09.07.1999

ANTHONY GIDDENS UND BODO HOMBACH FUNDIEREN DIE NEUE MITTE

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ANTHONY GIDDENS UND BODO HOMBACH FUNDIEREN DIE NEUE MITTE

Die Privatisierung der Sozialdemokratie

Von JOSÉ VIDAL-BENEYTO *

DAS Grundsatzpapier „Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten“, das Tony Blair und Gerhard Schröder am 8. Juni in London vorstellten, ist politisch eine bedeutende Angelegenheit und zielt in erster Linie auf das Wählerpublikum. Der Niedergang des liberalen Fundamentalismus, der sich noch nicht in einer entsprechenden Reorganisation der politischen Rechten niedergeschlagen hat, entbindet einen Teil der Wählerschaft, der sich weder mit der mangelnden sozialen Sensibilität der neoliberalen Konzepte noch mit dem Inhalt der alten christdemokratischen Programme identifizieren mag. Hier liegt ein beträchtliches Wählerpotential, und die beiden sozialdemokratischen Politiker haben es sich auf die Fahne geschrieben, unter Inkaufnahme eines möglichst geringen Stimmenverlustes im linken Spektrum diese Wähler an sich zu binden.

Ihrer Meinung nach bieten nur der Kapitalismus mitsamt der unersetzlichen Marktwirtschaft einerseits und die Unternehmen als Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums andererseits eine wirkliche Perspektive für das kommende 21. Jahrhundert. Sie glauben, gegen die Gefahr einer möglichen Konkurrenz durch kommunistische oder sozialistische Alternativen gefeit zu sein, da diese den heutigen Gesellschaften nicht mehr adäquat seien.

Es gehe darum, sagen sie, die Radikalismen linker wie rechter Provenienz endlich hinter sich zu lassen, da diese heutzutage mit der Komplexität des modernen Lebens unvereinbar seien. Vielmehr gehe es darum, einen dritten Weg einzuschlagen, der der Sozialdemokratie eine neue Balance ermöglicht und auf neuen Werten basierende politische Konzepte anbietet: Modernität und Pragmatismus, Absage an die Gleichheit als unabänderliches Ziel und an den Staat als Grundpfeiler der sozialen Gerechtigkeit, Förderung des Konsensprinzips als wichtigstes Element des politischen Lebens und die Ermutigung zu Innovation und Eigeninitiative, die als wesentliche Instrumente für den individuellen und kollektiven Fortschritt angesehen werden.

Die neue Formel habe sich schon bei den Wahlen in Großbritannien, in Deutschland und zuletzt in Israel als Stimmenmagnet erwiesen und werde sich schließlich überall durchsetzen, denn ihr sei es gelungen, den Dogmatismus und Archaismus der Paläo- Sozialdemokratie zu überwinden.

Nieder mit dem Wohlfahrtsstaat

DIE völlige Unvereinbarkeit dieser Vorstellungen mit den 21 Punkten des vor drei Monaten in Mailand unterzeichneten Europäischen Manifests der sozialistischen Parteien erklärt zweifellos die katastrophale Niederlage von Blair und Schröder bei den Wahlen zum Europäischen Parlament am 13. Juni. Doch abgesehen davon ist festzuhalten, daß diese Vorstellungen einen Schlußstrich ziehen unter den Anspruch der Sozialdemokratie, eine deutliche linke Alternative zu der fragwürdigen Koexistenz von kapitalistischem System und demokratischer Regierungsform zu bieten.

Denn diese Koexistenz ist keineswegs ein Wesensmerkmal der Demokratie, wie es der liberale Ansatz unterstellt. Die Koexistenz basiert vielmehr auf der Annahme, daß der Widerspruch zwischen der Akkumulation des Kapitals einerseits – jenem Grundprinzip des Kapitalismus, das notwendig zur Konzentration von Reichtum und wirtschaftlicher Macht in den Händen einer kleinen Gruppe führt – und der Legitimierung des Systems durch Umverteilung andererseits – welche die Herrschaft der Reichen für die Mehrheit der Bevölkerung akzeptabel macht – überwunden sei.

Dieser Widerspruch verliert in den Phasen starken Wirtschaftswachstums an Bedeutung, wenn hohe Kapitalrenditen mit Vollbeschäftigung, steigenden Gehältern und anhaltender Konsumsteigerung einhergehen. Doch verschärft er sich in Phasen der Stagnation oder Rezession, insbesondere, wenn der Staat die Mängel nicht ausgleichen kann. In den Krisenperioden funktioniert der Sozialpakt zwischen Arbeitnehmern, Unternehmen und Staat nur unzureichend.

In den siebziger Jahren schwächten die Wirtschaftskrise und die zunehmende Arbeitslosigkeit sowohl die Welt der Arbeit als auch das westliche Modell des politischen Gleichgewichts: Betroffen hiervon war in erster Linie die konfliktgeladene, aber stabile Koexistenz von Kapital, Arbeit und Staat. Der Fall der Mauer Ende der achtziger Jahre, der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Verknöcherung des Marxismus wirkten auf die Parteien der Linken wie ein Erdbeben.

All jene sozialistischen Parteien, die noch nicht nach dem Bad Godesberger Vorbild dem Marxismus abgeschworen hatten, holten dies nun eiligst nach, die Sozialdemokratisierung des Sozialismus griff um sich. Nacheinander brachen insbesondere in Südeuropa all jene Parteien der Linken, die bislang noch enge Verbindungen mit den Gewerkschaften unterhielten, diese Beziehungen ab: zuerst in Portugal, dann in Spanien, Italien etc. Damit verließ die Welt der Arbeit die politische Bühne. Doch durch diesen Bruch verelendet die feste Basis des demokratischen Sozialismus, das Wechselwählertum steigt auf, die Glaubwürdigkeit des Projekts für den sozialen Wandel wird untergraben, und die sozialistischen Parteien schrumpfen auf die Rolle simpler Wahlparteien, die gemeinsam mit den übrigen Parteien nurmehr um die politische Macht buhlen.

Der Staat, den Liberale wie Anarchisten schon immer als ein ineffizientes, verschwenderisches und repressives Gebilde ansahen, wurde in den letzten Jahren überrollt: von unten aufgrund der immer stärkeren Autonomieforderungen von Kommunen und Städten, von oben aufgrund der Entstehung makropolitischer Gebiete wie etwa der Europäischen Union. Und nicht wenige wollen ihn am liebsten ganz ausrangieren, mit der Behauptung, die Globalisierung habe ihm den Gnadenstoß erteilt und er sei nicht länger fähig, seine Funktionen zu erfüllen.

Der bedeutendste Aspekt des neoliberalen Manifestes von Blair und Schröder ist die Gelassenheit und Radikalität, mit der die beiden Parteichefs all jenen Recht geben, die seit zwanzig Jahren den Tod der Sozialdemokratie proklamiert haben.1 Die Argumente, die sie dabei anführen, sind von bestürzender Kraftlosigkeit. Man findet sie nicht im Grundsatzpapier selbst, dafür aber in zwei Büchern, welche die theoretische Grundlage für diese Verleugnung der eigenen Geschichte liefern sollen.2 Das erste, „Der dritte Weg“3 , stammt von Anthony Giddens, dem Berater von Tony Blair; das andere, „Aufbruch, Die Politik der Neuen Mitte“4, von Bodo Hombach, dem ehemaligen Kanzleramtsminister und Berater von Schröder, der seinerseits das Nachwort dazu verfaßt hat.

Um die ausweglose Situation der Sozialdemokratie aufzuzeigen, kritisieren beide Autoren unbarmherzig die Hauptsäulen dieser politischen Strömung: die Welt der Arbeit, die Arbeiterbewegung, die Gewerkschaften, den Staat, insbesondere den Wohlfahrtsstaat, den sie für die gegenwärtige Stagnation verantwortlich machen.

Hombach greift dabei eine alte Formel auf: Man müsse die Gesellschaft aus ihrer Blockierung befreien. Giddens, Direktor der London School of Economics und einer der international renommiertesten Soziologen, fordert eine weitere Modernisierung. Die Welt der Arbeit berührt er kaum, und deshalb taucht dieser Begriff im Glossar seines Buches auch nur im Zusammenhang mit dem Begriff „Markt“ auf. Für beide Autoren reduziert sich das Problem der Arbeit auf die Probleme des Arbeitsmarktes, insofern hier Angebot und Nachfrage aufeinandertreffen und von den Notwendigkeiten der Wirtschaft reguliert werden. Für beide Autoren ist somit die Auseinandersetzung mit dem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit obsolet geworden. Da die Arbeiterklasse angeblich fast gänzlich verschwunden ist, könne sie nicht länger eine Stütze der sozialdemokratischen Parteien sein; die Links-rechts-Polarisierung der Parteien habe folglich kaum noch Sinn bzw. sei Ausdruck weitaus komplexerer Kriterien.

Im Rückgriff auf alte sozialliberale Argumente behauptet Anthony Giddens, die Arbeiterbewegung sei endgültig von neuen sozialen Bewegungen verdrängt worden, die heute die eigentlichen Akteure des politisch-sozialen Handelns seien. Die Dramatik der Klassengegensätze sei längst durch den Gegensatz von gesellschaftlichem Ausschluß versus Teilhabe abgelöst worden. Giddens geht sogar so weit zu behaupten, der übertriebene Ausschluß, sprich: die Ausgrenzung der oberen Gesellschaftsschichten, habe ebenso negative Auswirkungen wie die Ausgrenzung der unteren Schichten; daher dürften Integrationsmaßnahmen nicht ausschließlich, ja nicht einmal vorrangig auf die sozial schwächsten Gruppen abzielen, denn dies könne eine Fragmentierung zur Folge haben und die zentrifugale Tendenz der führenden Schichten begünstigen, die für den Fortschritt der Gesellschaft eine essentielle Rolle spielten.

Laut Giddens sollten wir uns von dem Unternehmergeist und dessen charakteristischen Werten – als da wären Wettbewerbsfähigkeit und Akkumulation von Reichtum – leiten lassen und von den klassischen (sozialdemokratischen), aus Ängsten geborenen Forderungen nach Sicherheit und Umverteilung Abstand nehmen. Den Mut zu Fortschritt und Herausforderung, welcher den Unternehmer angeblich auszeichnet, sollten sich laut Giddens auch die Beschäftigten zu eigen machen: im Interesse eines aktiven Verhältnisses zur Risikobereitschaft, welche die Grundlage jeder wahrhaft flexiblen Beschäftigungspolitik darstelle. Es sei nun an der Zeit, der Passivität des Wohlfahrtsstaates abzuschwören, da dieser eine Gesellschaft von Beihilfeempfängern schaffe. Die Bürger müßten zu sozialen Akteuren werden und einen „sozialen Investitionsstaat“ schaffen, in dem der Wohlfahrtsstaat durch eine Wohlfahrtsgesellschaft abgelöst werde, die jedem Individuum eine aktive Teilhabe ermögliche.

Nichts anderes sagt auch Bodo Hombach. Für ihn ist die soziale Marktwirtschaft der einzig mögliche sozioökonomische Rahmen und der Christdemokrat Ludwig Ehrhard (abgesehen von Gerhard Schröder) der einzige Politiker, den er bewundert.

Das Modell, das uns Tony Blair und Gerhard Schröder vorschlagen, getreu den Theorien ihrer Berater, ist im Grunde genommen weder neu noch sozialdemokratisch. Es sei denn, man akzeptiert eine Sozialdemokratie, die sich in den Dienst der Liberalen stellt, d.h. eine privatisierte Sozialdemokratie.

dt. Andrea Marenzeller

* Direktor des Collège des hautes études européennes, Paris.

Fußnoten: 1 Vgl. z.B. Alain Touraine, „L'Après-socialisme“, Paris (Grasset) 1980; Ralf Dahrendorf, „L'Après-social-démocratie“, Le Débat, Nr. 7, Paris (Gallimard), Dezember 1980; François Furet, Jacques Julliard und Pierre Rosanvallon, „La République du centre. La fin de l'exception française“, Paris (Calman-Lévy) Paris 1988. 2 Vgl. Ignacio Ramonet, „Die moderne Rechte“, Le Monde diplomatique, April 1999. 3 Anthony Giddens, „Der dritte Weg“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1998. 4 Bodo Hombach, „Aufbruch. Die Politik der neuen Mitte“, München (Econ) 1998.

Le Monde diplomatique vom 09.07.1999, von JOSÉ VIDAL-BENEYTO