12.02.1999

In Polen hadern alle mit Europa

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In Polen hadern alle mit Europa

Von ROBERT SOLTYK *

DIE Mehrheit der führenden Köpfe in Polen ist noch optimistisch: Man geht davon aus, daß die Verhandlungen über Polens Beitritt zur Europäischen Union in vier bis fünf Jahren abgeschlossen sein werden. Einige realistischere Stimmen sprechen von sieben Jahren. Die Pessimisten hingegen glauben, daß die Bewerberländer von der EU hingehalten werden und noch mindestens zehn bis fünfzehn Jahre im Vorzimmer warten müssen.

Tatsächlich wurde bei den Beitrittsverhandlungen mit den weniger problematischen Themen begonnen, die brennenden Fragen dagegen auf später vertagt: Landwirtschaft, Bergbau, Umweltschutz, die Möglichkeit des Grundstückserwerbs für jeden EU- Bürger sowie die Freiheit für die Polen, sich überall in der Europäischen Union niederzulassen und zu arbeiten. „Die eigentlichen Schwierigkeiten werden im Jahre 2000 auftauchen, wenn in Polen die Präsidentschaftswahl ansteht“, vermutet Piotr Nowina- Konopka, stellvertretender Vorsitzender der polnischen Verhandlungsdelegation.

Der amtierende Präsident Aleksander Kwasniewski vom Bündnis der Demokratischen Linken/ SLD (postkommunistische Linke) gilt zwar als aussichtsreichster Kandidat, doch die Regierungskoalition (ein Mitte-rechts-Bündnis) plant einen aggressiven Wahlkampf. Unabhängig vom Ausgang wird diese Wahl die seit einem Jahr bestehende „friedliche Kohabitation“ auf eine harte Probe stellen.

Bis auf weiteres zielt die polnische Strategie immer noch darauf ab, die Vorbedingungen für einen Beitritt zum 1. Januar 2003 (entsprechend dem Fahrplan der EU-Kommission) um jeden Preis zu erfüllen. Außenminister Bronislaw Geremek hat zugesagt, die polnische Seite werde den Beitrittszeitpunkt nicht mehr in Frage stellen und alles tun, um die innenpolitischen Reformen bis zu diesem Zeitpunkt zum Abschluß zu bringen. Aber zahlreiche Europaexperten in Warschau glauben nicht an einen Erfolg. Sie halten diesen blinden Eifer für illusorisch und meinen, die Anpassung des polnischen Binnenmarkts an die ultraliberalen Sachzwänge des neuen gemeinsamen Marktes werde in dem veranschlagten Zeitraum nicht zu schaffen sein.

Die polnischen Politiker kümmert das wenig. Sie registrieren vor allem die Zurückhaltung, mit der die EU einem zügigen Verhandlungsabschluß mit der ersten Beitrittsgruppe gegenübersteht. Die westlichen Politiker lehnen es entweder ab, ein festes Datum zu nennen (wie Gerhard Schröder), oder sie verschieben die Erweiterung in ferne Zukunft (wie der Präsident des Europäischen Parlaments José Maria Gil- Robles). Solche Äußerungen untergraben die Bereitschaft der Bevölkerung, einschneidende Reformen zu unterstützen.

Der Vorschlag des deutschen Außenministers Joschka Fischer, bis Ende 1999, wenn die unionsinternen Reformen abgeschlossen sein sollen, ein realistisches anstelle eines „visionären“ Datums festzulegen, wurde in Warschau positiv aufgenommen. Fraglich ist jedoch, ob Fischer seine europäischen Partner, insbesondere Frankreich, überzeugen kann. Und auch seine eigene Äußerung, 2002 sei kein realistisches Datum, kann man so und so auslegen.

„Das Fest ist vorbei“, konstatierte Bronislaw Geremek nach seinem Frankreich-Besuch im Juni 1998. Der Europa-Enthusiasmus ebbt langsam ab. Und es hat den Anschein, als rücke die Aussicht auf die Einigung des seit fünfzig Jahren geteilten Kontinentes in weite Ferne, während zugleich die angestauten Frustrationen immer deutlicher hervortreten.

Ein Beispiel für diese Entwicklung innerhalb der polnischen politischen Klasse sind jene Parlamentsabgeordneten, die neulich in Brüssel dem überrascht lächelnden EU-Kommissar Van den Broek drohten, Polen könne sich statt den europäischen auch den asiatischen Märkten zuwenden. Oder Aleksander Smolar, der Chef der Freiheitsunion/UW (Partei der liberalen Mitte), der angesichts der schlechten Aussicht auf einen baldigen EU-Beitritt die „theoretische“ Möglichkeit erwähnte, man könne auch die Beziehungen zu den USA intensivieren. Das war vielleicht nur als Scherz gemeint, aber daß überhaupt jemand auf eine solche Frage kommt, ist Indiz dafür, daß der Konsens über eine EU-Mitgliedschaft brüchig wird. Das gilt um so mehr, als in liberalen Warschauer Kreisen die sozialdemokratische Mehrheit in der Europäischen Union nicht allen gefällt.

Auch in der polnischen Bevölkerung regen sich die Zweifel. Noch vor zwei Jahren sprachen sich 80 Prozent aller Polen für einen EU-Beitritt aus. Doch seither registrieren die Umfragen des polnischen Instituts für Meinungsforschung (CBOS) eine sinkende Zustimmungsquote: 72 Prozent im April 1997, 64 Prozent im Februar 1998, schließlich nur noch 60 Prozent im Dezember 1998.1

Die EU-Befürworter sind überwiegend Personen mit hohem Bildungsniveau, junge Menschen (von 18 bis 24 Jahren) und Arbeitslose. Unter der ländlichen Bevölkerung spricht sich hingegen nur ein Viertel für einen raschen Beitritt aus. Die Großstädter und die Schicht der höheren Angestellten – die traditionelle Wählerschaft von Leszek Balcerowicz, dem Vater der „Schocktherapie“ und derzeitigen Finanzminister – sind weitaus optimistischer.

Die Wählerschaft der beiden wichtigsten Koalitionsbündnisse ist ebenfalls gespalten. Zwei große Formationen bestimmen die politische Bühne: auf der Rechten die regierende Wahlaktion der Gewerkschaft Solidarnosc/AWS, auf der Linken das oppositionelle Bündnis der Demokratischen Linken/SLD (postkommunistische Linke). Hinter jedem Bündnis stehen eine der beiden mächtigsten Gewerkschaften (Solidarnosc beziehungsweise OPZZ) wie auch öffentliche Bedienstete und Arbeiter der noch nicht privatisierten oder umstrukturierten Betriebe, wo die Verfechter einer langsamen Transformation großen Einfluß besitzen.

Die Sorge der schweigenden Mehrheit

SOZIOLOGISCHE Untersuchungen zeigen, daß das Verhältnis der Polen zur Europäischen Union auf der fatalistischen Überzeugung beruht, ohne EU-Beitritt könne die Lage Polens nur schlechter werden. Es sind solche düsteren Stimmungen, und nicht etwa frohe Erwartungen, die den meisten Polen die europäische Perspektive nahelegt. Nach dem Kommunismus und der spezifischen, emotional aufgeladenen Beziehung der Polen zu Rußland, nach der russischen Krise im August 1998 und dem wirtschaftlichen Zusammenbruch Weißrußlands unter Aleksandr Lukaschenko zweifelt in Polen niemand mehr daran, daß das Land sich nach Westen orientieren muß.

Neben dieser soliden Mehrheit, deren Sympathien für Europa eher aus der Not geboren sind, behaupten sich zwei Minderheiten: die eine ist optimistisch, proeuropäisch und liberal (die Freiheitsunion, die SLD und liberale Kreise innerhalb der AWS), die andere ist pessimistisch, antieuropäisch und antiliberal (die Bauernpartei/PSL sowie die national-katholische Rechte – „Die Polnische Familie“ und die Sympathisanten von Radio Maryja, einem traditionalistischen Radiosender mit antisemitischen Untertönen). In den Umfragen hat die Meinung, das Land sei gut auf die Verhandlungen vorbereitet (42 Prozent, wobei die Wähler der Freiheitsunion die optimistischsten sind), etwa gleich viel Anhänger wie die gegenteilige Meinung (44 Prozent, wobei die nationalistischen und bäuerlichen Wählerkreise erwartungsgemäß am stärksten vertreten sind). Ebenso hoch (41 Prozent) ist die Zahl derer, die der jetzigen Regierung vorwerfen, gegenüber den Forderungen der EU allzu willfährig zu sein.

Die heutige Regierungsmehrheit von AWS und UW stützt sich also – wie auch die frühere Regierung von SLD und PSL – auf eine Wählerschaft, in der sich Skeptiker und Befürworter die Waage halten, während die schweigende Mehrheit sich zunehmend beunruhigt zeigt.

Es gibt zwei Schlüssel, die Polen in den kommenden Jahren die Tore zu Europa öffnen können. Der erste liegt in den Händen der westlichen Politiker, der zweite in Warschau. Für die polnische Öffentlichkeit sind die Signale aus dem Westen von größter Bedeutung: Ermutigende Zeichen wirken als Rückenwind für die Reformer, während entmutigende Zeichen die Gegner des ökonomisch-sozialen Wandels stärken. Die polnischen Medien reagieren so empfindlich auf Erklärungen deutscher oder französischer Politiker, daß sie beiläufige Äußerungen, die an ein bestimmtes deutsches oder französisches Publikum gerichtet sind, häufig zu außenpolitischen Grundsatzerklärungen umdeuten. Im schlimmsten Falle fallen auch leere Versprechungen – wie die von Präsident Jacques Chirac über eine Mitgliedschaft im Jahr 2000 – unverzüglich auf ihre Urheber zurück.

Der zweite Schlüssel zur polnischen EU-Integration liegt in der Modernisierung des Landes, wobei eine Modernisierung im umfassenden Sinn gemeint ist. Für die polnischen Eliten ist der Ehrgeiz, „Europa einzuholen“, so alt wie die Geschichte des unabhängigen Polen. Er reicht zurück bis in die Zeit der Teilungen (1792 bis 1918), als Modernisierung und Verteidigung des westlichen Christentums zugleich den zivilisatorischen Fortschritt beschleunigten. Noch heute glückt die Übernahme wirtschaftsliberaler oder kultureller Modelle in dem Maße, wie die öffentliche Meinung darin eine Chance sieht, nationale Größe und Wohlergehen der Menschen zu stärken. Zum ersten Mal seit neun Jahren ist nun die Inflationsrate unter 9 Prozent gefallen; die Zinssätze sinken kontinuierlich, die Reallöhne steigen, und die Mehrzahl der Polen arbeitet im privaten Sektor, der für den Löwenanteil der staatlichen Einnahmen sorgt.

Obwohl ein Teil der Bevölkerung (insbesondere auf dem Lande) diese Euphorie nicht teilt, herrscht in führenden Kreisen die Überzeugung vor, daß Polen einer asiatischen Grippe entgehen kann und auch aus der russischen Krise die richtigen Lehren gezogen hat. Selbst die Bischöfe, die dem Wirtschaftsliberalismus zunächst skeptisch und zurückhaltend gegenüberstanden, sind zu eifrigen Fürstreitern Europas konvertiert. Obwohl die katholisch-nationale Rechte bei den Kommunalwahlen im Oktober letzten Jahres fürs erste zurückgedrängt wurde, könnte ein Übermaß an Enttäuschungen diese Tendenz wieder umkehren.

dt. Eveline Passet

* Journalist bei der Tageszeitung Gazeta Wyborcza, Warschau.

Fußnote: 1 Polnisches Meinungsforschungszentrum, Warschau: http// www.korpo.pol.pl/cbos.

Le Monde diplomatique vom 12.02.1999, von ROBERT SOLTYK