16.04.1999

Das eigensinnige Adoptivkind der USA

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Das eigensinnige Adoptivkind der USA

ZUM hundertsten Mal jährte sich 1998 der Beginn der US-amerikanischen Kolonialherrschaft über Puerto Rico. Vor 47 Jahren erlangte die Insel den Status eines assoziierten Freistaates (Estado Libre Associado, ELA), eine Form begrenzter Autonomie innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung der Vereinigten Staaten. Einige Abgeordnete des amerikanischen Kongresses betrachten diesen Modus als eine zu kostspielige Zwitterform und fordern einen neuen Status für Puerto Rico. Die Diskussion über diese Frage bewet aber auch die politischen Kräfte auf der Insel. Am 13. Dezember 1998 haben die Puertoricaner in einem Referendum die Unabhängigkeit klar abgelehnt, einem vollen Anschluß an die Vereinigten Staaten aber den umstrittenen Status quo vorgezogen.

Von JAMES COHEN *

Die puertoricanischen Wähler, die am 13. Dezember 1998 aufgerufen waren, sich über ihr künftiges Verhältnis zu den Vereinigten Staaten zu äußern, haben sich mehrheitlich dagegen ausgesprochen, die Insel als 51. Bundesstaat in die USA einzugliedern. Die Anhänger dieser Option kamen auf 46,5 Prozent der Stimmen. Damit wurde dieser Vorschlag innerhalb von fünf Jahren zum zweiten Mal abgelehnt.1 Die Kräfte, die das Referendum (mit 50,2 Prozent) gewonnen haben, bekundeten damit ihren Willen, die aktuell geltende Regierungsform des 1952 gegründeten Assoziierten Freistaates (ELA) beizubehalten (siehe Kasten). Das Ergebnis gilt als entscheidender Rückschlag für den politischen Anschluß, den die gegenwärtige Regierung in San Juan, die Neue Fortschrittspartei (PNP), anstrebt. Doch das Lager der Sieger – eine Koalition von Kräften, die sich dem Anschluß widersetzen – scheint in sich zerstritten, und für den US-Kongreß, der von der Abstimmung ein klares Ergebnis erwartet hatte, ist der Wählerwille nur schwer auszumachen.

Die Anhänger des Freistaates warfen der Regierung „Manipulation“ bei der Fragestellung vor; sie wiesen die Definition des ELA-Status zurück, wie sie auf dem Stimmzettel dargestellt wurde, und weigerten sich deshalb, für ihre eigene Option zu stimmen – eine ungewöhnliche und außerhalb der Insel nur schwer nachvollziehbare Haltung. Die umstrittene Definition besagte, der Assoziierte Freistaat sei „der Autorität des Kongresses, der Verfassung, den Gesetzen und den Verträgen der Vereinigten Staaten“ unterworfen. Dies würde bedeuten, daß es dem Kongreß jederzeit freisteht, den ELA-Status von Puerto Rico zu verändern oder sogar abzuschaffen. Aus der Sicht der Verteidiger des Assoziierten Freistaates beruht dieser jedoch auf einem „Abkommen“ mit den Vereinigten Staaten, das nicht einseitig geändert werden kann. Ein solches Abkommen wurde allerdings nie schriftlich festgehalten. Und die Freiheit des Kongresses, den Status zu verändern, ist keineswegs nur eine abstrakte Frage, da einzelne amerikanische Abgeordnete und Senatoren entschlossen sind, sie auch in Anspruch zu nehmen. Deshalb befolgte dann auch der siegreiche Wählerblock die Parole der wichtigsten Oppositionspartei, der Demokratischen Volkspartei (PPD), die seit jeher den jetzigen Status verteidigt, und stimmte für die „Option 5“: „Keine der angegebenen Wahlmöglichkeiten“.

Die Partei der US-Staatsbürgerschaft

NACH der Abstimmung reklamieren beide Lager den Sieg für sich. Die Anhänger des Status quo verweisen auf ihre – wenn auch knappe – Mehrheit: für sie ist die Frage des Anschlusses an die Vereinigten Staaten endgültig vom Tisch. Dagegen vertreten Gouverneur Pedro Rosselló und seine Freunde von der PNP unter Berufung auf 46,5 Prozent der Stimmen die fragwürdige Ansicht, das Ergebnis sei ein klares Votum zugunsten des Anschlusses, denn mit Option 5 sei keine ausdrückliche Entscheidung für einen bestimmten Status getroffen worden. Manche PNP-Führer gehen sogar soweit, diese Option als „Abfalleimer“ zu bezeichnen, in dem 784842 Stimmen verlorengegangen seien.2

Das Lager des Anschlusses ist mit seinen 726766 Stimmen jedoch unbestritten der stärkste politische Block. Seinem strategischen Ziel – das Erbe des Kolonialismus zu überwinden durch die Erlangung der vollen Bürgerrechte der Vereinigten Staaten – stimmen breite Teile der Bevölkerung zu. Das Hauptproblem besteht jedoch darin, die Bevölkerung davon zu überzeugen, daß die Politik des Anschlusses nicht zur völligen Aufgabe der eigenen Kultur und Sprache führen wird.

Die PNP setzt sich für den Ausbau des Englischunterrichts ein, ohne die Vorherrschaft der spanischen Sprache in Frage zu stellen. Viele Wähler befürchten allerdings, daß die Eingliederung in die Vereinigten Staaten das Spanische auf lange Sicht verdrängen könnte und somit dann jede Identität als Volk oder Nation verlorengehen würde.

Dieses Mißtrauen gegenüber dem politischen Anschlußprojekt bedeutet keineswegs, daß die Puertoricaner die volle Autonomie ihres Landes herbeiwünschen. Mit 2,5 Prozent Stimmenanteil (39625 Stimmen) sind die Befürworter der Unabhängigkeit bei diesen Wahlen auf den tiefsten Stand seit Anfang des Jahrhunderts gesunken. Auch die Option einer „Freien Assoziation“, einer Art begrenzter Souveränität, überzeugte nur 0,3 Prozent der Wähler (4472 Stimmen). Nur diese beiden Optionen implizieren jedoch die Aufgabe der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft und der damit verbundenen Rechte. Der wahre Sieger der Abstimmung war also, wie ein Kommentator treffend bemerkte, „die Partei der amerikanischen Staatsbürgerschaft“4 .

Für die PPD bot sich die Option 5 in zweifacher Hinsicht als Ausweg an: Sie war nicht nur dienlich, um eine wenig vorteilhafte Definition des ELA-Status zurückzuweisen, sondern auch, um eine schwierige interne Diskussion zu vermeiden, nämlich die zwischen den Anhängern eines Assoziationsabkommens in seiner jetzigen Form und den Befürwortern eines Freistaates mit Autonomierechten. Diese Spaltung wird augenfällig, sobald man die sehr autonomistische Formulierung, die im Oktober 1998 von der Partei verabschiedet worden war5 , mit den moderaten Aussagen vergleicht, die im Laufe des Wahlkampfes zu diesem Thema gemacht wurden.

Hier sprachen etwa führende Parteimitglieder wie Sila Calderón, die Bürgermeisterin von San Juan und wahrscheinliche Kandidatin für die Gouverneurswahl im Jahr 2000, und Rafael Hernández Colón, ein ehemaliger Gouverneur, nurmehr vom „Fortbestand“ des Freistaates. Den Status quo zu verteidigen war die beste Methode, die Wähler nicht zu verschrecken, die ein Abdriften in Richtung Autonomie mehrheitlich ablehnen.

Im anderen Lager hat Pedro Rosselló, der 1996 als Gouverneur wiedergewählt worden war, mit seinem willkürlichen und autoritären Auftreten die Befürworter eines Anschlusses um mehrere tausend Stimmen gebracht, wie selbst zahlreiche Aktivisten der PNP zugeben. Seine krankhafte Geheimniskrämerei bei der 1998 durchgeführten Privatisierung der puertoricanischen Telefongesellschaft und seine geringschätzige Haltung gegenüber den Streikenden, die diese Politik in Frage zu stellen wagten, haben einen Teil der öffentlichen Meinung endgültig gegen ihn aufgebracht.

Im übrigen wurde Pedro Rosselló von Bürgern aller politischen Richtungen vorgeworfen, um jeden Preis am angekündigten Referendumstermin festzuhalten, auch nachdem der Wirbelsturm George im September 1998 beträchtliche Schäden auf der Insel angerichtet hatte. Nicht nur die Opposition, sondern auch mehrere PNP- Bürgermeister hatten vergeblich einen politischen Waffenstillstand von einigen Monaten gefordert, um die Wiederaufbauarbeiten ohne parteipolitische Polarisierung vorantreiben zu können.

Die Abstimmung vom 13. Dezember ging auf eine lokale Initiative Pedro Rossellós zurück, die dieser nach dem Scheitern eines anderen Referendumsprojekts betrieben hatte, das 1998 im Kongreß der Vereinigten Staaten höchst kontrovers diskutiert worden war. Ein unter der Oberhoheit der US-Bundesbehörden durchgeführtes Referendum wäre ungleich bedeutender gewesen, denn es hätte Washington gezwungen, den Wählerwillen zu respektieren. Dieses Abstimmungsprojekt, das der republikanische Repräsentantenhausabgeordnete Don Young aus Alaska vorangetrieben hatte, war am 4. März 1998 mit äußerst knapper Mehrheit (209 gegen 208 Stimmen) angenommen worden. Die Sache wurde dann jedoch vom Senat nicht weiterverfolgt: Unter dem Vorwand, das Programm der Legislaturperiode sei bereits zu überladen, sorgte der Vorsitzende des Senats, Trent Lott (ein Republikaner aus Mississippi) dafür, daß das Projekt in der Kommission hängenblieb.6 Damit war zum zweiten Mal innerhalb von sieben Jahren ein Projekt zur Befragung der puertoricanischen Wählerschaft nach wochenlangen Verhandlungen mit den politischen Parteien der Insel im US-Kongreß versandet.

Daß manche Volksvertreter in Washington die Suche nach einer Strategie zur Veränderung des Status von Puerto Rico so hartnäckig bremsen, kommt nicht von ungefähr: Wenn sich die Mehrheit der Puertoricaner für eine Eingliederung des Landes in die Vereinigten Staaten ausgesprochen hätte, wäre der Kongreß gezwungen gewesen, eine Übergangsperiode einzuleiten. Die Gegner einer solchen Entwicklung – in der Mehrheit Republikaner – sehen in der Integration Puerto Ricos jedoch eine Gefahr für die Vereinigten Staaten, und das aus mindestens zwei Gründen.

Erstens glauben sie, daß der Freistaat schon heute den US-Bundeshaushalt erheblich strapaziert. In ihren Augen wäre ein integriertes Puerto Rico ein Faß ohne Boden, ein „Bettlerstaat“, da rund 60 Prozent der Inselbewohner als arm eingestuft werden. Puerto Rico kann heute schon fast alle Arten von Krediten beanspruchen, die den Bundesstaaten von der Bundesregierung bewilligt werden. Die Summe der 1996 transferierten Gelder wird auf 6 Milliarden Dollar geschätzt. Als Bundesstaat hätte Puerto Rico einen Anspruch auf Beteiligung an allen US-amerikanischen Programmen.

Dabei wird natürlich vergessen, daß die Hälfte der Puerto Rico zugute kommenden Kredite aus dem Bundeshaushalt aus Programmen stammen, für die es selbst Beiträge zahlt. Vergessen wird auch, daß diese Kredite weniger als 1 Prozent des gesamten US-Budgets ausmachen.9 Schließlich bleibt ausgeklammert, daß die auf der Insel angesiedelten Unternehmen saftige Profite in die USA zurückführen, die beispielsweise im Jahre 1996 rund 16 Milliarden Dollar ausmachten.10

Die zweite Gefahr, die der Anschluß nach Ansicht seiner Gegner mit sich bringt, rührt von der Tatsache her, daß viele Puertoricaner ihre Gemeinschaft als eigenständiges Volk ansehen. Puerto Rico wäre der erste Bundesstaat, in dem Englisch nicht die vorherrschende Sprache wäre, und der erste, der eine territoriale Basis für eine sprachliche und kulturelle Minderheit bieten würde. Für manche Volksvertreter käme ein integriertes Puerto Rico einem „zweiten Quebec“ gleich: Es wäre die Inkarnation eines unakzeptablen „Multikulturalismus“11 .

Die Frage der Sprache ist allerdings weder für Don Young noch für die Regierung Clinton ein größeres Problem. Im Februar 1998 erklärte Präsident Clinton, es sei „nicht korrekt“, die Eingliederung Puerto Ricos aus Gründen der Sprache oder der Kultur abzulehnen.

Angestammte Rechte unter Beschuß

HINTER dem Widerstand der Republikaner gegen die Assimilationspläne steckt schließlich noch ein weiteres Motiv, das nicht laut ausgesprochen wird. Sie befürchten, zu Recht oder zu Unrecht, daß in einem puertoricanischen Bundesstaat die Demokraten dominieren würden. Die Insel hätte Anrecht auf zwei Senatoren und fünf bis sechs Abgeordnete; nach dem jetzigen Status entsendet sie nur einen Vertreter, der nicht einmal Stimmrecht hat.

Als Roselló für die Stimmzettel eine Definition des ELA-Statuts durchsetzte, die von den Anhängern des Freistaats abgelehnt wird, beschritt er nur den vom Republikaner Young vorgezeichneten Weg. Letzterer scheut sich nicht zu verkünden, die Tage des Assoziierten Freistaates seien gezählt.12 Young hätte am liebsten ein USA-weites Referendum, bei dem die Option des Freistaates gar nicht zur Wahl stünde, doch dagegen gibt es sowohl im US-Kongreß als auch auf der Insel nach wie vor starken Widerstand.

Der Kongreß kann indessen auch Maßnahmen beschließen, die den Status des Freistaats aushöhlen, ohne ihn aufzuheben. 1996 hatten der Kongreß und Präsident Clinton im Rahmen ihres Feldzugs gegen das Haushaltsdefizit beschlossen, innerhalb von zehn Jahren die Klausel 936 des Bundesfinanzgesetzes schrittweise abzuschaffen, wonach die auf der Insel aktiven US-Unternehmen von den Steuern auf zurückgeführte Profite befreit sind. Dieser 1976 eingeführte Steuervorteil begünstigte die Ansiedlung von Industriebetrieben im Bereich der Hochtechnologie (insbesondere Elektronik und pharmazeutische Produkte). Die Abschaffung der Klausel 936 verstärkt die bereits vorherrschende Tendenz zum Stellenabbau in der Industrie und entzieht dem Freistaat einen wichtigen Trumpf.

Einen anderen „Versuchsballon“ hat Senator Frank H. Murkowski, ein mit Young verbündeter Republikaner aus Alaska, gestartet. Er hat angeregt, die US- Einkommensteuer auch in Puerto Rico zu erheben. Der aktuelle (nicht stimmberechtigte) Vertreter Puerto Ricos im Kongreß, Carlos Romero Barceló von der PNP, will eine solche Maßnahme jedoch nur dann akzeptieren, wenn gleichzeitig die Gleichbehandlung Puerto Ricos mit den 50 Bundesstaaten bei der Vergabe von Krediten durchgesetzt würde.

Angesichts des neoliberalen Windes, der im Kongreß weht, ist es allerdings auch vorstellbar, daß diese Steuer eingeführt wird, ohne daß die Puertoricaner die geforderte Gegenleistung erhalten. Auch Budgetkürzungen, die angestammte Rechte der Insel in Frage stellen, sind nicht auszuschließen. Bleibt abzuwarten, ob die Puertoricaner, die sich zur US-amerikanischen Staatsbürgerschaft bekennen, aber auch ihre Identität respektiert wissen wollen, ihre parteipolitische Zerstrittenheit überwinden können, um die konkreten Vorteile des gegenwärtigen Status zu verteidigen.

dt. Birgit Althaler

* Forschungsgruppe „Geschichte der spanischen Antillen“ an der Universität Paris VIII, Fachbereich Politikwissenschaft.

Fußnoten: 1 1993 hatte die puertoricanische Regierung ein anderes Referendum durchgeführt, mit den folgenden Resultaten: Assoziierter Freistaat 48,4 Prozent, Anschluß 46,2 Prozent, Unabhängigkeit 4,2 Prozent. 2 El Nuevo Dia, San Juan, 14. Dezember 1998. 3 Zahlreiche Anhänger der Puertoricanischen Unabhängigkeitspartei (PIP) haben nach Angaben der Parteiführung die Option 5 angekreuzt, um gegen den Anschluß zu stimmen. 4 Der Ausdruck stammt von Professor Juan Duchesne an der Universität von Puerto Rico. 5 „Propuesta de desarrollo del Estado Libre Asociado“, zit. nach El Nuevo Dia, 16. Oktober 1998. 6 El Nuevo Dia, 4. März 1998. 7 Im Repräsentantenhaus wurde der Vorstoß Youngs nur von 43 republikanische Kollegen unterstützt, 177 stimmten dagegen. Bei den Demokraten erhielt er 165 Jastimmen, 31 waren dagegen. 8 Jahresbericht der Junta de planificación de Puerto Rico, 1997. 9 Schätzung von Jaime Benson, Direktor der Forschungsabteilung im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Puerto Rico. 10 ebd. 11 El Nuevo Dia, 25. Februar 1998. 12 El Nuevo Dia, 15. Dezember 1998. 13 El Nuevo Dia, 19. Dezember 1998.

Le Monde diplomatique vom 16.04.1999, von JAMES COHEN