12.11.1999

Die realpolitische Wende der Hisbollah in Südlibanon

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Die realpolitische Wende der Hisbollah in Südlibanon

Von WALID CHARARA und MARINA DA SILVA *

WÄHREND zwischen Israel und Syrien noch die Vorgespräche über eine eventuelle Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen laufen, hat Ehud Barak bereits erklärt, die Armee aus dem Südlibanon abziehen zu wollen. Doch im September 1999 flog die israelische Luftwaffe noch rund hundert Angriffe auf Ziele im Libanon – die höchste Quote seit der Operation „Früchte des Zorns“ von 1996. Die internationale Medienöffentlichkeit nimmt diese Bombenangriffe kaum zur Kenntnis. Die erzielen dennoch nicht die gewünschte Wrkung: Der Widerstand der Bevölkerung gegen die israelische Besatzung ist ungebrochen.

Zuerst gibt es anhaltende Artillerieduelle. Das Dorf Dschardschu ist eine ideale Zielscheibe, es liegt direkt gegenüber der israelischen Stellung auf dem Berg Sodschud. Von dort aus kann die israelische Armee jede Straße und jedes Dorf unten im Tal überwachen, ihre drei Stützpunkte Sodschud, Sweida und Birkelab beherrschen die ganze Gegend. Die Heftigkeit des Beschusses deutet darauf hin, dass es eine Aktion der Widerstandskräfte gegeben hat. Kurz darauf erfahren wir, dass in Beit Dschahun der örtliche Vertreter der SLA (der proisraelischen Miliz „Armee des Südlibanon“) getötet wurde. Beit Dschahun ist einer der fünf Grenzübergänge zwischen der israelisch besetzten Zone und dem Libanon.

Den ganzen Tag über werden „Vergeltungsangriffe“ geflogen. Israelische Jagdbomber donnern im Tiefflug über die Dächer von Dschardu oder stoßen aus großer Höhe herunter, um ihre Ziele besser zu treffen. Mitten in der Kampfzone gräbt ein alter Bauer ungerührt seinen Acker um. Kaum hundertfünfzig Meter neben Alis Haus detonieren zwei Bomben, zwei dicke schwarze Rauchpilze steigen auf.

Ali ist fünf Jahre alt. Vor zwei Jahren wurde er bei einem Raketenangriff am Auge verletzt. Auch das konnte seine Eltern nicht dazu bewegen, ihr Dorf zu verlassen, das direkt in der Kampfzone liegt. „Sie können uns bombardieren, solange sie wollen“, erklärt Alis Mutter, die ihr jüngstes Kind eng an sich gepresst hält. „Wir werden nicht fortgehen. Wir sind keine Landstreicher.“ In den internationalen Medien werden die täglichen Luftangriffe kaum erwähnt. Seit Anfang des Jahres haben die israelischen „Vergeltungsmaßnahmen“ 22 Tote und 144 Verwundete unter der libanesischen Zivilbevölkerung hinterlassen1 , den Angriffen der Hisbollah fielen 19 SLA-Kämpfer zum Opfer, 67 wurden verwundet.

Es vergeht kein Tag, an dem die Hisbollah nicht eine, zwei oder drei Kommandoaktionen startet, ganz gezielt schlägt sie überall in der Region zu. „Seit den Abkommen vom April2 können uns die Israelis nicht mehr ganz so gnadenlos unter Beschuss nehmen“, meint Ali Mahmud, der einmal Landwirt war und jetzt mit Kaffee handelt. „Aber sie heizen den Konflikt ständig an. Die Widerstandsgruppen schlagen zurück, und sie kümmern sich um die Pflege der Verwundeten und helfen uns, die Häuser wieder aufzubauen.“ In Dschardschu, einem Dorf mit christlichen und muslimischen Einwohnern, leben knapp siebenhundert Menschen. Einst waren es zweitausend, und die Landwirtschaft war ihre wichtigste Erwerbsquelle. Von ihr lebten bis zur Invasion von 1982 rund 40 Prozent der Gesamtbevölkerung des Südlibanon. „Die ganze Landwirtschaft und das Bewässerungssystem sind zerstört“, erklärt Ali Mahmud. „Ein großer Teil der Olivenbäume und der Kiefernwälder ist niedergebrannt oder abgeholzt worden, damit die Widerstandskämpfer dort keine Deckung finden. Aber wir werden nicht weichen. Hier ist jeder Mann, jede Frau und jedes Kind ein Widerstandskämpfer.“ Ebenso entschlossen und erdverbunden zeigt sich Heikal Habib Elias, der nicht weit entfernt wohnt. „Wir sind wie die Fische im Wasser“, meint er. „Wenn man uns aus dem Wasser zieht, sind wir verloren. Wir fürchten, dass hier das gleiche geschieht wie in Palästina.“ Immer wieder hört man die Befürchtung, enteignet zu werden, wie die Palästinenser.

Der Südlibanon, der sich geographisch an Galiläa anschließt, gehörte früher kulturell und wirtschaftlich zu Palästina. Das erklärt, weshalb seine Bewohner an der Tragödie von 1948 so großen Anteil nehmen. Zehntausende flohen damals in den Süden des Libanon, Israel annektierte sieben libanesische Dörfer. Von 1949 bis 1964 meldete der Libanon 140 israelische Angriffe, zwischen 1968 und 1974 waren es 3 000.3 Nachdem 1975 der libanesische Bürgerkrieg begonnen hatte, wurden die israelischen Übergriffe noch massiver, vor allem in der Form militärischer Unterstützung der christlichen extremen Rechten im Libanon. Der damalige Verteidigungsminister Schimon Peres finanzierte eine Gruppe von etwa vierhundert demobilisierten israelischen Offizieren, die sich mit dreihundert falangistischen Milizionären und Mitgliedern der „Zedernwächter“ zur „Armee des freien Libanon“ zusammengeschlossen hatten – der Vorläuferin der heutigen SLA.

Die „Operation Litani“ von 1978 bedeutete den Einmarsch der israelischen Streitkräfte in den Südlibanon und die Besetzung eines Gebiets von 700 Quadratkilometern. Bei der Operation wurden 1 186 Zivilisten getötet, 285 000 Menschen vertrieben, 82 Dörfer schwer beschädigt, 6 vollständig zerstört. Vier Jahre danach forderte die Operation „Frieden für Galiläa“ und die Belagerung Beiruts fast 20 000 Tote unter der libanesischen und palästinensischen Zivilbevölkerung, weitere 500 000 wurden vertrieben.

Abu Zeid ist in dem Dorf Arab Salim geboren, das ebenfalls dicht an der Frontlinie liegt. Die vielen kleinen Ladengeschäfte des Ortes florieren, offenbar ist man entschlossen, dem Krieg zu trotzen. „Fünfmal ist unser Haus zerstört worden, mein Sohn wurde verwundet. Bis zum nächsten Krankenhaus ist es weit, hier verletzt zu werden bedeutet oft, dass man einfach verblutet. Aber wir sind für dieses Land verantwortlich, wir können es nicht aufgeben, was immer geschieht.“

Zwanzig Jahre Krieg

AHMAD hat sich nach der Invasion von 1982 sofort dem Widerstand angeschlossen. „Die Israelis hatten meinen Vater und meine beiden Brüder verhaftet. Sie hatten alle Männer zwischen fünfzehn und sechzig Jahren zusammengetrieben und gruppenweise zu je fünfzig Mann zusammengepfercht. Sie mussten schlimme Erniedrigungen erdulden. In Sohmur [in der westlichen Bekaa-Ebene], Zaraye und Saida gab es zahlreiche Massaker.“ Die israelische Armee verhielt sich nicht anders als andere Besatzungstruppen. Die Flüsse Wazani und Hasbani wurden umgeleitet4 , man nahm willkürliche Verhaftungen vor und errichtete Gefangenenlager, es gab Kollektivbestrafungen, Familien wurden vertrieben.

Zusammen mit zwei anderen Familien hat Maher Jussuf Abud am Ortsrand von Nabatiye Zuflucht in einem zerschossenen Gebäude ohne Dach und Fensterscheiben gefunden. Als man ihn Ende 1989 aus Odeyisse vertrieb, wurde sein Haus gesprengt. „Odeyisse ist das letzte Dorf vor der Grenze zu Palästina. Eines der Häuser stand genau auf der Grenzlinie, die die Israelis festgelegt hatten. Sie haben Stacheldraht mittendurch gezogen. Die eine Hälfte gehört zum Libanon, die andere zum besetzten Palästina. Sie wollten das Land kaufen, und sie haben den Frauen Arbeit versprochen, aber dann haben sie eine Ausgangssperre ab 18 Uhr verhängt und mit Panzern für Ordnung gesorgt.“

Nach der Invasion von 1982 dauerte es nicht lange, bis sich der Widerstand formierte. Die Organisationen der Linken (Kommunistische Partei, Libanesische Kommunistische Aktion, Partei der Arabischen Sozialistischen Aktion) bildeten am 15. September 1982 die Nationale Libanesische Widerstandsfront, die sich Mitte 1983 mit der schiitischen Amal-Bewegung zusammenschloss. Damals verfügten die Islamisten noch nicht über eine gemeinsame organisatorische Struktur.

Die Gruppierungen, aus denen sich die Hisbollah zusammensetzte, kamen aus dem halb städtisch, halb ländlich geprägten Siedlungsgürtel im Süden von Beirut und zum Teil auch aus den Vorstädten im Westen (aus dem Schiitenviertel Nabaa, das 1976 von den Falangisten zerstört worden war). Später gewannen sie auch in den Ortschaften an Einfluss, aus denen die Einwohner dieser Quartiere stammten – Dörfer im Hinterland, um das sich der Staat nicht mehr kümmerte und das vorher, wie die Bekaa-Ebene und der Südlibanon, eine Hochburg der mit den palästinensischen Widerstandsgruppen verbündeten panarabischen und linken Parteien gewesen war.

Während sich die meist verarmte und entwurzelte ländliche Bevölkerung für dieses Programm besonders empfänglich zeigte, erwiesen sich die schiitischen Einwohner der Städte an der Küste (Tyrus, Saida und Beirut) als staatstreu. Ihre Sympathien galten vor allem der Amal-Bewegung von Nabih Berri, die für eine Säuberung und Erneuerung des Staatsapparats eintrat. Neben der Begeisterung für die iranische Revolution von 1978/79 förderte auch der israelische Einmarsch von 1982 die Herausbildung einer islamistischen Richtung innerhalb des Widerstands.

In der Folgezeit verlor die Linke immer mehr an politischem und militärischem Einfluss. Der im Gefolge des Bürgerkriegs vollzogene Rückzug in die isolierten Gemeinschaften, die regionalen und internationalen politischen Interessen und Strategien, die Auflösung der Sowjetunion, der Streit innerhalb der Linken um die strategischen Lehren aus dem Bürgerkrieg – all das bewirkte eine erhebliche Schwächung. Dagegen entwickelte sich die Amal, nach dem ersten israelischen Rückzug im April 1985, zu einer der wichtigsten Kräfte im Bürgerkrieg.

Allerdings konzentrierte sich die Bewegung auf den Kampf gegen die Palästinenser und engagierte sich nicht so sehr im Kampf gegen die Besatzung. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wurde die Hisbollah zur entscheidenden Widerstandskraft. Sie versuchte, sich als Verkörperung des nationalen Abwehrkampfs darzustellen. Dabei verknüpfte sie die Sache des Widerstandes mit der religiösen Dimension und profilierte sich mit Parolen, die an der nationalen Wirklichkeit vorbeigehen.

So sieht es auch Ali Fayad, Mitglied des Politbüros der Hisbollah: „Das Problem mit manchen islamistischen Organisationen ist, dass sie kein politisches Programm mit klaren Zielsetzungen haben. Es fehlt ihnen der Blick auf die geopolitischen Realitäten der Welt von heute. Diese Bewegungen müssen lernen, den politischen Pluralismus und die abweichenden Standpunkte zu akzeptieren, statt sie zu unüberwindlichen Gegensätzen zu machen. Sie müssen sich auch lossagen von der Gewalt als Mittel im Kampf um die Macht, sonst werden sie der Logik des Bürgerkriegs verfallen, die eine Bedrohung für die Einheit der arabisch-muslimischen Gesellschaften darstellt.“

Die von Israel besetzte Zone umfasst 1 100 Quadratkilometer, das entspricht der Hälfte des Südlibanon und 10 Prozent des gesamten libanesischen Staatsgebietes. Es handelt sich um einen Gebietsstreifen von 7 bis 17 Kilometer Breite und 79 Kilometer Länge, in dem 113 Städte und Dörfer und 60 Gehöfte liegen. Infolge der militärischen Übergriffe und einer gezielten Vertreibungspolitik ist die Einwohnerzahl von ursprünglich 800 000 auf nur noch 70 000 gesunken.

In der Praxis bedeutet die militärische Besetzung, dass es Stellungen auf dem gesamten Höhenzug entlang der israelisch-libanesischen Grenze sowie auf einzelnen strategisch wichtigen Anhöhen gibt. Die Frontlinie wird wie die besetzte Zone selbst von der mit Israel verbündeten SLA-Miliz kontrolliert, die über etwa fünfzig befestigte Stellungen und fünf Kasernen verfügt. 1990 lag die Truppenstärke der SLA bei 3 000 Mann. Durch die Angriffe der Widerstandsgruppen ist diese Zahl bis 1999 auf 1 500 gesunken.

Adel und Riad Kalakisch leben seit vierzehn bzw. sieben Jahren als Häftlinge im Gefangenenlager von Chiam. Erst vor kurzem haben ihre Eltern eine Besuchserlaubnis erhalten – alle drei bis vier Monate eine halbe Stunde. „Wir stammen aus Debbin, in der Nähe von Mardschajun, aber wir mussten den Ort 1994 verlassen. Vor der Besatzung hatte Debbin fast 4 300 Einwohner, jetzt sind es kaum 200. Die Kollaborateure bedrohen uns und erheben alle möglichen Abgaben – auf die Autos, für jede Fahrt in den Ort hinein oder wieder heraus. Sie kamen in unser Haus und haben unsere Kinder verhaftet.“ Chiam ist seit 1985 eine Haftanstalt und ein Folterzentrum. Unter schlimmsten Haftbedingungen und ohne formelle Anklage werden hier etwa 140 Gefangene festgehalten, Männer und Frauen jeden Alters und jeder Konfession – zumeist einfache Dorfbewohner, die nicht zur Kollaboration bereit waren.5

Selbst die Kinder bleiben nicht verschont. Mohammad und Reda wurden vor zwei Monaten verhaftet. Beide sind fünfzehn, angeblich gibt es in Chiam noch mindestens fünf weitere Minderjährige. Zuletzt wurde in den libanesischen Medien der Fall einer 25-jährigen Journalistin herausgestellt: Cosette Brahim wurde am 2. September 1999 unter dem Vorwurf verhaftet, für die libanesische Armee spioniert zu haben, nach schweren Folterungen überstellte man sie nach Chiam. Anlässlich dieses Falles hat die israelische Armee erstmals zugegeben, „dass der Inlandsgeheimdienst [Schin Beth] SLA-Mitglieder ausbildet, damit sie die Gefangenen in Chiam verhören“6– und auch, dass sie diese Spezialisten bezahlt.

Der schiitische Islam bietet einen kulturellen Nährboden, auf dem der Widerstand gedeihen kann. Gegen die militärische und technologische Überlegenheit der Besatzungsmacht werden alle spirituellen, symbolischen und moralischen Kräfte der Bevölkerung mobilisiert. Mohammad Hassan al-Amin, ein südlibanesischer Intellektueller und Religionsgelehrter, drückt es so aus: „Der Widerstand und die entschlossene Haltung gegenüber der Besatzungsmacht wurzeln in dieser Region sehr stark in einer Kultur, die tiefgreifend vom Islam geprägt ist. Die Bereitschaft, sich zu opfern und Märtyrer zu werden, ist nur zu verstehen, wenn man weiß, in welchem Maße die einfachen Menschen das Schicksal des Imam Hussein7 und der Seinen als Vorbild begreifen. Märtyrer zu werden bedeutet einen Sieg über den Tod.“8

Für die Mutter von Mohammad Assaf ist der Tod ihres Sohnes ein Zeugnis des Glaubens. „Mein Sohn ist in Beirut geboren und aufgewachsen, aber seine Großeltern stammten aus Ansar. Als die Israelis Beirut überfallen haben, war er sechs Jahre alt. Seit seinem dreizehnten Lebensjahr wollte er sich zum Widerstandskämpfer ausbilden lassen. Er war gerade neunzehn geworden. als er bei einem Einsatz gefallen ist. Wir glauben, dass es so sein musste. Und der Tod ist ja nicht das Ende.“ Solche Überzeugungen spielen eine große Rolle bei den bewaffneten Aktionen der Hisbollah, bis zu den Selbstmordkommandos ist es dann nur noch ein kleiner Schritt.

In der Geschichte des islamischen Widerstands bedeutet das Ende des libanesischen Bürgerkriegs einen wichtigen Einschnitt. Seit 1990 waren aber nicht nur im Libanon, sondern in der gesamten Region neue Bedingungen gegeben. Mit dem Ende des iranisch-irakischen Krieges gab man die Strategie auf, die iranische Revolution zu „exportieren“. Dann folgte der Golfkrieg 1990/91, und in Madrid begannen die Friedensgespräche, an denen Syrien beteiligt war. All dies hat eine stärkere Integration der Hisbollah in das politische Leben begünstigt und ihre Bereitschaft gefördert, eine Annäherung an den Staat und die anderen politischen Kräfte zu vollziehen. Da sich die Hisbollah in dieser Situation ganz auf den Widerstand gegen die Besatzung konzentrieren kann, sind ihr einige militärische Schläge gelungen, die ihr eine wachsende Popularität einbrachten. 1989 bis 1991 hatte sie pro Jahr durchschnittlich 292 Aktionen ausgeführt, 1995 bis 1997 waren es 936 pro Jahr: Überfälle aus dem Hinterhalt, ferngezündete Sprengsätze, Angriffe auf Militärposten, Granatwerferangriffe, Selbstmordkommandos, Beschuss mit Katjuscha-Raketen und anderes. Dass immer häufiger Bomben mit Fernzünder benutzt werden, lässt darauf schließen, dass sie auch über einen kampferprobten Geheimdienst verfügt. Auch einige Israelis wurden getötet, wie etwa General Erez Gerstein im Februar 1999. Im August 1997 erlitt ein israelisches Elitekommando bei dem Versuch, das Dorf Ansaryé zu stürmen, eine schwere Niederlage.

„Die Sicherheitszone ist längst eine Unsicherheitszone“ lautete am 16. Juli 1996 eine Schlagzeile in der israelischen Tageszeitung Ma'ariv. In Israel ist die Besetzung des Südlibanon seit vielen Jahren heftig umstritten, vor allem unter den Eltern von Soldaten erhebt sich lautstarke Kritik.

Dagegen stößt der Widerstand im Libanon auf das Wohlwollen aller politischen Kräfte, und zwar in den weltlichen wie in den konfessionellen Gemeinschaften, zumal seit dem Kurswechsel der Hisbollah. Die „Partei Gottes“ kümmert sich um einen zügigen Aufbau ihrer zivilen Institutionen und integriert sich immer mehr in das politische und soziale Leben. In ihrem politischen Programm taucht das Schlagwort „Islamische Republik“ nicht mehr auf; nach Auskunft des Führungsmitglieds Ali Fayad verfolgt sie ähnliche Ziele wie die weltlichen Parteien der Linken: „Wir treten für eine Reform des politischen Systems ein, für mehr Gerechtigkeit und Repräsentativität. Das geht nur, wenn das politische Pfründensystem der Gemeinschaften abgeschafft wird. Wir kämpfen für die Erhaltung der Meinungs- und Organisationsfreiheit, und wir gehen mit allen Kräften zusammen, die sich gegen den ungezügelten neoliberalen Kapitalismus wenden. Die libanesische Wirtschaft muss vor der Herrschaft der Marktgesetze und den Gefahren der Globalisierung bewahrt werden. Wir fordern, dass sich der Staat stärker engagiert, um die ärmeren Schichten zu schützen und den Ausbau der öffentlichen Leistungen und der sozialen Sicherungssysteme voranzutreiben.“

Dank ihrer Bündnisse mit verschiedenen politischen Kräften ist die Hisbollah seit 1992 auch im Parlament vertreten: 1992 errang sie 12 der 128 Sitze, 1996 waren es 9. Ihr Verhältnis zur Regierung Hariri war recht frostig, aber unter dem neuen Ministerpräsidenten Selim Hoss haben sich die Beziehungen deutlich verbessert. Die Hisbollah-Partei tritt offen für die Reformvorhaben des Staatspräsidenten Emile Lahoud ein. Der hatte früher, als er noch Oberbefehlshaber der Armee war, die militärische Zusammenarbeit zwischen den Streitkräften und den Hisbollah-Truppen ermöglicht. Auch der Ton der offiziellen Stellungnahmen hat sich gewandelt: Hatte die frühere Regierung stets erklärt, sie sei außerstande, die Aktionen der Widerstandskräfte zu unterbinden, so versichert der jetzige Premier, das ganz Land stehe hinter ihnen. Die israelische Regierung hat am 25. Juni 1999 zu diesen Äußerungen festgestellt, so etwas habe man „von einem libanesischen Staatschef noch nie gehört“.

Seit über zehn Jahren unternimmt die israelische Armee im Südlibanon außerhalb der besetzten Zone keine Operationen mehr, an denen Bodentruppen beteiligt sind. Auf militärische Aktionen der Widerstandskräfte antwortet sie mit heftigem Beschuss, vom Boden oder aus der Luft, der vom Gegner kontrollierten Gebiete. Verschiedene Regionen des Libanon waren wiederholt diesem Trommelfeuer ausgesetzt. In kleinerem Maßstab wird dabei eine Taktik angewandt, die man aus dem Golfkrieg oder aus dem Kosovo kennt: Die israelische Armee attackiert die Infrastruktur, Produktionsstätten, städtische Versorgungseinrichtungen oder Straßen, häufig werden dabei „intelligente Waffen“ eingesetzt. Bei den besonders schweren Angriffen vom Juli 1993 (sieben Tage) und April 1996 (ein Monat) flohen jeweils etwa 400 000 Menschen aus den Städten. Dennoch scheiterte die israelische Absicht, die Bevölkerung und die libanesische Regierung gegen die Widerstandsgruppen aufzubringen.

Der Zivilbevölkerung bietet die Hisbollah erhebliche moralische und materielle Unterstützung durch ein Netzwerk sozialer Einrichtungen, die in verschiedenen Bereichen tätig sind. Al-Schahid („der Märtyrer“) ist ein Hilfswerk, das sich um die Familien der im Kampf Gefallenen kümmert; Dschihad al-Bina („Anstrengung für den Aufbau“) ist für den Wiederaufbau Tausender zerstörter oder beschädigter Häuser zuständig. Und die Organisation al-Dscharih versorgt derzeit 3 150 Verwundete, was nicht nur die Pflege umfasst, sondern auch Umschulung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Imad, der 1989 bei einem Kampfeinsatz ein Bein verloren hat, arbeitet jetzt bei al-Dscharih: „Die Wirkungen der israelischen Angriffe sind fürchterlich, vor allem aufgrund der Tausende von Antipersonenminen und Splitterbomben, die sie hinterlassen haben.“ Zu dem Hilfswerk gehören außerdem die Schahed-Schule und das Krankenhaus al-Rassul al-A'azam. Alle diese Einrichtungen werden aus privaten Stiftungsgeldern unterhalten (die immer reichlicher fließen). Finanzielle Beiträge kommen auch von den sozialen Institutionen der Islamischen Republik Iran und inzwischen auch vom libanesischen Staat.

Zugleich ist die Hisbollah „für den Libanon, Syrien und den Iran eine Trumpfkarte, die man noch auf der Hand hat“, wie sich Hisbollah-Sprecher Naim Kassem ausdrückt.9 Ihre militärische Schlagkraft, ihr Rückhalt in der Bevölkerung und ihr politisches Geschick haben sie zu einem Faktor gemacht, den keine der regionalen und internationalen Interessengruppen ignorieren kann.

Wird es unter der Regierung Barak zu einer Lösung kommen? Jedenfalls dürften „Sonderfriedensregelungen“ mit Damaskus und Beirut kaum zu machen sein, denn viel zu sehr sind die libanesische und die syrische Frage verknüpft. Die Verhandlungen sind offensichtlich nicht einfach. Nach Meinung des Journalisten und Wissenschaftlers Mustafa al-Husseini10 müssten beide Seiten von einem Prinzip ausgehen, das der ehemalige US-Außenminister Warren Christopher formuliert hat: „Vollständiger Rückzug gegen umfassenden Frieden.“

Aber Ehud Barak hat bereits „Differenzierungen“ eingeführt. Das Ausmaß des israelischen Rückzugs soll davon abhängen, welche Sicherheitsvereinbarungen getroffen werden – genau das bleibt der schwierigste Punkt bei künftigen Verhandlungen. Andererseits spielt auch das Tempo der Normalisierung zwischen den Konfliktparteien eine Rolle. Barak bietet „wirtschaftliche Zusammenarbeit“ und die Entwicklung einer gemeinsamen Infrastruktur an. Bei den israelisch-syrischen Gesprächen von 1995 und 1996 hatte die israelische Delegation – der Barak damals als Generalstabschef angehörte – ihrem stärksten militärischen Gegner eine Reihe von Bedingungen gestellt: Syrien sollte seine Truppenstärke reduzieren, seine landgestützten Raketen und Massenvernichtungswaffen abbauen oder gar vollständig vernichten, darüber hinaus sollte an der syrisch-israelischen Grenze ein Frühwarnsystem installiert werden. Das alles deutet nicht darauf hin, dass es in naher Zukunft zu einer Übereinkunft kommen wird.

Aber hat Barak nicht versichert, bis zum Juli 2000 werde die israelische Armee den einseitigen Rückzug aus dem Südlibanon vornehmen? Die Hisbollah will sich nicht äußern, wie sie darauf reagieren würde. Aber es scheint eher unwahrscheinlich, dass sich ein Krieg, der seit mehr als zwanzig Jahren geführt wird, auf diese Weise beenden lässt.

dt. Edgar Peinelt

* Journalisten

Fußnoten: 1 Dreizehn israelische Soldaten sind seit Jahresbeginn getötet worden (1998 waren es dreiundzwanzig). Seit einigen Monaten bleiben die israelischen Truppen in ihren Unterständen und überlassen die Kampfhandlungen weitgehend der SLA. 2 Die am 30. April 1996 unterzeichneten Vereinbarungen sehen vor, dass beide Seiten – der libanesische Widerstand und die israelische Armee – keine Anschläge auf die Zivilbevölkerung ausführen. Eine von der UNO eingesetzte Kommission soll die Einhaltung dieser Verpflichtungen überwachen. Den Vorsitz in der Kommission übernehmen abwechselnd Frankreich und die USA. 3 Mahmud Sweid, „Der Südlibanon in der Konfrontation mit Israel“ (arab.), Beirut (Institut d'études palestinien) 1998; „Israels Kriege gegen den Libanon“ (arab.), Beirut (Veröffentlichungen des libanesischen Parlaments) 1998. 4 Ruth Matson und Thomas Naff, „Water in the Middle East. Conflict or Cooperation“, London (Westview Press) 1984. 5 Amnesty international: „Die Gefangenen von Khiam, Folter und Mißhandlungen“ (Mai 1992), „Israels vergessene Geiseln. Die libanesischen Gefangenen im israelischen Gefangenenlager Chiam“ (1997). Siehe auch Sonia Dayan, Paul Kessler, Géraud de La Pradelle, „De Beyrouth à Khiam, un même système“, Le Monde diplomatique, April 1986. 6 Jerusalem Post vom 28. September 1999. 7 In Kerbala, einer Stadt im Süden des Irak, wurde im 7. Jahrhundert der Imam Hussein, Sohn Alis und Enkel des Propheten, ermordet. Für die Schiiten ist Hussein eine besonders verehrungswürdige Gestalt. 8 Mohammad Hassan El Amin, „La culture de résistance dans le Sud“, El Mawkif (Beirut), Nr. 21, Februar 1985. 9 Magazines (Beirut) vom 1. Oktober 1999. 10 Mustapha El Husseini, „La difficulté des négociations avec la Syrie“, Al Safir (Beirut), 1. Oktober 1999.

Le Monde diplomatique vom 12.11.1999, von WALID CHARARA und MARINA DA SILVA