07.08.2014

Das Besondere an Gaza

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Das Besondere an Gaza

Seit der Antike wollen Händler und Eroberer das Gebiet kontrollieren von Alain Gresh

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Als Samson der Hebräer seine Kraft verlor, weil die hinterlistige Delila ihm die Haare geschoren hatte, fiel er in die Hände der Philister, von denen der Name „Palästina“ stammt. Die stachen ihm die Augen aus und machten ihn zum Sklaven. Eines Tages ließen die Philister Samson in ihre große Halle kommen, um sich einen Jux mit ihm zu machen: „Samson umfasste die zwei Mittelsäulen, auf denen das Haus ruhte, die eine mit seiner rechten und die andere mit seiner linken Hand, und stemmte sich gegen sie und sprach: Ich will sterben mit den Philistern! Und er neigte sich mit aller Kraft. Da fiel das Haus auf die Fürsten und auf alles Volk, das darin war, sodass es mehr Tote waren, die er durch seinen Tod tötete, als die er zu seinen Lebzeiten getötet hatte.“ Samson konnte die Halle einreißen, weil er vorher zu seinem Gott gebetet hatte, er möge ihm ein letztes Mal seine Kraft zurückgeben. Diese berühmte Geschichte aus der Bibel hat sich in Gaza zugetragen. In der Hauptstadt der Philister, die Erzfeinde der Hebräer waren.

Gaza lag von jeher an den Handelsrouten zwischen Europa und Asien, zwischen dem Nahen Osten und Afrika. Die Stadt und ihr Umland war also schon seit der Antike Objekt der Rivalitäten zwischen den Mächten der jeweiligen Epoche, vom pharaonischen Ägypten über das Römische Reich bis zum Byzantinischen Imperium. In Gaza wurden 634 n. Chr. die Byzantiner erstmals von den Anhängern einer damals noch unbekannten Religion besiegt, deren Prophet Mohammed erst zwei Jahre zuvor gestorben war. Von da an blieb das Gebiet bis zum Ersten Weltkrieg unter muslimischer Herrschaft, unterbrochen nur durch die kürzeren oder längeren Episoden der Kreuzfahrerreiche, der mongolischen Invasion oder der Expedition Napoleons.

„Leicht zu erobern und leicht zu verlieren“, notierte der Historiker und Arabist Jean-Pierre Filiu in der ersten umfassenden Untersuchung zur Geschichte des Gebiets von Gaza.1 Das Tor zu Palästina wurde am 9. November 1917 von dem britischen General Edmund Allenby erobert. Für das Osmanische Reich nahte damit das Ende, und für den Sieger war der Weg nach Jerusalem frei, wo er im Dezember einrückte.

Für die Briten ging es nicht nur um den Sieg über die mit Deutschland und Österreich-Ungarn verbündeten Türken, sondern auch um die Kontrolle über ein strategisch wichtiges Gebiet. Der Gazastreifen sicherte die Ostflanke des Suezkanals, der wichtigsten Schlagader des Empires, die Großbritannien mit seinen indischen Kolonien verband. Durch den Sieg der Briten wurden die französischen Ansprüche auf das Heilige Land zunichte. 1922 erhielt Großbritannien das Völkerbundmandat zur Verwaltung des Gebiets, das fortan als „Palästina“ bezeichnete wurde und auch Gaza umfasste. Zu den Zielen der Briten gehörte die Unterstützung der zionistischen Einwanderung im Sinne der Balfour-Deklaration,2 die sie bis 1939 tatkräftig betrieben.

An allen Kämpfen der Palästinenser, Muslimen wie Christen, gegen die zionistische Kolonisierung und die britische Präsenz war die Region Gaza beteiligt, auch an der großen palästinensischen Revolte, die 1936 begann und 1939 von den Briten niedergeschlagen wurde. Nach dieser Niederlage blieben die Palästinenser lange Zeit ohne politische Führung. Die Aufgabe, ihre Sache zu verteidigen, blieb den arabischen Nachbarstaaten überlassen. Am 15. Mai 1948, einen Tag nach der Proklamation des Staates Israel, rückten die arabischen Armeen in Palästina ein: Es folgte der erste arabisch-israelische Krieg – und die erste arabische Niederlage. Das für den palästinensischen Staat vorgesehene Gebiet – festgelegt im Teilungsplan der UN vom 29. November 1947 – wurde zerstückelt. Ein Teil (vor allem Galiläa) wurde von Israel annektiert; Jordanien besetzte die Gebiete westlich des Jordans (Westjordanland). Der Gazastreifen, 360 Quadratkilometer mit den Städten Gaza, Chan Junis und Rafah, kam unter ägyptische Militärverwaltung und blieb so das einzige palästinensische Gebiet, in dem nicht offiziell eine ausländische Macht herrschte.

Ursprünglich hatte der Gazastreifen nur 80 000 Einwohner. Doch im Gefolge des Kriegs kamen 200 000 palästinensische Flüchtlinge hinzu, die von der israelischen Armee vertrieben worden waren. Diese Menschen lebten unter elenden Bedingungen und wollten so schnell wie möglich in ihre Heimatorte zurückkehren. Ihre massive Präsenz und der spezielle Status des Gebiets trugen dazu bei, dass Gaza zu einem Zentrum der politischen Renaissance der Palästinenser wurde.

Obwohl sie von Kairo kontrolliert wurden – zunächst unter König Faruk I., danach unter Nasser und den „Freien Offizieren“, die den König am 23. Juli 1953 gestürzt hatten –, bauten die Palästinenser eine autonome Organisation auf. Sie unternahmen Guerilla-Aktionen gegen Israel und wandten sich gegen jeden Versuch, die Flüchtlinge endgültig in Gaza anzusiedeln. Schon damals griff Israel zu harten Vergeltungsmaßnahmen. Dabei tat sich ein damals noch unbekannter junger Offizier durch besondere Brutalität hervor: Ariel Scharon. Am 28. Februar 1955 leitete Scharon eine Kommandoaktion gegen Gaza, bei dem 36 ägyptische Soldaten, zwei Zivilisten und acht Israelis starben. Am 1. März kam es zu riesigen Protestdemonstrationen der Palästinenser gegen die passive Haltung Ägyptens. Das veranlasste Nasser, seine Außenpolitik neu auszurichten. Bis dahin hatte er als Verbündeter der USA gegolten. Jetzt beschloss er, mitten im Kalten Krieg, auf Moskau zuzugehen.

Hochburg des arabischen Nationalismus

Im April 1955 reiste er zur Konferenz von Bandung, wo die Bewegung der Blockfreien gegründet werden sollte, und arrangierte vorher ein Treffen mit dem chinesischen Außenminister Tschu En-lai. Diesen bat er vorzufühlen, ob Russland bereit sei, Ägypten mit Waffen zu beliefern. Die Antwort zog sich hin. Am 30. September 1955 schließlich konnte Nasser verkünden, dass ein Abkommen über die Lieferung tschechoslowakischer Waffen geschlossen worden sei. Damit hatte die Sowjetunion das Monopol des Westens auf Rüstungslieferungen in den Nahen Osten gebrochen und sich mit einem Paukenschlag auf dieser wichtigen regionalen Bühne etabliert.3 In der Folge ließ der ägyptische Rais den Palästinensern in Gaza mehr Spielraum für den Aufbau bewaffneter Gruppen.

Am 26. Juli 1956 verstaatlichte er die Suezkanal-Gesellschaft. Es folgte ein gemeinsamer militärischer Angriff Israels, Frankreichs und Großbritanniens gegen Ägypten, mit dem Ergebnis, dass die Halbinsel Sinai und der Gazastreifen bis März 1957 von der israelischen Arme besetzt wurden. Gleichzeitig organisierte sich der Widerstand im Untergrund, denn die menschliche Bilanz der Okkupation war außergewöhnlich hart. Die nach eigenem Bekunden „most moral army“ der Welt verübte mehrere Massaker unter der Zivilbevölkerung: In Chan Junis wurden Menschen zu dutzenden an die Wand gestellt und mit Maschinengewehren erschossen, manche auch mit dem Revolver. Mehrere hundert starben auf diese Weise.

Als sich Israel unter dem Druck vor allem der USA aus Gaza und dem Sinai zurückzog, erreichte Nassers Popularität ihren Höhepunkt. Und ebenso der arabisch-revolutionäre Nationalismus, in dem die jungen Palästinenser in den Flüchtlingslagern die Antwort auf die Niederlage von 1948/49 sahen. Sie schlossen sich Gruppen wie der von George Habasch gegründeten Bewegung Arabischer Nationalisten an, der Baath-Partei oder einer der vielen nasseristischen Bewegungen. Für sie war die arabische Einheit der Weg zur Befreiung Palästinas.

Einige Aktivisten allerdings kamen aufgrund ihrer Erfahrungen in Gaza zu anderen Schlussfolgerungen. Sie waren entschlossen, Israel direkt entgegenzutreten, wobei ihnen klar war, dass sie nur bedingt Unterstützung von ihren arabischen Nachbarn zu erwarten hatten. Auch von Nasser, dessen Gefängnisse einige von ihnen später kennenlernen sollten. Die Befreiung Palästinas, glaubten sie, könne nur das Werk der Palästinenser selbst sein. 1959 gründete die Gruppe um Jassir Arafat, der selbst 1948 nach Gaza geflüchtet war, die „Bewegung zur nationalen Befreiung Palästinas“, abgekürzt Fatah.5 Zu den Mitgliedern der ersten Stunde gehörten Salah Chalaf (Abu Iyad) und Chalil al-Wazir (Abu Dschihad), der zur Nummer zwei der Fatah aufstieg und 1988 von den Israelis in Tunis ermordet wurde, sowie Kamal Adwan, den 1973 ein israelisches Einsatzkommando in Beirut tötete.

In der Zeitschrift Falistinuna („Unser Palästina“), die zwischen 1959 und 1964 in Beirut erschien, appellierte die Fatah an die arabischen Regime: „Alles, was wir von euch erbitten, ist, dass ihr einen Verteidigungsgürtel um Palästina bildet und unseren Kampf mit den Zionisten beobachtet.“ Oder auch: „Alles, was wir wollen, ist, dass ihr die Hände von Palästina lasst.“6 Angesichts von Nassers Macht und Popularität waren solche Formulierungen äußerst mutig.

Das Scheitern der syrisch-ägyptischen Vereinigung (1958–1961) hatte deutlich gemacht, dass die arabischen Länder nicht in der Lage waren, den Lauf der Dinge zu verändern. Der Wind begann sich zu drehen. Vorbild wurde jetzt der algerische Befreiungskampf, der 1962 zur Unabhängigkeit von Frankreich geführt hatte. Im Januar 1965 unternahm die Fatah ihre ersten militärischen Aktionen gegen Israel. Das verschaffte ihr Zulauf von Aktivisten aus anderen Organisationen, die nicht mehr auf eine – immer unwahrscheinlicher werdende – arabische Einheit warten wollten.

Aufstieg der PLO unter Jassir Arafat

Als die arabischen Staaten im Sechstagekrieg vom Juni 1967 eine weitere schwere Niederlage erlitten, stieg die Fatah zu einer wichtigen politischen Kraft auf und übernahm mit Unterstützung Nassers die Kontrolle über die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO). Im Februar 1969 wurde Jassir Arafat Präsident der PLO. Die Palästinenser waren zu einem wichtigen Akteur im Nahen Osten geworden. In diesem Prozess hatte Gaza eine entscheidende Rolle gespielt. Aber was war inzwischen aus dem Gebiet geworden?

Das gesamte Territorium war seit Juni 1967 erneut von Israel besetzt. Unter den Gaza-Palästinensern bildete sich ein militärischer Widerstand heraus, der eine Vielzahl von Organisationen umfasste. Der erste Angriff auf die Besatzungsarmee fand am 11. Juni 1967 statt, einen Tag nach dem Waffenstillstandsabkommen zwischen den arabischen Staaten und Israel. Diese Aktionen gingen bis 1971 weiter, mit wechselndem Erfolg. Die Israelis setzten bei der Niederschlagung des palästinensischen Widerstands auf die Feuerkraft der Panzer von General Scharon, aber auch auf das Mittel der außergerichtlichen Tötungen. Damit ließ sich der militärische Widerstand zwar brechen, doch der Ausbau der palästinensischen politischen Initiativen ließ sich nicht aufhalten, ebenso wenig die Kontakte ins Westjordanland, die bis 1967 sehr begrenzt gewesen waren. Nun unterstützten die palästinensischen Eliten geschlossen die PLO und erkannten sie als „alleinige Repräsentantin des palästinensischen Volks“ an.

Einzig die Muslimbrüder weigerten sich, der PLO zu folgen. Die Bruderschaft war in Gaza tief verwurzelt – aufgrund ihrer sozialen Arbeit und weil sie von der Besatzungsmacht toleriert wurde, die in ihr ein geeignetes Gegengewicht zum Hauptfeind PLO sah. Als Scheich Ahmed Jassin 1973 das „Islamische Zentrum“ (Mudschama’ islamija) gründete, wurde es von den israelischen Besatzern offiziell anerkannt. Doch die abwartende Haltung Jassins – der die Zeit für den Widerstand noch nicht gekommen sah – sorgte für Unzufriedenheit unter den Muslimbrüdern: Anfang der 1980er Jahre entstand aus einer Abspaltung die Gruppe „Islamischer Dschihad“.

Die erste Intifada, der „Krieg der Steine“, begann in Gaza, im Dezember 1987. Der Aufstand hatte zwei entscheidende Auswirkungen: Erstens entschloss sich die Muslimbruderschaft zu einem grundlegenden Strategiewechsel, indem sie die „Islamische Widerstandsbewegung“ (Hamas) gründete. Die Hamas beteiligte sich zwar an der Intifada, lehnte aber ein gemeinsames Vorgehen mit anderen Organisationen ab. Zweitens nutzte die PLO die Revolte, um ihre Glaubwürdigkeit zu stärken und die Oslo-Abkommen auszuhandeln, die von Arafat und dem israelischen Premierminister Jitzhak Rabin am 13. September 1993 in Washington unterzeichnet wurden. Nur einige Monate später, am 1. Juli 1994, konnte Arafat in Gaza die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) einrichten.

Wie es weiterging, ist bekannt: das Scheitern der Oslo-Abkommen; die ständige Expansion der israelischen Siedlungen im Westjordanland; die zweite Intifada (nach 2000); der Sieg der Hamas bei den ersten freien Wahlen in den palästinensischen Gebieten 2006; die Weigerung des Westens, die neue Regierung anzuerkennen; das Bündnis zwischen einem Teil der Fatah und den USA gegen die neue Regierung; die Machtübernahme der Hamas in Gaza 2007; die seither andauernde israelische Blockade des Gazastreifens.

2005 hatte sich Israel zwar – ohne Absprache mit der Palästinensischen Autonomiebehörde und samt seinen Siedlern – aus Gaza zurückgezogen, doch das Territorium blieb im Belagerungszustand: Mit Ausnahme der Grenze zu Ägypten werden alle Land-, See- und Luftzugänge weiterhin von Israel kontrolliert, zudem wird den Gaza-Palästinensern der Zugang zu wesentlichen Teilen des Gebiets verwehrt (wozu 30 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen gehören). Der Zugang zum Meer bleibt auf eine Sechsmeilenzone beschränkt (seit Beginn der Militäroperation im Juli wurde diese Zone sogar auf drei Meilen begrenzt). Außerdem verwaltet Israel weiterhin die Personenstandsregister. Die anhaltende Blockade des Gebiets schnürt der Bevölkerung die Luft ab. Die einhellige – wenn auch nur verbale – Verurteilung durch die „internationale Gemeinschaft“ lässt die israelische Regierung ungerührt.

Seit dem Rückzug von 2005 hat Israel drei große Militäroperationen gegen Gaza durchgeführt: im Dezember 2008/Januar 2009; im November 2009 und jetzt, seit Juli 2014. Wann immer der nächste Waffenstillstand kommt – er wird nur eine Verschnaufpause bleiben, solange die Blockade nicht aufgehoben wird und die Palästinenser keinen eigenen unabhängigen Staat haben. Das ahnte schon Charles de Gaulle, als er kurz nach dem Sechstagekrieg auf einer berühmten Pressekonferenz prophezeite: „Die Besatzung kann nicht ohne Unterdrückung, Strafmaßnahmen und Vertreibung abgehen.“ Und sie werde einen „Widerstand“ hervorbringen, den man dann in Israel als „Terrorismus“ qualifizieren werde.

Fußnoten: 1 Jean-Pierre Filiu, „Histoire de Gaza“, Paris (Fayard) 2012. 2 Außenminister Balfour erklärte am 2. November 1917 das britische Einverständnis mit der „Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk“ in Palästina. 3 Mohamed Heikal, „Sphinx und Kommissar. Der sowjetische Einfluss in der arabischen Welt“, Frankfurt am Main (Ullstein) 1980. 4 Vgl. die gezeichnete Reportage von Joe Sacco, „Gaza“, Zürich (Edition Moderne) 2011. 5 Harakat at-Tahrir al-Watani al-Filastini. 6 Alain Gresh, „OLP, histoires et stratégies“, Paris (Spag-Papyrus) 1983. Aus dem Französischen von Jakob Farah

Le Monde diplomatique vom 07.08.2014, von Alain Gresh