12.03.1999

Die Armee vor der Alternative

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Die Armee vor der Alternative

Bei den algerischen Präsidentschaftswahlen am 15. April treten rund 40 Kandidaten an. Einige werden von bestimmten Armeefraktionen unterstützt, Abdelaziz Bouteflika etwa gilt als Kandidat von General Khaled Nezzar. Aber es gibt auch Offiziere, die um der Legitimität des künftigen Staatschefs willen eine saubere Wahl wünschen. Dafür ist auch der jetzige Präsident Liamine Zéroual eingetreten, hat damit aber den Zorn von General Nezzar herausgefordert. Diese Konfrontation hat ihre Gründe. Die Generälehabenn Bürgerkrieg militärisch gewonnen, aber eine politische Niederlage erlitten. Angesichts der Grausamkeit, mit der die Vernichtung der islamistischen Kräfte betrieben wurde, haben Teile der Bevölkerung kein Vertrauen mehr in die Armee. Nicht zufällig befürworten die meisten Präsidentschaftskandidaten Gespräche mit allen Konfliktparteien. Doch eine politische Lösung ist nur möglich, wenn das Militär eine freie Wahl gestattet – und wenn der Präsident seine Machtbefugnisse nach der Wahl auch ausübe kann.

LAOARI ADDI *

FÜR manche kam es sehr überraschend, als Staatspräsident Liamine Zéroual im Oktober 1998 erklärte, er wolle sein Amt vor Ablauf seines Mandats niederlegen. Aber auch wenn mit diesem Schritt nicht unbedingt zu rechnen war, wurde er doch für möglich gehalten, seit Zérouals Differenzen mit dem Chef des Generalstabs, General Mohamed Lamari, bekannt geworden waren. Während des ganzen Sommers 1998 hatte die Presse die Beleidigungen und Drohungen zitiert, die sich die beiden Kontrahenten an den Kopf warfen. Bei diesen offenkundigen Differenzen zwischen den tatsächlichen Machthabern (der Armee) und der formellen Staatsmacht (Präsident und Regierung) war logischerweise zu erwarten, daß der höchste Repräsentant des Staates sich der Macht der Armee zu beugen hatte.1

Daß Zéroual dem Druck der Generäle Mohamed Lamari und Tewfik Médiène (dem Chef des allmächtigen militärischen Geheimdienstes SM) nachgegeben hat, erweist sich für das Militär aber als Pyrrhussieg. Denn damit bestätigt sich, was die Generäle immer abgestritten haben: Die Armee stellt sich in der Hierarchie der Institutionen nach wie vor über den Staatspräsidenten und verweigert der Regierung die Befugnisse, die zur Staatsführung und zur Verwaltung der nationalen Angelegenheiten erforderlich sind. Daran hat sich seit dem Tod von Staatspräsident Houari Boumedienne 1978 nichts geändert. Es gibt allerdings Kräfte, vor allem in den oberen Rängen des Staatsdienstes, die mehr Unabhängigkeit von der Armee anstreben – und ebendies führt zu Reibereien und Konflikten.

Als Chadli Bendjedid 1979 Staatspräsident wurde, mußte er sich von Anfang an gegen die hochrangigen Offiziere behaupten, die ihn ins Amt gebracht hatten. Er konnte sich zwar von ihrem Einfluß befreien, doch nur um den Preis der Abhängigkeit von den Offizieren, die er zu Generälen befördert hatte, um seine verfassungsgemäße Stellung als Oberbefehlshaber aller Waffengattungen abzusichern. Daß sich Chadli dreizehn Jahre im Amt halten konnte (1979 bis 1992) lag daran, daß er keinerlei Machtgelüste zeigte und es strikt vermied, sich einen der verschiedenen Clans zum Feind zu machen. Dennoch wurde er nach den Wahlen vom Dezember 1991, die der Islamischen Heilsfront (FIS) den Sieg gebracht hätten, von seinen treuesten Untergebenen, den Generälen Larbi Belkheir und Khaled Nezzar, zum Rücktritt aufgefordert – mit der versteckten Drohung, sonst könne er einem Anschlag zum Opfer fallen.

Chadlis Nachfolger Mohamed Boudiaf war entschlossen, sich gegen das Militär durchzusetzen, und versuchte, durch die Pensionierung hochrangiger Offiziere die Führungshierarchie aufzumischen. Diesen Ehrgeiz bezahlte er mit seinem Leben. Daß auch Liamine Zéroual diesen Führungsanspruch anmeldete – obwohl er selbst ein hoher Militär war – ließ den Konflikt erneut aufbrechen.

Die Armee spielt die Rolle der dominierenden politischen Partei. Ohne ihre Unterstützung sind die Spitzen der Exekutive machtlos. Auf diese Weise wahren die Militärführer die Kontinuität der Macht und sichern zugleich ihre Posten ab. Tatsächlich gab es in Algerien seit 1992 vier Staatspräsidenten (Chadli Bendjedid, Mohamed Boudiaf, Ali Khafi und Liamine Zéroual), aber noch immer ist General Mohamed Lamari Generalstabschef und General Tewfik Médiène Chef des militärischen Sicherheitsapparates.

Dabei boten sich seit Beginn des Bürgerkriegs 1992 Anlässe genug, sie von ihren Funktionen zu entbinden, etwa als Massaker an Dorfbewohnern ganz in der Nähe ihres Hauptquartiers verübt wurden. Die Machtlosigkeit der politischen Führung zeigt sich auch darin, daß der Terrorismus immer noch täglich neue Opfer im ganzen Lande fordert, ohne daß die Verantwortlichen an der Spitze der Armee abgelöst werden.

Der Waffenstillstand, der im Oktober 1997 mit der Islamischen Armee des Heils (AIS), dem bewaffneten Arm der FIS, vereinbart wurde, sollte nur die Gespräche zwischen dem Präsidenten und der politischen Führung der FIS torpedieren. Ein erfolgreicher Abschluß dieser Verhandlungen hätte Zéroual zum Architekten des Friedens gemacht und ihn gegenüber dem militärischen Oberkommando gestärkt.2 Die Militärs zogen es daher vor, am Präsidenten vorbei eine direkte Übereinkunft mit den Führern des islamistischen Untergrunds zu suchen. Welche Vereinbarungen dabei getroffen wurden, ist bis heute unbekannt.

Seit Dezember 1991 gab es jedoch auch Veränderungen in der Militärhierarchie. Sieben Jahre Bürgerkrieg haben ihre Spuren in den politischen Gruppierungen und Clans hinterlassen und neue Kräftekonstellationen geschaffen. Die verschiedenen Machtzentren haben ihre relative Autonomie genutzt, das gilt vor allem für den Bereich der militärischen Sicherheitsdienste. Es gibt darüber nur wenige Informationen, aber offenbar ist dieser Apparat heute nicht mehr so zentralisiert wie noch unter Präsident Boumedienne. Inzwischen hat er sich in mehrere konkurrierende Dienste aufgespalten, die sich manchmal sogar bekämpfen. Die verschiedenen Gruppierungen verfolgen jeweils eigene Strategien zur Lösung der Krise – niemand will die Zeche zahlen, wenn es zu einem Kompromiß mit den Islamisten kommt. General Tewfik Médiène, der im Verdacht steht, ein doppeltes Spiel zu treiben, konnte sich nicht durchsetzen und die militärischen Geheimdienste unter seiner Führung vereinen.

Ein zweiter bedeutender Faktor ist der Machtzuwachs von General Lamari. Seit er 1993 zum Generalstabschef ernannt wurde, hat der starke Mann der Armee sich einige Aufgabenbereiche des Verteidigungsministeriums, das formell dem Präsidenten untersteht, hinzuerobert. Damit teilen sich nicht mehr zwei, sondern drei Institutionen die Macht: der Staatspräsident, dessen Autorität reine Fassade ist, der Verteidigungsminister, der ausschließlich mit logistischen Aufgaben befaßt ist, und der Generalstab, dem die Einsatzkräfte unterstehen, wobei General Lamari dafür gesorgt hat, daß an ihrer Spitze nur ihm treu ergebene Offiziere stehen.

Tatsächlich gibt es jedoch so etwas wie eine „Armee der zwei Geschwindigkeiten“: Den gut ausgerüsteten Sondereinsatztruppen steht die Masse der „einfachen Soldaten“ gegenüber, denen bei den Aktionen gegen den islamistischen Untergrund mangelnder Einsatzwillen unterstellt wird und bei denen tatsächlich Desertion, unerlaubte Abwesenheit und diverse Formen der Komplizenschaft mit den Untergrundkämpfern an der Tagesordnung sind. Im Militär geht die Angst vor Verleumdung und Verschwörung um. Keiner traut dem anderen. Und natürlich wagt es auch kein Journalist, das Thema aufzugreifen, denn der militärische Geheimdienst hat zahlreiche Informanten in den Redaktionen.

Mit dem Aufstieg Lamaris, der in Algier geboren ist, und dem Abtreten der Generäle Khaled Nezzar, Liamine Zéroual, Abdelmalek Guenaizia und Abbas Gheziel haben sich innerhalb des Militärs die regionalen Einflüsse verschoben: Die Macht hat sich von der Aurès-Region (dem berühmten BTS-Dreieck: Batna/ Tébessa/ Souk Ahras) weg in Richtung Zentrum verlagert. Die Offiziere, die aus dem BTS-Dreieck stammen, sind Chaouis mit dörflichem Hintergrund, die im Unterschied zu ihren Kollegen aus den großen Städten noch der assabija (der Verpflichtung gegenüber der Sippe) unterliegen. Für den städtischen General Lamari spielt die assabija eine viel geringere Rolle, er wählt seine Mitarbeiter nach politischen Kriterien. Sie müssen vor allem bereit sein, die vollständige Vernichtung der Islamisten voranzutreiben, die der Armee ihre Vormachtstellung streitig machen.

Damit gewinnt die Zusammensetzung der Militärführung eine ganz neue politische und nationale Bedeutung: Der antiislamistische Kampf kann nicht von einer Armee geführt werden, deren Führung sich vorwiegend aus nur einer Region rekrutiert. Andererseits war die Tatsache, daß die Chaouis die Mehrheit stellten, auch ein Moment der Stabilität, da es die Wahrscheinlichkeit eines Staatsstreichs reduzierte. Indem die Militärmacht nun ihre alte Basis im Aurès-Gebirge aufgibt, könnte sie ihren inneren Zusammenhalt verlieren und für die Rivalitäten, die das Regime erschüttern, anfälliger werden. Die jüngste Entwicklung läßt ahnen, daß in Zukunft die Konfliktlinie nicht mehr nur zwischen dem Staatspräsidenten und der Militärführung verlaufen wird. Die nächsten Ernennungen und Beförderungen werden ein genaueres Bild der neuen Kräfteverhältnisse ergeben.

Das Problem der Armee ist aber nicht nur, daß sie dem Terrorismus kein Ende setzen konnte. Da sie die Repräsentanten der Staatsmacht ins Amt gebracht hat, teilt sie nun mit der Regierung die Verantwortung für die Mißerfolge in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Die Unfähigkeit von Politikern wie Ahmed Ghozali, Belaid Abdesslam, Mokdad Sifi und Ahmed Ouhayia fällt somit auf die Generäle zurück. Das bringt sie aber politisch in die Defensive, weil sie nicht nur dem Terrorismus, sondern auch der Arbeitslosigkeit und dem sinkenden Lebensstandard keinen Einhalt bieten konnten. Und weil deshalb in den Zeitungen diskutiert wird, wer die Entscheidungen trifft und wer nur formell die Macht ausübt.

Offenbar erprobt die Militärführung derzeit neue Methoden, die davon ablenken sollen, daß letztlich nur sie selbst die Macht ausübt. So schrieb in der Armeezeitschrift El Djeich3 der Generalstabschef persönlich, die Präsidentschaftswahl sei nicht Sache der Armee, sondern der Parteien. Dabei werden die wichtigen Entscheidungen, etwa über die Linie gegenüber der bewaffneten islamistischen Opposition oder über die Wahl eines Präsidentschaftskandidaten, im „Konklave“ der Generäle getroffen. An diesen inneren Zirkeln (einer Art Armee-ZK) würden die Obristen, und zumal die Majore, gerne teilnehmen, General Lamari hingegen würde lieber auf sie verzichten, weil solche informellen Zirkel die Einheit der Armee gefährden könnten, falls der Teilnehmerkreis weiter ausgedehnt würde.

Merkwürdigerweise läßt Lamari aber den verschiedenen Clans innerhalb der Armee freie Hand, einen Kandidaten ihrer Wahl zu unterstützen. Im privaten Gespräch brüsten sich denn auch zahlreiche Anwärter ihres Rückhalts im militärischen Apparat. Daß die Medien sich nicht für die Kandidaten der Opposition interessieren, sondern nur für die den Machthabern nahestehenden, zeigt, daß das Regime weiterhin auf das politische Personal setzt, das bereits seit der Unabhängigkeit (1962) an den Schalthebeln sitzt.

Über die entscheidenden Probleme werden die Kandidaten jedenfalls nichts zu sagen haben: über die verfassungsmäßige Einbindung der Armee, über die Unabhängigkeit der Justiz, über den Rückzug des militärischen Geheimdienstes aus der Politik und den Medien, über die Einzelheiten des Abkommens mit der AIS, über die „Todesschwadronen“, von denen eine Zeitung im September 1998 berichtet hat. Und auch nicht über die Tausende „verschwundenen“ Personen, die Massaker in den Dörfern usw. Die Verdrängung dieser heiklen Themen macht deutlich, daß die Politik ein Sperrbezirk bleibt, der einigen Generälen untersteht, die zum Teil schon außer Dienst sind. Damit besteht allerdings die Gefahr, daß die Armee zur Arena der Machtkämpfe zwischen den unterschiedlichen politischen und ideologischen Lagern der Gesellschaft wird.

Drei Kandidaten dreier Armeefraktionen

DASS in einem Rechtsstaat die Armee eine „entpolitisierte“ Rolle spielt, soll dafür sorgen, daß sie ihren inneren Zusammenhalt bewahrt und vor Spaltungen geschützt ist. Diese schmerzliche Einsicht werden auch die Generäle bald gewinnen. Daß sie nun eine ganze Reihe von Kandidaten ins Rennen schicken, beweist nur, daß sie sich nicht darüber einigen konnten, welcher Weg aus der Krise herausführen könnte.

Um dem Regime, das in der Öffentlichkeit als völlig korrupt gilt4 , zu mehr Glaubwürdigkeit zu verhelfen und um die Behauptung zu entkräften, es bestünden „zwei Ebenen“ der Macht, beteuern die Generäle, das Staatsoberhaupt solle künftig die zivile Gesellschaft repräsentieren. So erklärt sich, daß sie sogenannte „Kandidaten der nationalen Einheit“ ins Rennen geschickt haben. Man hofft, auf diese Weise auch die Stimmen der Islamisten zu bekommen, ohne das ungeschriebene Gesetz des Systems zu verletzen, das lautet: Die einzige Quelle der Macht ist die Armee. Zum einen soll so die islamistische Gefahr reduziert, zum anderen das Image des Regimes im Ausland verbessert werden. Denn angesichts der niedrigen Ölpreise auf dem Weltmarkt hat man die internationale Hilfe nötiger denn je zuvor.

So sehr ist das Regime auf die Kredite aus dem Westen angewiesen, daß einige Generäle auf die Idee kamen, den 72jährigen Hocine Ait Ahmed als Kandidaten zu präsentieren. Ahmeds Partei, der Front des Forces Socialistes (FFS), ist Mitglied der Sozialistischen Internationale, und in den meisten europäischen Ländern sind heute die Sozialdemokraten an der Regierung. Denkt die Armee also an das Modell Marokko? Dort arrangiert sich eine sozialdemokratische Regierung mit dem König, der sich die letzten Entscheidungen vorbehält – etwa in der Außenpolitik und in allen militärischen und polizeilichen Angelegenheiten.

Ait Ahmed hat seine Kandidatur auf einer Kundgebung in Algier am 5 . Februar bekanntgegeben, dabei aber gleichzeitig die politischen Forderungen seiner Partei bekräftigt: Rückkehr zum sozialen Frieden durch öffentliche Verhandlungen und Rückübertragung der staatlichen Souveränität, die sich die Armee unrechtmäßig erobert hat, an die Verfassungsorgane. Aus dem Tenor der Berichte, die am nächsten Tag in El Watan erschienen (die Zeitung steht einer wichtigen Fraktion der Armee nahe), war zu schließen, daß diese Positionen bei bestimmten „Entscheidungsträgern“ Unmut erregt hatten. Das Regime duldet nur eine Scheinopposition, wohingegen Hocine Ait Ahmed neben Louiza Hanoune der einzige glaubwürdige Oppositionspolitiker auf nationaler Ebene ist.

Nachfolger von Liamine Zéroual wird also ein Zivilist sein, der formell durch die Wahl legitimiert ist, in Wahrheit aber abhängig von der Unterstützung, die ihm die Armee gewährt. Die „offiziellen“ Kandidaten – von denen es wie gesagt mehrere gibt – können durchaus unterschiedliche Einschätzungen der aktuellen Krisensituation vortragen; akzeptabel sind sie jedoch nur, wenn sie sich bereits innerhalb des Machtapparats bewährt haben und Gewähr für ihre künftige Regimetreue bieten. Derzeit gibt es drei Anwärter auf das höchste Amt, die auf die Unterstützung bestimmter Fraktionen der Armee rechnen können: Abdelaziz Bouteflika, ehemals Minister unter dem Präsidenten Houari Boumedienne; Ahmed Taleb Ibrahimi, Sohn des höchsten Repräsentanten der Ulema (der Religionsgelehrten) während der vierziger und fünfziger Jahre und Bildungsminister unter Boumedienne; sowie Mouloud Hamrouche, ehemaliger Ministerpräsident unter Chadli Bendjedid. In diesen drei Vertretern von politischen Richtungen innerhalb des Machtapparats findet die ideologische Heterogenität des Regimes ihren Ausdruck.

Abdelaziz Bouteflika ist ein alter Weggefährte von Houari Boumedienne, dem er 1978 eine unvergessene Grabrede gehalten hat. Er steht für jenen nationalistischen Populismus, für den sich ein Teil der Führungsschicht noch immer begeistern kann. Dabei handelt es sich um die Kreise, die von einer Rückkehr zu den Zeiten der Einheitspartei träumen, als die Machthaber noch geachtet und gefürchtet waren. Daß Bouteflika über einen soliden Rückhalt in der Armee verfügt, wurde deutlich, als der militärische Geheimdienst versuchte, die Kandidatur von Ahmed Ghozali zu verhindern.5

Ein Populist ist auch Ahmed Taleb Ibrahimi, der über beste Kontakte zum Staatsapparat, zum Bildungs- und Justizministerium und zu den arabischsprachigen Medien verfügt. Ibrahimi hat sich nicht die Nation, sondern den Islam auf die Fahne geschrieben, und unter den Machthabern gibt es einige, die durch ihn die Unterstützung der Islamisten gewinnen und so die Krise überwinden wollen.

Mouloud Hamrouche steht in der Mitte zwischen den beiden prononcierteren Kandidaten. Seine Fürsprecher sitzen in der staatlichen Bürokratie und in den Führungsetagen vieler Unternehmen, die auf eine Wirtschaftsreform und die Überwindung der starren alten Strukturen hoffen. Hamrouche hatte zwar einen hohen militärischen Rang, als er sich in den Zivilstand versetzen ließ, doch genießt er im Militär nicht sehr viel Unterstützung: Die Armeeführung kann ihm die Wirtschaftsreformen nicht verzeihen, die er als Premierminister (1989-1991) durchgeführt hat. Sie wurden von all denen bekämpft, die starke Positionen innerhalb der staatlichen Monopolbetriebe innehatten und dabei fette Provisionen abzweigen und auf Auslandskonten überweisen konnten.

1995 hatte die Armee Liamine Zéroual auf den Schild gehoben, doch diesmal geben die Militärs nicht so eindeutige Prioritäten zu erkennen. Die Wahlen werden von staatlichen Institutionen durchgeführt, die nicht unabhängig sind – es wird also der Kandidat der stärksten Fraktion gewinnen. Aber wer wird das sein? Abdelaziz Bouteflika hat heftige Kritik einstecken müssen. In vielen Zeitungen wurde ihm der Vorwurf gemacht, sich zu den schweren Heimsuchungen, die das Land durchzustehen hatte, über Jahre hinweg nicht geäußert zu haben. Sogar M'hamed Yazid, in der Zeit des Unabhängigkeitskriegs (1954-1962) Mitglied der Provisorischen Regierung der Republik Algerien (GPRA), der für das „Große Schweigen“ durchaus Verständnis gezeigt hat, unterstellte Bouteflika in seiner Kolumne in einer algerischen Tageszeitung, er sei der Kandidat eines „cabinet noir“6 – eine Anspielung auf die Unterstützung Bouteflikas durch General Médiène, den Chef des militärischen Geheimdienstes, und dessen Stellvertreter General Smain Lamari. Daß diese offene Kritik in der Presse überhaupt möglich war, macht erneut deutlich, daß sich der Generalstab nicht auf einen Kandidaten seiner Wahl einigen konnte und bereit wäre, Bouteflika ebenso zu akzeptieren wie Taleb oder Hamrouche. Allerdings unter einer Bedingung: Der gewählte Präsident darf nicht versuchen, die Grenzen seiner Macht zu überschreiten, sonst wird er ebenso scheitern wie Chadli, Boudiaf und General Zéroual.

Aber besteht nicht die Gefahr, daß diese Konkurrenz der Kandidaten außer Kontrolle gerät? Mouloud Hamrouche und der pensionierte General Rachid Benyellès7 haben die Armee bereits aufgefordert, eine eindeutige Position zu beziehen: Sie solle entweder offiziell erklären, welcher Kandidat ihre Unterstützung hat, oder versichern, daß sie keinerlei Einfluß auf die Wahlen nehmen werde. Um eine solche Entscheidung zu treffen, müßte allerdings der innere Zirkel der Armee zu einer jener „Beratungen“ zusammenkommen, die Generalsstabchef Lamari ja gerade vermeiden will.

Wenn die Armee weiterhin auf ihrem langjährig bewährten Prinzip beharrt, die einzige Quelle der Macht zu sein und zugleich nach außen hin als Institution im Rahmen der Verfassung zu gelten, die dem Staatspräsidenten unterstellt ist, wird sie sich unlösbare Probleme einhandeln. Die politischen und ideologischen Bedingungen, unter denen sie als Inbegriff der nationalen Souveränität galt, haben sich überlebt. Der heutigen Generation der Algerier bedeutet die Legitimation nichts mehr, die sich die Nationale Volksarmee (ANP) aus ihrer früheren historischen Rolle abgeleitet hat. Und im übrigen hat die Armee längst ihren Anspruch aufgegeben, den sie noch in den sechziger und siebziger Jahren verfolgte, nämlich für die Modernisierung der Gesellschaft zu sorgen.

Ihre aktuelle Lage ist prekär: Sie kann nicht offen die Macht ergreifen und eine Militärdiktatur errichten, wie es die türkische Armee in den achtziger Jahren getan hat, weil ihr eine unumstrittene Führungspersönlichkeit vom Format Boumediennes fehlt. Aber sie könnte andererseits entscheidend dazu beitragen, Algerien zu einem Rechtsstaat zu machen, indem sie als Garant einer Übergangsperiode auftritt, in der man die gegenwärtigen Konflikte beilegen könnte. Aber das würde bedeuten, daß sich die Armee als eine Institution im Rahmen des Staates begreift und daß die Generäle sich als Staatsdiener verstehen. Als hohe Staatsdiener zwar, aber ohne das Vorrecht, den Präsidenten zu bestimmen und die Mehrheitsverhältnisse im Parlament zu kontrollieren.

In den höheren Rängen der Armee – vor allem unter den Obersten und Majoren, die in den fünfziger Jahren geboren sind und den Unabhängigkeitskrieg nicht erlebt haben – gibt es nicht wenige, die mit einer solchen Lösung einverstanden wären. Aber dem steht die Rolle des militärischen Geheimdienstes entgegen, der nach wie vor die tragende Säule des Regimes darstellt. Dieser Geheimdienst müßte sich auf seine ursprüngliche Aufgabe beschränken – über die Moral der Truppe zu wachen – und seine Aktivitäten in den Ministerien (wo er Informanten auf allen Ebenen beschäftigt) ebenso aufgeben wie den Druck auf die Medien und die Steuerung von Gewerkschaften und Parteien. Und nicht zuletzt müßten die Zuständigkeiten im Bereich der Sicherheit geändert werden: Der militärische Geheimdienst müßte Teil der nationalen Polizeikräfte werden und dürfte nicht länger als die führende Kraft agieren; er müßte der Justiz unterstellt werden und sich entsprechend auch für Rechtsbrüche verantworten.

Algerien zahlt derzeit einen hohen Preis für die Illusion, man könne eine Gesellschaft unter die Führung einer politischen Partei stellen, die sich als solche nicht zu erkennen gibt und außerhalb der Gesetze agiert. Die sozialen Probleme sind viel zu komplex, als daß sie von heimlichen Machthabern gelöst werden könnten; sie erfordern einen Staat, in dem klar ist, von wem die Macht ausgeht. Unter vier Augen kann man von einigen Mitgliedern des Kabinetts Beschwerden darüber hören, daß sie ihre Befugnisse nicht wirklich ausüben dürfen, daß sie öffentlich zur Rechenschaft gezogen werden, aber gar nicht über die Mittel verfügen, um die ernsten sozialen Probleme des Landes anzugehen. Sie werden – nicht ohne Grund – der Inkompetenz, der schlechten Amtsführung oder gar des Verrats beschuldigt. So etwa von den Familien, die Opfer terroristischer Anschläge zu beklagen haben und die gegen eine Verordnung protestierten, in der nur von den Opfern der „nationalen Tragödie“ die Rede war, egal ob Islamisten oder Nichtislamisten. Angeblich war diese Formulierung ein Resultat der geheimen Abkommen mit der AIS. Stellvertretend für viele hat M'hamed Yazid gefordert, ein „cabinet noir“, eine Geheimdienstzentrale, dürfe sich nicht länger an die Stelle des Staates setzen. Genau darum geht es bei diesen Wahlen.

Edgar Peinelt

* Professor am Institut für politische Studien (IEP) in Lyon, Mitglied des IEP-Forschungszentrums in Lyon. Im März 1999 erscheint sein Buch „Les Mutations de la société algérienne“, Paris (La Découverte).

Fußnoten: 1 Siehe Lahouari Addi, „Algerien: Was der Terror verdeckt“, Le Monde diplomatique, Februar 1998. 2 Siehe Bruno de Callies de Salies, „Die Gewaltfrage spaltet die feindlichen Lager“, Le Monde diplomatique, Oktober 1997. 3 El Djeich (Algier) vom November 1998. 4 Siehe Faiçal Karabadji, „Die Marktwirtschaft der algerischen Handelsmafia“, Le Monde diplomatique, September 1998. 5 Siehe Le Canard enchainé vom 17. Februar 1999 sowie Le Monde vom 19. Februar 1999. 6 El Watan (Algier) vom 5. Januar 1999. „Cabinet noir“ wurde der in Frankreich von Louis XIV eingerichtete Geheimdienst genannt. 7 El Watan vom 28. und 30. Dezember 1998.

Le Monde diplomatique vom 12.03.1999, von LAOARI ADDI