11.06.1999

Die Balkanisierung der Köpfe

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Die Balkanisierung der Köpfe

Die Zukunft der Gebiete Exjugoslawiens entscheidet sich im Denken und Fühlen der Menschen. Das wird nicht nur von Erinnerungen an den Krieg geprägt, sondern auch von gezielten kulturpolitischen Strategien. Die nationalistischen Kräfte wollen ihre fixen Ideen von „ethnischer Besonderheit“ bis in den Sprachgebrauch hinein durchsetzen.

Von unserem Korrespondenten ANDRÉ LOERSCH *

DER Bus hält in einem gottverlassenen Dorf. Kaffeepause. Die erste Rast auf einer freudlosen Reise von Sarajevo nach Banja Luka. Es regnet, alles ist grau, auch die Gesichter der paar wortkargen Fahrgäste. Sascha, die Ellbogen auf die Theke gestützt, bricht das Schweigen, indem er eine Zigarette anbietet. Nachdem er sein Gegenüber gemustert hat, wagt er eine Frage: „Sie sind nicht von hier?“ – „Nein.“ Erneutes Schweigen. Sascha blickt sich um, rückt dann etwas näher: „Unter uns, man sagt hier nicht mineralna voda [Mineralwasser]“ meint er in vertraulichem Ton, „sondern kisela voda [wörtl. saures Wasser].“ Bei der Abfahrt am Busbahnhof hatte er mitgehört, wie der Fremde den in Kroatien üblichen Begriff benutzte, um ein Mineralwasser zu bestellen. Jetzt rät er ihm in aller Freundschaft, das in Serbien und Bosnien übliche Wort zu gebrauchen. Um jeden Verdacht abzuwehren, er wolle die Sprache des Fremden serbifizieren, fügt er hinzu: „Selbst im Gebiet der Föderation1 sagt man so.“

Die Episode illustriert, was die Kriege angerichtet haben, unter denen die Region in den letzten Jahren leiden mußte: Die Aufteilung der Gebiete und der Versuch, nationale Identitäten zu begründen, hat zu einer wahren „Balkanisierung in den Köpfen“ geführt, die nun eines der größten Hindernisse für die Normalisierung darstellt. Das gilt für die gesamte Balkanregion, aber in Bosnien-Herzegowina zeigt sich besonders drastisch, wie bornierte und fragmentierte Vorstellungen von Vergangenheit und Gegenwart jede Zukunftsperspektive blockieren: Hier gibt es Gemeinschaften, die die gleiche Sprache sprechen und doch oft so tun, als könnten sie einander nicht mehr verstehen. Und es gibt eine Verfassung, die so unterschiedliche Auslegungen zuläßt, daß sie real kaum zu existieren scheint.

In Bosnien beginnt die Fragmentierung des Denkens bereits in den Schulen. Während des Krieges wurden neue Schulbücher herausgegeben, in unterschiedlicher Fassung. Welche Bücher die Kinder benutzen, hängt davon ab, welcher „Nation“ sie angehören. Es gibt also drei Unterrichtsvarianten, „drei Wahrheiten“2 , obwohl es gerade nach dem Krieg darauf ankäme, Klarheit über die Ereignisse der Vergangenheit und die Verantwortlichkeiten zu gewinnen. Nur wenn die Menschen zu einer gemeinsamen Sprache und zu gemeinsamen moralischen und politischen Werten finden, wird man dauerhafte Zukunftskonzepte formulieren können. „Was Bosnien heute braucht, ist vor allem Aufrichtigkeit“, meint auch Vehid Sehic, Präsident des Bürgerforums von Tuzla, das sich für die Schaffung einer Kommission für „Frieden und Versöhnung“ nach südafrikanischem Vorbild einsetzt.

Vier Jahre nach Unterzeichnung der Dayton-Abkommen ist die Aufrichtigkeit, von der Sehic spricht, offenbar noch ein allzu weit entferntes Ziel. Das liegt nicht nur an den Wunden, die der Krieg geschlagen hat, sondern auch an den widerstreitenden Interessen der Vertragsparteien von Dayton. Während die muslimische Führung offiziell stets am Prinzip eines geeinten Bosnien festhielt, beeilten sich die serbischen Nationalisten, ihrer Gebietseinheit den Status eines „Staates mit beschränkter Souveränität“ zuzuschreiben.3 Und daß die Kroaten in der Herzegowina heute die Schaffung einer „dritten Gebietseinheit“ fordern (mit Parolen wie „Drei Völker – warum zwei Gebiete?“)4 , könnte den Zerfall Bosniens beschleunigen und den Aufspaltungsprozeß, der in den Köpfen bereits vollzogen ist, auch territorial besiegeln.

Das Bemühen der früheren Kriegsgegner, sich auch auf sprachlicher Ebene gegeneinander abzugrenzen, verweist auf eine irritierende, aber unbestreitbare kulturelle Realität: Der Bosnienkrieg hat Gemeinschaften gegeneinander aufgebracht, deren Dialekte so eindeutig auf die gemeinsame Wurzel des Serbokroatischen verweisen, daß kein seriöser Linguist sie als verschiedene Sprachen bezeichnen wird. Es sind lediglich mehr oder weniger ausgeprägte regionale Varianten ein und derselben Sprache. In einem Land, von dem manche sagen, vor dem Krieg hätten die größten kulturellen Unterschiede etwa darin bestanden, daß einige ihren Kaffee aus henkellosen Tassen tranken, genügt heute eine Tasse Kaffee, um einen Gesprächspartner einzuordnen: kava sagen die Kroaten, kafa die Serben und kahva die Anhänger der „bosnischen Sprache“.

Ein dramatisches Spiegelbild der Spuren und Trennlinien, die der Krieg im Denken der Menschen hinterlassen hat, bietet Mostar in der Herzegowina. Die Stadt wurde in den Kämpfen zwischen Kroaten und Muslimen in den Jahren 1992 bis 1994 verwüstet und dann geteilt. Um von der sveuciliste (kroat. für Universität) im Westteil der Stadt zur bosniakischen univerzitet im Osten zu gelangen, muß man lediglich die Neretva überqueren. „Die kroatische Universität wurde per Dekret von den staatlichen Stellen der Republik Herzeg-Bosna ins Leben gerufen, die heute nicht mehr existieren“, betont Nurudin Bijedic, stellvertretender Rektor der univerzitet. „Diese Entscheidung widersprach der Verfassung der Republik Bosnien-Herzegowina, die bestimmte, der Unterricht sei in der vom Volk gebrauchten Sprache abzuhalten, also in Kroatoserbisch oder in Serbokroatisch. Da aber Kroaten wie Serben auf der Existenz einer serbischen bzw. kroatischen Sprache bestanden, blieb uns nichts anderes übrig, als ebenfalls auf einer „bosniakischen“ Sprache zu bestehen – obwohl die Unterschiede völlig unerheblich sind – und unsere eigene Universität zu eröffnen.“

Ethnische Säuberung der Sprache

AUF serbischer Seite hat die Sprachwillkür vor einigen Jahren eine wahre Groteske produziert. Die Behörden der Republika Srpska versuchten, den Mitarbeitern von Radio und Fernsehen per Erlaß den Gebrauch des ekawischen Serbokroatisch vorzuschreiben. Diese Variante wird in Serbien gesprochen, während die Serben in Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Montenegro die jekawische Variante benutzen – der Unterschied liegt lediglich in der Aussprache bestimmter Wörter. Ranko Risojevic, Schriftsteller in Banja Luka, erinnert sich grinsend: „Die Journalisten konnten nicht mehr richtig Serbisch. Sie wußten nicht, wie sie sich ausdrücken sollten, und das geplante Gesetz wurde schließlich zurückgezogen.“

Die Aussonderung von unerwünschten Begriffen ist auch in Kroatien zu beobachten. Das Ergebnis ist eine Verarmung der Sprache. „Man darf nicht glauben, daß alle Begriffe, die jetzt als serbisch verpönt sind, lediglich Synonyme für kroatische Wörter waren“, erklärt ein kroatischer Universitätslehrer. „Zum Beispiel hat der kroatische Begriff povijest, für Geschichte, nicht die gleiche Bedeutung wie der als serbisch geltende Begriff historija. Der eine bezeichnet vergangene Ereignisse, der andere meint die Interpretation dieser Ereignisse. Es gibt nur eine povijest, aber unzählige historija.“

Daß alles von den politischen Strategien bestimmt ist, gilt auch für die Art, wie den Bürgern des früheren Jugoslawien ein bestimmtes Verhältnis zu ihren Sprachen eingebleut wird. Ein Autor meint sogar, daß „der endgültige politische Zerfall Jugoslawiens durch das allmähliche Vordringen des kulturellen Partikularismus vorbereitet wurde“5 . Nach den Demonstrationen des „kroatischen Frühlings“ versuchte Tito dieser Bewegung die Spitze zu nehmen, indem er viele kulturelle Forderungen der kroatischen Nationalisten erfüllte. Im damaligen Jugoslawien war die Bildung weitgehend eine Sache der Teilrepubliken; die Vermittlung von Sprache und Literatur sollte „ein Gefühl der Zugehörigkeit zur eigenen Nation, zu ihrer Kultur, ihrem literarischen Erbe und ihrer Sprache entwickeln.“6

Solche Bildungsziele haben vielleicht schon damals das endgültige Scheitern jener Idee von „Jugoslawien“ besiegelt, die serbische und kroatische Intellektuelle im 19. Jahrhundert entwickelt hatten. Damals hatte man gerade die Ähnlichkeiten zwischen den kulturellen Gemeinschaften der Slawen in Südosteuropa hervorgehoben. Diese Annäherung wurde sogar in einem Abkommen über die Entwicklung einer gemeinsamen Schriftsprache besiegelt, das kroatische und serbische Schriftsteller 1850 in Wien unterzeichneten. Das Projekt orientierte sich an ähnlichen Bemühungen in Ländern wie Deutschland und Italien, die sprachlich ebenfalls uneinheitlich waren. Von diesem Geist ist heute auf dem Balkan nichts mehr zu spüren. So hat der Verfasser eines neuen Wörterbuchs der kroatischen Sprache bei dessen Publikation eigens hervorgehoben, daß „auf tausend Seiten kein einziger Serbizismus“ vorkomme.7 In Belgrad erklären gewisse Linguisten, Kroaten und Muslime, die „stokawisch“ sprechen (eine Variante des Serbokroatischen), seien im Grunde Serben, die sich ihrer Nationalität nur nicht bewußt sind.8 Und der Streit zwischen Skopje und Sofia um die Anerkennung einer makedonischen Sprache (die für Sofia nur ein bulgarischer Dialekt ist) hat fünf Jahre lang verhindert, daß ein bilateraler Grundsatzvertrag und weitere Einzelabkommen zwischen Makedonien und Bulgarien unterzeichnet werden konnten.9

In der Balkanregion sind die Beziehungen zwischen einigen Gemeinschaften so von Haß geprägt, daß solche Probleme derzeit unlösbar scheinen. Gleichwohl entscheidet sich die Zukunft der Region gerade auch an Fragen der Identitäten und der interkulturellen Beziehungen. Die Zerstörung der Bibliothek von Sarajevo durch den Beschuß der Serben und deren Auswirkungen machen deutlich, daß ein multiethnischer Staat oder eine Gemeinschaft zum Überleben einer kulturellen Existenzform bedarf. Denn die Nationalbibliothek von Bosnien-Herzegowina war, wie der bosniakische Schriftsteller Dzevad Karahasan feststellt, exemplarischer Ausdruck des Bestehens einer „Kulturgemeinschaft“, weil sie „fünf Jahrhunderte ungebrochener literarischer Tradition“ bezeugte. „In dem Augenblick, da es seine Nationalbibliothek verloren hat – das Gebäude zerstört, die Sammlung von Büchern, Handschriften und Zeitungen vernichtet –, ist Bosnien-Herzegowina auf der symbolischen Ebene weniger real geworden.“10

Langfristig werden sich die Folgen des Krieges aber auch auf einer allgemeineren Ebene zeigen, in den grundlegenden Kulturformen, die das Alltagsleben ausmachen. „Die kulturelle und moralische Substanz Bosniens und seiner Einwohner hat durch die Ideologie dieses Krieges schweren Schaden genommen“ meint der in Sarajevo lebende Schriftsteller und Essayist Ivan Lovrenovic. „In letzter Konsequenz wurde gerade die wichtigste Errungenschaft der bosniakischen Sozialgeschichte vernichtet, die für Kultur und Alltagsleben prägend war: die Gewöhnung an den anderen, als Bestandteil des Alltagslebens, an die ihm gebührende Eigensphäre. Erst mit dieser Erfahrung der Andersheit war es möglich, Bosniake zu sein. Bosniaken, die aufgrund eines aggressiven und chauvinistischen Plans umgesiedelt wurden, sind keine Bosniaken mehr, sondern nur noch Muslime, Kroaten und Serben.“11

Damit bestätigen sich auf regionaler Ebene die Schlußfolgerungen einer Studie über die Funktion der Schulbücher für die identitätsstiftenden Strategien. Einer der Autoren verwies darauf, daß man die starren Vorstellungen von der Einzigartigkeit der jeweiligen Identität überwinden müsse: „Gegensätze, die heute noch unüberwindlich scheinen, könnten in Zukunft gemildert werden, wenn die heutigen und künftigen Schulkinder in Griechenland, Serbien, Bulgarien, Makedonien, Rumänien, Kroatien, Bosnien, Albanien und Slowenien erfahren, daß sie nicht nur Griechen, Bulgaren, Serben, Montenegriner, Albaner, Kroaten, Slowenen usw. sind, daß sie nicht nur Christen oder Muslime, sondern auch Bewohner des Balkans und Europäer sind.“12

Im Bereich der Politik wird die Rückkehr zum politischen Diskurs erst dann gelingen können, wenn die verschiedenen Gemeinschaften und ihre politischen Eliten in der Lage sein werden, gemeinsame Zukunftsvorstellungen zu entwickeln. In den Medien kommt der Balkan als ein Gebiet von eigener geographischer und geostrategischer Kohärenz überhaupt nicht vor. Es fehlt der Blick aufs Ganze, es gibt keine gemeinsamen Kategorien, sondern nur immer wieder neue Dramen. Die Tragödie im Kosovo zeigt, wie sich die Spirale der Begriffslosigkeit immer weiter dreht. Genau besehen verweigern die serbischen Machthaber den Albanern genau das, was sie gerade erst für die Serben in Kroatien und Bosnien fordern. Und ebenso unterstützt Zagreb in der Herzegowina politische Forderungen (der Kroaten innerhalb der bosnischen Föderation), die sie den Serben in Kroatien nicht zugestanden hat. „Aber man kann hier über Fragen der Region immer noch nicht reden“, meint resigniert ein kroatischer Intellektueller. „Wer mit solchen Überlegungen kommt, steht im Verdacht, ein Jugo- Nostalgiker zu sein.“ Die meisten Staaten in der Region definieren als ihr wichtigstes außenpolitisches Ziel den Beitritt zur Europäischen Union. Aber jeder der potentiellen Anwärter betrachtet die Frage aus seiner eigenen Perspektive. Jacques Rupnik spricht in diesem Zusammenhang von einer „Mischung aus Vorurteil und überzogener Erwartung, die für die Führungsschichten der Balkanländer durchaus typisch ist: Jede von ihnen hat ihre eigene Vorstellung von Europa, die in der Regel das eigene Land ein-, das Nachbarland hingegen ausschließt.“13

dt. Edgar Peinelt

* Journalist, Genf.

Fußnoten: 1 Gemäß dem Vertrag von Dayton (1995) besteht Bosnien-Herzegowina aus zwei Gebietseinheiten: der mehrheitlich von Serben bewohnten Serbischen Republik sowie der Bosniakisch-Kroatischen Föderation, in der Muslime und Kroaten die Mehrheit bilden. 2 Titel eines Artikels in der in Sarajevo erscheinenden Zeitschrift Dani, die im Herbst 1998 und Frühjahr 1999 eine Artikelserie über die Schulbücher in den Grundschulen Bosnien-Herzegowinas brachte. 3 So der Titel eines Buches von Petar Kunic (Professor für Verfassungsrecht in Banja Luka [Serbische Republik]): „Republika Srpska, drzava sa ogranicenim suverenitetom“, 1997. 4 In der Zeitschrift Globus (Zagreb), 12. März 1999. 5 Siehe Andrew Baruch Wachtel, „Making a Nation, Breaking a Nation: Literature and Cultural Politics in Yugoslavia“, Stanford University Press 1998. 6 Ebd. 7 Globus (Zagreb) vom 13. November 1998. 8 Vreme (Belgrad) vom 19. September 1998. 9 Die Meinungsverschiedenheiten wurden anläßlich eines Besuchs des bulgarischen Präsidenten Schelju Schelew in Skopje im April 1994 offenbar: Es ging um die Frage, in welcher Sprache (oder welchen Sprachen) die zu unterzeichnenden offiziellen Dokumente ausgefertigt werden sollten. Während die makedonische Seite darauf bestand, es müsse auf jedem Dokument vermerkt werden, daß es in makedonischer und in bulgarischer Sprache abgefaßt sei, wollten die Bulgaren die makedonische Sprache nicht erwähnt wissen und wünschten statt dessen die Formulierung, jedes Dokument sei „in den Amtssprachen der Republik Bulgarien und der Republik Makedonien abgefaßt“. Nach dem bulgarischen Vorschlag, statt dessen die englische Sprache zu verwenden, war die Situation so verfahren, daß erst im März 1999 ein Kompromiß zustande kam und eine Reihe von Verträgen ratifiziert wurden. Die Formulierung lautete jetzt, die Dokumente seien in den Sprachen abgefaßt, die in beiden Länder in der jeweiligen Verfassung bestimmt sind. Damit hatte Bulgarien indirekt die Existenz einer makedonischen Sprache anerkannt. Im Gegenzug verzichtete Skopje darauf, offiziell von einer makedonischen Minderheit in Bulgarien zu sprechen. 10 Siehe Dzevad Karahasan, „Dosadna razmatranja“, Zagreb (Durieux) 1997. 11 Ivan Lovrenovic, „Unutamja zemlja“, Zagreb (Durieux) 1998. 12 Aus einem Beitrag in „Les Balkans – carrefour d'ethnies et de cultures: les aspects éducatifs et culturels“, Strasbourg (Editions du Conseil d'Europe) 1996. 13 In „L'Ex-Yougoslavie en Europe: de la faillite des démocraties au processus de paix“, Paris (Harmattan) 1997.

Le Monde diplomatique vom 11.06.1999, von ANDRÉ LOERSCH