07.08.2014

Rettung für den Tschadsee

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Rettung für den Tschadsee

Ein länderübergreifendes Projekt soll das lebenswichtige Reservoir erhalten von Romano Prodi

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Der Tschadsee liegt mitten in einer Region, die durch fortschreitende Wüstenbildung und ein rasantes Bevölkerungswachstum gekennzeichnet ist. Seine Lage am Rande der Sahara bringt es mit sich, dass der See empfindlich auf die Niederschlagsmenge in der Regenzeit (im Einzugsgebiet seiner Zuflüsse) reagiert. Deshalb war sein Wasserstand über die Jahreszeiten schon immer stark schwankend, was wegen des extrem flachen Seebeckens für dramatische Veränderungen der Uferlinien sorgt.

Seit 1962 ist der Wasserstand insgesamt um 4 Meter gesunken, damit hat sich die Seeoberfläche um 90 Prozent verringert. Heute hat sie weniger als 2 500 Quadratkilometer, was nicht nur mit den klimatischen Veränderungen der letzten 30 Jahre zu tun hat – mit der zunehmenden Dürre und den geringen Niederschlägen –, sondern auch mit der Übernutzung durch die Anrainerbevölkerung. Heute werden etwa 75 Prozent des Wassers bereits an den Zuflüssen abgeleitet.

Trotz aller Bemühungen vor Ort um ein besseres Wassermanagement der Zuflüsse (vor allem des Schari und des Logone, die in der Hauptstadt N’Djamena zusammenfließen) ist die Mangelsituation extrem. Es geht um den Bedarf von 30 Millionen Menschen, die Trinkwasser brauchen, Fische fangen, Tiere züchten und Landwirtschaft betreiben wollen. Bei zunehmender Knappheit dieser lebenswichtigen Ressource verschärfen sich zwangsläufig auch die politischen Spannungen.

Es besteht also die Gefahr, dass der Tschadsee das gleiche Schicksal erleiden wird wie der einst 68 000 Quadratkilometer große Aralsee in Zentralasien, von dem inzwischen nur noch traurige Reste übrig sind. Wenn nichts geschieht, könnte auch der Tschadsee bald ganz verschwunden sein – und mit ihm ein wichtiges Reservoir der Biodiversität im westlichen Zentralafrika.

Die Staaten in der betroffenen Region erlebten in den letzten Jahren nicht nur das Anwachsen der Armut, sondern auch politische Krisen, die internationale Interventionen nach sich zogen: Staatsstreiche in Niger und Zentralafrika, gewaltsame Konflikte in Nigeria, Spannungen nach der Wahl in Kamerun, Militärinterventionen im Tschad. Da das Austrocknen des Tschadsees die Situation nur noch weiter destabilisieren kann, sollten sich die Regierungen mit der Lösung des Problems möglichst beeilen.

Vor zwei Jahren haben die Anrainerstaaten – Kamerun, Niger, Nigeria und Tschad – gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Kommission für das Tschadseebecken (LCBC)1 einen Fünfjahresplan verabschiedet, der für den Zeitraum von 2013 bis 2017 Investitionen in Höhe von 900 Millionen Euro vorsieht. Etwa 10 Prozent dieser Summe sind für grenzübergreifende Maßnahmen eingeplant, die von der LCBC beschlossen werden; der Rest wird von den Mitgliedsländern verwaltet und soll den jeweiligen Uferzonen des Sees zugutekommen.

Auf der Konferenz von Bologna im April dieses Jahres haben internationale Geberorganisationen grundsätzliche Unterstützung für den Plan signalisiert. Vor allem die Weltbank könnte im Rahmen ihrer Hilfen für die Länder der Sahelzone einen großen Beitrag leisten.2 Die Afrikanische Entwicklungsbank (AfDB) hat schon fest zugesagt, 80 Millionen Euro bereitzustellen.

Der Plan sieht Maßnahmen vor, um den See als wichtige Ressource im Kampf gegen die Armut und im Sinne der Stabilisierung und Verbesserung der wirtschaftlichen und ökologischen Lage in der Region zu erhalten. Deshalb will man nicht nur den Wasserstand erhöhen und die Qualität des verfügbaren Wassers verbessern, sondern auch die Produktivität der Landwirte, Fischer und Viehzüchter im Tschadbecken steigern. Der Plan soll zudem die Zusammenarbeit und Integration in der Region vorantreiben, indem die Bevölkerung vor Ort in die Entscheidungsprozesse eingebunden wird und sich an der Sicherung ihrer Einkommensquellen beteiligt.

Die geplanten Maßnahmen verteilen sich auf grenzüberschreitende und nationale Unterprogramme, wobei Letztere von den Anrainerstaaten verwaltet werden. Ziel des gesamten Programms ist der Schutz der Ökosysteme und die Unterstützung der regionalen Wirtschaft. Dazu gehören: Sanierung der Fischereizentren, Förderung der Viehzucht, Einführung neuer Techniken zum Schutz der Ernten vor Insekten, Parasiten oder Pilzerkrankungen und gegen die Ausbreitung invasiver Pflanzenarten an den Seeufern. Diese Projekte sollen die Produktion erhöhen, die Umweltschäden begrenzen (vor allem durch den geringeren Einsatz von Pestiziden) und den Artenreichtum der Tier- und Pflanzenwelt schützen.

Das zweite Hauptziel ist, die Wasserreserven des Seebeckens sowohl quantitativ als auch qualitativ zu verbessern, etwa durch Kanalisierung und Ausbaggern des Schari-Logone. Darüber hinaus gibt es die weit ambitioniertere Idee, während der Regenzeit Wasser aus dem Ubangi, einem Kongo-Nebenfluss, umzuleiten.3 Bereits vor über 30 Jahren entwarf der italienische Ingenieur Marcello Vichi das Projekt Transaqua, das unter anderem dazu dienen sollte, größere Wassermengen vom Kongobecken ins angrenzende Tschadseebecken zu leiten.

Um diese Projekte voranzutreiben, haben sich die LCBC-Mitgliedstaaten verpflichtet, ihre Entscheidungen nicht mehr von den Ergebnissen neuer Studien abhängig zu machen, weil in den 50 Jahren des Bestehens der Kommission bereits zahlreiche Untersuchungen durchgeführt wurden.

Da der See schnell auszutrocknen droht, wird die Zeit knapp: Man muss handeln, um den Prozess umzukehren und den Menschen wieder Hoffnung zu geben. Das im Jahr 2008 angelaufene Programm für die nachhaltige Entwicklung des Tschadsees (Prodebalt) mit einem Budget von 60 Millionen Euro, das zur Hälfte von der AfDB finanziert und auch von der Europäischen Union (und der deutschen GIZ) unterstützt wird, wurde auf den neuesten Stand gebracht. Jetzt geht es vorrangig um die Erhaltung und Sanierung der Böden, um die Befestigung von 8 000 Hektar Dünenlandschaft und um die Regeneration der Weide-Ökosysteme auf einer Fläche von 23 000 Hektar.

Die Mitgliedsländer der LCBC investieren nicht nur selbst in den Fünfjahresplan, sie haben auch eine beispiellose internationale Solidaritätskampagne gestartet. Dabei hat man die Aufgabe, die Gelder der öffentlichen und privaten Unterstützer einzusammeln, zwei bedeutenden afrikanischen Persönlichkeiten anvertraut: dem ehemaligen nigerianischen Präsidenten Olusegun Obasanjo und Exaußenminister Hama Arba Diallo aus Burkina Faso. Unterstützt wird die Initiative vom gegenwärtigen Präsidenten der Afrikanischen Union (AU), dem Mauretanier Mohamed Ould Abdel Aziz und der Südafrikanerin Nkosazana Dlamini-Zuma, die derzeit den Vorsitz der AU-Kommission (dem Gegenstück zur EU-Kommission) innehat. Der Plan soll den Beweis erbringen, dass die afrikanischen Länder in der Lage sind, Krisen großen Ausmaßes zu bewältigen. Und er soll für eine stärkere Einbindung der internationalen Gemeinschaft sorgen, die der LCBC nicht nur Geld geben, sondern auch erfahrene Techniker und Wissenschaftler zur Verfügung stellen soll.

Am 4. und 5. April dieses Jahres fand in Bologna eine internationale Geberkonferenz statt, auf der die erforderlichen Mittel zur Rettung des Tschadsees zusammenkommen sollten. In der Abschlusserklärung von Bologna wurden die wichtigsten Punkte formuliert: Ein Kontrollkomitee soll sich vor allem um die weltweite Mobilisierung kümmern, und ein international zusammengesetztes Wissenschaftlerkomitee soll Sorge dafür tragen, dass hochqualifiziertete Fachkräfte mitarbeiten.

Meine Mission als Sonderbeauftragter des UN-Generalsekretärs für die Sahelzone hatte zum Ziel, konkrete Vorschläge zu entwickeln, um politische Spannungen abzubauen, den Dialog zu stärken und Konflikte zu überwinden. In meinem Bericht an den UN-Sicherheitsrat habe ich fünf wesentliche Interventionsstrategien vorgeschlagen. Sie bezogen sich auf die unmittelbare Notwendigkeit, die Bevölkerung mit Wasser (und natürlich auch mit Nahrung) zu versorgen, und des Weiteren auf die Bedürfnisse der Menschen in den Bereichen Infrastruktur, Gesundheit, Bildung und Energie.

Die Umsetzung dieses Plans fällt in eine Zeit, da in angrenzenden Regionen immer neue gewaltsame Konflikte aufflammen. Nach Darfur, Libyen, Sudan und Mali erleben wir eine weitere Verschärfung der Lage mit der Destabilisierung der Zentralafrikanischen Republik und den Terrorakten der Gruppe Boko Haram, die sich auf die nördlichen Provinzen von Nigeria und Kamerun konzentrieren. Die Wiederbelebung des Tschadsees passt genau in eine Strategie der Krisenprävention und der Einhegung von Konflikten. Für das westliche Zentralafrika stellt dieses Projekt – angesichts der Armut und der Verzweiflung der Jugend, aber auch angesichts von Krieg und Terrorismus – eine der größten Hoffnungen dar.

Die neue politische Ausrichtung der LCBC-Mitgliedsländer hat bereits zu ersten Konsequenzen geführt. Auf einem Minigipfel, der am 16. Februar 2014 in Nouakchott stattfand, gründeten die Präsidenten von Mauretanien, Burkina Faso, Mali, dem Tschad und Niger die „G 5 der Sahelzone“, um ihre Entwicklungs- und Sicherheitspolitik aufeinander abzustimmen. Die Leitung übernahm der mauretanische Regierungschef und gegenwärtige AU-Präsident Mohamed Ould Abdel Aziz. Er betrachtet die Gruppe als „institutionellen Rahmen zur Koordination und Überwachung der regionalen Zusammenarbeit, der die doppelte Herausforderung meistern soll, Projekte zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung umzusetzen und die Sicherheitspolitik zu koordinieren“.

Der erste konkrete Schritt folgte im März bei einem Treffen der Verteidigungsminister in Kamerun. Zur Sicherung der grenzübergreifenden Regionen des Tschadsees wurde die Bildung eines gemeinsames Militärkontingents von 3 000 Mann beschlossen. Die Koordination zwischen den Mitgliedstaaten der Kommission war auch Thema bei anderen internationalen Treffen, zum Beispiel bei der Pariser Konferenz vom 17. Mai zur Koordinierung des Kampfs gegen die nigerianische Terrorgruppe Boko Haram.

Wir erleben gegenwärtig den Auftakt zu einem breit angelegten Rettungsprogramm, dessen Umsetzung mit größter Konsequenz und Transparenz verfolgt werden muss. Als nächster Schritt ist mit der Unterstützung der Geldgeber, vor allem der AfDB und der Weltbank, ein Kontrollgremium einzurichten, das eine vernünftige Durchführung des Projekts gewährleistet, um dessen Glaubwürdigkeit und Zukunft zu sichern.

Natürlich wird die Umsetzung dieses Plans allein nicht reichen, um die Probleme der Sahelzone und der weiter südlich gelegenen Regionen und speziell des Tschadbeckens zu lösen. Aber sie kann zur Verbesserung der lokalen, nationalen und regionalen Strukturen beitragen. Dies wiederum könnte einen wirtschaftlichen Entwicklungsprozess in Gang setzen, der den betroffenen, von Armut und bewaffneten Konflikten zermürbten Menschen neue Perspektiven eröffnet. Gemeinsam an der Verbesserung der Lebensbedingungen der Völker zu arbeiten, ist die beste Methode, um Misstrauen, Feindseligkeit und Streitigkeiten zu überwinden, die unüberwindliche Hindernisse zur Festigung des Friedens und der Entwicklung darstellen. Und das gilt nicht nur für den Tschadsee.

Fußnoten: 1 Der 1964 gegründeten Tschadseebecken-Kommission (Lake Chad Basin Commission) gehören neben den vier Anrainerstaaten noch die Zentralafrikanische Republik und Libyen an. Andere Staaten, für die das Becken ebenfalls von elementarer Bedeutung ist, wie der Sudan, Ägypten, der Kongo und die Demokratische Republik Kongo, haben einen Beobachterstatus: www.LCBC.org. 2 Siehe den Bericht „Resoring a Disappearing Giant“: Lake Chad“, 27. März 2014: www.worldbank.org/en/news/feature/2014/03/27/restoring-a-disappearing-giant-lake-chad. 3 Der Ubangi ist auch Grenzfluss zwischen der Demokratischen Republik Kongo und der Zentralafrikanischen Republik: www.solidaritaet.com/neuesol/2010/43/vichi.htm. Aus dem Französischen von Sabine Jainski Romano Prodi, ehemaliger Ministerpräsident Italiens (1996 bis 1998 sowie 2006 bis 2008) und Präsident der Europäischen Kommission (1999 bis 2004), war 2012 und 2013 UN-Sonderbeauftragter für die Sahelzone.

Le Monde diplomatique vom 07.08.2014, von Romano Prodi