, gehören zu einem Pilotprojekt, das auf das gesamte Land ausgeweitet werden soll.

Die Beratungsstellen für Familienplanung bieten den Frauen heutzutage konkrete Informationen über Verhütungsmittel, und die Möglichkeit, zwischen unterschiedlichen Verhütungsmethoden wählen zu können, ist eine wirkliche Neuerung. Laut den amtlichen Statistiken wenden insgesamt 83 Prozent der Chinesinnen Verhütungsmethoden an. Etwa die Hälfte von ihnen ist sterilisiert. Doch die Spirale ist auf dem Vormarsch: 43 Prozent der Frauen entscheiden sich heute für diese nicht endgültige Verhütungsmöglichkeit.

IN der Stadt ist nach wie vor das Einzelkind die Regel, doch auch hier läßt sich eine Lockerung beobachten. In Shanghai zum Beispiel mit seinen 13 Millionen Einwohnern ebenso wie in manchen Vierteln Pekings muß eine Frau vor ihrer ersten Schwangerschaft nicht mehr, wie während der vergangenen Jahrzehnte, ihren Arbeitgeber oder ihr Stadtteilkomitee um Erlaubnis bitten. Im Fall einer zweiten Schwangerschaft wird sie nun nicht mehr zu einer Abtreibung oder einer Eileiterligatur gezwungen. Das heißt allerdings noch nicht, daß sie nun über ihre Schwangerschaften frei entscheiden könnte.

Zum einen muß eine zweite Geburt in der Stadt – wenngleich offiziell geduldet – teuer bezahlt werden: in Shanghai kostet sie das Dreifache des Jahreseinkommens eines Paares. „Dabei handelt es sich nicht um ein Bußgeld“, wiederholen hartnäckig die Verantwortlichen der örtlichen Familienplanung, „sondern um die Kosten, die ein zusätzliches Kind der Gesellschaft verursacht. Es ist nur normal, daß die Eltern dafür einen Beitrag leisten.“ Zum anderen haben die meisten Städter den Gedanken verinnerlicht, daß eine restriktive Geburtenregelung eine Notwendigkeit darstellt, und beschränken sich von selber auf ein Kind, auch wenn es eine Tochter ist.

Auf dem Land konnte die Ein-Kind-Politik nie durchgesetzt werden. Angesichts der Unzufriedenheit der Bevölkerung mußte die Regierung schon seit 1984 offiziell zwei Kinder pro Paar erlauben. Doch nicht selten trifft man hier sogar auf kinderreiche Familien. Das Fehlen eines allgemeinen Rentensystems bewegt die Eltern weiterhin dazu, eine zahlreiche Nachkommenschaft in die Welt zu setzen, vorzugsweise Jungen, denn die Mädchen verlassen mit der Hochzeit ihre Familie und schließen sich der ihres Ehemannes an. Um im Rahmen der Legalität zu bleiben, versuchen viele Chinesen, auch wenn sie Mitglieder der mehrheitlichen Han- Ethnie sind (wie 90 Prozent der Bevölkerung), durchaus mit Erfolg, sich als Angehörige einer ethnischen Minderheit anerkennen zu lassen, die weniger strengen Regelungen unterliegen. Besonders die Uiguren in Xinjiang dürfen, ebenso wie die Tibeter, drei oder sogar vier Kinder haben.

Innerhalb von dreißig Jahren ist (amtlichen Statistiken zufolge) die Kinderzahl der Chinesinnen von durchschnittlich 5,7 auf ungefähr 2 Kinder gesunken1 . Dieser brutale Rückgang hatte soziale und soziologische Konsequenzen, deren Bedeutung noch nicht abzuschätzen ist: eine unausgeglichene Alterspyramide, die Überalterung der Bevölkerung, zahlreiche Abtreibungen weiblicher Föten, Aussetzung und Tötung kleiner Mädchen, offiziell nicht registrierte Kinder und so weiter. „Für uns Demographen stellt China einen noch nie dagewesenen, noch nie untersuchten Fall dar“, so eine Expertin der Rockefeller Foundation, die sich regelmäßig im Land aufhält. „Hier hat sich in einer oder knapp zwei Generationen vollzogen, was in Europa in einem Zeitraum von 150 bis 200 Jahren geschehen ist.“

HÄTTE China sich diese drastische Ein-Kind-Politik ersparen können? Die Demographen sind geteilter Meinung. „Ich persönlich glaube das“, fährt die US-amerikanische Demographin fort, „und einige chinesische Verantwortungsträger geben im privaten Gespräch immer häufiger zu, daß es ein Fehler war und durch Erziehung und Aufklärung, insbesondere der Frauen, die gleichen Ergebnisse erreicht worden wären. Außerdem wäre so das katastrophale Image im Ausland vermieden worden.“ Die beiden Hauptgründe für die Humanisierung der chinesischen Familienpolitik sind sicherlich zum einen der uneingestandene Wunsch, die amerikanischen Geldgeber und das Wohlwollen der Weltgemeinschaft zu gewinnen (vor allem seit der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994 und der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995), und zum anderen die wachsenden Schwierigkeiten des Staats, in einer Zeit der Wirtschaftsreformen und der Liberalisierung das Privatleben der Paare zu kontrollieren.2 Das offizielle Ziel, Mitte des nächsten Jahrhunderts die Zahl von 1,6 Milliarden Einwohnern nicht zu überschreiten, wird noch immer aufrechterhalten. Es gibt daher keine Garantie, daß es nicht zu neuen Kursänderungen kommt, zumal die derzeitige Regierung in Peking sich in dieser Frage uneinig ist.

Die einen predigen weiterhin eine strikte Geburtenkontrolle, die anderen setzen auf wirtschaftliche Entwicklung und einen „automatischen“ Rückgang der Fruchtbarkeit. Die Liberale Cong Jun, Leiterin der Abteilung für Familienplanung in Peking, erklärt: „Jeder Mensch, der als Einzelkind geboren wird und jemanden heiratet, der ebenfalls keine Geschwister hat, hat ein Recht auf zwei Kinder. Die Ein- Kind-Politik wird tatsächlich nicht länger als eine Generation dauern. Sie gehört in China fast schon der Vergangenheit an.“

FLORENCE BEAUGÉ

Fußnoten: 1 Vgl. „Persistance des problèmes démographiques en Chine“, Populations et sociétés (Monatszeitschrift des Institut national d'études démographiques, INED), Paris, Nr. 331, Januar 1998. 2 Vgl. Francis Deron, „La Chine humanise sa politique familiale“, Le Monde diplomatique, November 1998.

Le Monde diplomatique vom 12.02.1999, von FLORENCE BEAUGÉ