09.10.2014

Neues vom Freihandel

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Neues vom Freihandel

Mit der geplanten Transpazifischen Partnerschaft wollen die USA ihren wirtschaftlichen Einfluss in Asien, Australien und Südamerika ausbauen von Martine Bulard

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Als der neue indische Premierminister Narendra Modi am 31. Juli 2014 das von den Experten der Welthandelsorganisation (WTO) ausgebrütete Handelsabkommen über Agrarprodukte platzen ließ, versetzte dies der Doha-Runde1 endgültig den Todesstoß. Natürlich hat diese Ablehnung, resultierend aus dem Wunsch Indiens, seine Agrarprodukte auch künftig subventionieren zu können, vor allem innenpolitische Gründe. Die große Aufregung, die das Scheitern erregte, hat aber weniger damit zu tun, dass Indien wieder einmal eine Vereinbarung per Veto zu Fall gebracht hat, sondern viel mehr mit dem insgesamt zunehmenden Widerstand gegen die Forderungen der WTO.

Die Schwellenländer schließen sich, je nach Situation und Interessenlage, gegen die Mächtigen und insbesondere gegen die USA zusammen. Die Maschine der Liberalisierung ist damit in weiten Teilen blockiert. Nun setzen die westlichen Länder (und die multinationalen Konzerne) auf Freihandelsabkommen, die bilateral (etwa zwischen der EU und Kanada oder den USA und Südkorea) und vor allem auch regional ausgehandelt werden – wie das umstrittene Transatlantische Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU2 und die Transpazifische Partnerschaft (TPP) zwischen den USA und elf Ländern aus dem asiatisch-pazifischen Raum.

Bei der Gründung der TPP im Jahr 2005 waren nur vier politische wie wirtschaftliche Zwerge beteiligt: Brunei, Chile, Neuseeland und Singapur wollten dadurch ihren mächtigen Nachbarn die Stirn bieten. Vier Jahre später griffen die USA die Idee auf, um China, das ebenfalls über Freihandelsabkommen Einfluss auf mehrere südostasiatische Länder gewinnen wollte, in die Schranken zu weisen. Um ihre Vorherrschaft zu sichern, banden die Vereinigten Staaten nach und nach Australien, Malaysia, Peru und Vietnam in die Partnerschaft ein, bevor auch noch die bereits durch das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) verbundenen Länder Kanada und Mexiko hinzukamen. Erst im November 2011 trat schließlich noch Japan – der bis dato wichtigste Partner Chinas – dem Verein auf Zehenspitzen bei. Für Abe Shinzo, den betont nationalistischen Ministerpräsidenten, war das ein willkommenes Mittel, um die Rolle Japans als rechte Hand der USA in Asien zu stärken.

US-Experten bezeichnen die TPP als „den Handelspakt des 21. Jahrhunderts“. Falls er zustande kommt, würde er fast die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung, 35 Prozent des internationalen Handels und 30 Prozent der Weltbevölkerung umfassen. Damit ließe sich der „Pivot to Asia“ wirtschaftlich ausbauen, den Barack Obama zu Beginn seiner Amtszeit 2009 als Dreh- und Angelpunkt seiner Außenpolitik bezeichnet hatte.

Ihren militärischen Einfluss im pazifischen Raum haben die USA bereits durch die Ausweitung von Strategieabkommen mit den Philippinen, Australien, Vietnam und insbesondere Japan vergrößert. Laut Arvind Gupta, dem ehemaligen Leiter des indischen Institute for Defense Studies and Analyses, handelt es sich um einen „globalen Plan mit dem Ziel, das Engagement, den Einfluss und die Gestaltungsmöglichkeiten der USA in der Region in wirtschaftlicher, diplomatischer, ideologischer und strategischer Hinsicht zu vergrößern“3 , um so Peking die Flügel zu stutzen.

Zwischen den Träumen Barack Obamas und der Realität klafft indes eine große Lücke. Bei seiner Frühjahrstour zu seinen engsten Verbündeten (Japan, Malaysia, Philippinen und Südkorea) wurde für keinen der umstrittenen Themenbereiche eine Lösung gefunden. Ein Abschluss der Verhandlungen ist vor den Kongresswahlen im November nicht zu erwarten, womöglich wird in diesem Jahr gar nichts mehr daraus.

Dabei haben sich die USA durchaus ins Zeug gelegt. Der australischen Politologin Patricia Ranald zufolge hat Washington seinen offiziellen Verhandlungsführern nicht weniger als 600 Berater zur Seite gestellt. Die Öffentlichkeit muss sich die Informationen über den „größten Freihandelsraum der Welt“ allerdings mühsam zusammensuchen. Ohne die Hartnäckigkeit von NGOs wie Electronic Frontier Foundation und Public Citizen sowie Plattformen wie Wikileaks wäre der Inhalt der Gespräche geheim geblieben.

Nach erfolglosen Verhandlungen im November letzten Jahres gab der Außenhandelsminister Malaysias zu, dass es angesichts der jüngsten Enthüllungen auf Wikileaks schwierig werde, sich auf ein Abkommen zu einigen.4 Den Wikileaks-Dokumenten zufolge bleibt praktisch kein Bereich dem Zugriff der Multis entzogen. Das TPP zielt ganz klassisch darauf ab, die verbliebenen Zollabgaben abzuschaffen.

Gegenwind aus Japan

Gleichzeitig sollen aber auch gemeinsame Normen für alle Produkte (von Lebensmitteln über Pflanzenschutz bis zu Industriegütern) und Dienstleistungen (bei Banken, Sparkassen, Pensionskassen, Versicherungen und dergleichen) geschaffen und die Vorschriften über das geistige Eigentum sowie die Streitbeilegung standardisiert werden – Letzteres durch die Einführung der berühmt-berüchtigten Sondergerichte, vor denen Privatkonzerne Staaten verklagen könnten.5

Was die geistigen Eigentumsrechte betrifft, scheint der Hunger der Multis unstillbar zu sein. Bei Patenten, die im Besitz von Unternehmen sind, schlagen die USA vor, die exklusiven Nutzungsrechte für 95 Jahre, bei unveröffentlichten Arbeiten sogar für 120 Jahre zu garantieren.6 Das wäre das Ende der Generika, die erst nach Ablauf des Patentschutzes – derzeit in der Regel 20 Jahre – auf den Markt kommen dürfen. Die Marktgurus fordern sogar die Patentierbarkeit von diagnostischen Methoden, medizinischen Behandlungen und chirurgischen Eingriffen an Menschen und Tieren. Dann würden zum Beispiel für bestimmte Herzoperationstechniken oder neue Methoden der Krebserkennung und -behandlung Lizenzgebühren fällig. Die Liste der Begehrlichkeiten lässt sich mühelos verlängern, etwa um Patente auf Pflanzen, auf den Abbau von Kapitalkontrollen und die Abschaffung von Etikettierungsvorschriften für Agrarprodukte und insbesondere auf gentechnisch veränderte Organismen (GVO).

Weil aber das Recht des Stärkeren den Interessen ihrer eigenen Konzerne zuwiderläuft, sträuben sich inzwischen sogar ultraliberale Regierungen gegen die Umsetzung der Pläne. So spricht sich Kanada gegen bestimmte Erweiterungen der geistigen Eigentumsrechte aus. Und der australische Ärzteverband hat von der Regierung die Ablehnung jeglicher Verpflichtung gefordert, die „das Recht der australischen Regierung beschneiden würde, eine auf die nationalen Erfordernisse zugeschnittene Gesundheitspolitik“ bei Medikamenten, der Rückverfolgbarkeit von Nahrungsmitteln und dem Kampf gegen den Tabakkonsum zu verfolgen.7 Bisher hat Canberra den Forderungen aus den USA nicht nachgegeben. Vietnam will seine Textil- und Schuhproduktion schützen. Und Singapur, Malaysia und Brunei wollen keine Klauseln, die die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten regeln.

Der stärkste Gegenwind kommt offenbar aus Japan. Seine Subventionen, Normen, Quoten und Zollabgaben wird Tokio den USA zuliebe nicht aufgeben. Dabei ist Ministerpräsident Abe voller Elan und Pathos in die Verhandlungen gegangen. Anders als noch während der Wahlen 2012, die ihn an die Macht gebracht haben, bezeichnete er die TPP auf einer Pressekonferenz später als „unsere letzte Chance. Diese zu verpassen, hieße für Japan schlicht und einfach, sich aus den Machtzentren der Welt zu verabschieden.“8

Inzwischen haben die fünf „heiligen Kühe“ Japans die Gespräche ins Stocken gebracht. Es geht um Reis, Weizen, Fleisch, Zucker und Milchprodukte – insgesamt 586 Produkte, die durch ein Quotensystem geschützt sind. So sind beispielsweise die Reisimporte bei 5 bis 8 Prozent des inländischen Verbrauchs gedeckelt. Auf darüber hinausgehende Mengen erhebt die Regierung Zölle von bis zu 780 Prozent. Die Zölle auf Weizen und Milcherzeugnisse können bis zu 252 Prozent betragen. Ein Abbau dieser Zollschranken wäre politisch hoch riskant. So ist denn auch die regierende Liberaldemokratische Partei (LDP) mehrheitlich dagegen, weil die Bauern und ihre Familien eine wichtige Wählerklientel sind.

Premier Abe wird wohl trotz allem an der TPP festhalten. Denn sie ist für ihn ein Instrument, Japan innerhalb Asiens wieder zu der Rolle zu verhelfen, die ihm Peking weggenommen hat. Um die Reformen in Landwirtschaft und Industrie durchzusetzen, an denen noch jede Regierung vor ihm gescheitert ist, schlägt er inzwischen immer nationalistischere Töne an. Weil seine Maßnahmen zur Konjunkturbelebung – die berühmten „Abenomics“ – bislang aber nicht greifen,9 will er mithilfe von ausländischen Direktinvestitionen die Standortverlegungen japanischer Großkonzerne ausgleichen und die veralteten Produktionsstrukturen modernisieren. Die ausländischen Direktinvestitionen machen in Japan allerdings nur 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, in den OECD-Ländern dagegen durchschnittlich 20 Prozent.

Von der TPP erhofft sich Tokio noch ein weiteres Wunder: die Öffnung von Drittmärkten, um die japanische Exportwirtschaft anzukurbeln. Dies betrifft nicht nur den Atom- und den Eisenbahnsektor (daher die Bemühungen von Mitsubishi um eine Allianz mit dem französischen Alstom-Konzern), sondern auch und vor allem den Rüstungssektor, dem Lieferungen ins Ausland bislang untersagt waren.

Wird Shenzo Abe dem Abbau der Zölle auf Milchprodukte oder Rindfleisch zustimmen, um im Gegenzug Zugang etwa zu ausländischen Automobilmärkten zu erhalten? Ein solcher Kompromiss liegt in der Luft. Die Regierung macht keinen Hehl aus ihrer Absicht, die laufenden Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union zu nutzen, um ihre Bauern zum Einlenken zu bewegen (diese würden eher europäische als US-Lebensmittelnormen akzeptieren), die europäischen Märkte für japanische Autos zu öffnen und schließlich von den USA eine Absenkung ihrer Zölle auf Lastwagen (25 Prozent) zu fordern.

Dieses Dreiband-Billard wird wohl kaum zu einer baldigen Unterzeichnung des TPP-Abkommens beitragen. Außerdem ist nicht sicher, ob der Vertragsentwurf problemlos den US-Kongress passiert. Die Republikaner sind mehrheitlich dagegen, und auch einige Demokraten sprechen sich gegen die TPP aus.

Trotz allem nimmt China die Sache durchaus ernst. Christian Edwards, Korrespondent der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua in Sydney, erklärte Anfang September in aller Deutlichkeit: „Unter dem Mantel der TPP verbergen sich die Rädchen einer Maschine, die einen US-amerikanisch geprägten Regelungsrahmen durchsetzen soll. Der wäre dann ganz auf die Bedürfnisse und Begehrlichkeiten der US-Exportindustrie zugeschnitten, die viele Millionen Dollar für Wahlkampfspenden ausgibt, um ihre Einkünfte zu sichern.“10

Es gab allerdings auch vereinzelte Erklärungen, die einen Beitritt Pekings zu den Verhandlungen möglich erschienen ließen. Einige chinesische Ökonomen sind überzeugt, dass ein solcher Beitritt die von Staatschef Xi Jinping geplante Reform- und Privatisierungswelle beschleunigen und die Beziehungen zu Washington verbessern könnte.

Aus wirtschaftlicher Sicht hat die chinesische Regierung gegen eine Ausweitung des Freihandels nichts einzuwenden. Sie will aber das Heft des Handelns in der Hand behalten und beharrt auf ihren Interventionsinstrumenten – insbesondere beim IT-Sektor und der Kontrolle der Kapitalströme. Gleichzeitig wird Peking nicht zulassen, dass die Achse Washington–Tokio seine eigene geopolitische Macht untergräbt.

China treibt deshalb sein eigenes Projekt einer umfassenden regionalen Wirtschaftspartnerschaft voran. Die sogenannte Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) mit den zehn Asean-Staaten (Brunei, Indonesien, Kambodscha, Laos, Malaysia, Birma, den Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam) soll, wenn es nach Peking geht, auch Japan, Australien, Neuseeland, Indien und Südkorea umfassen (die beiden letztgenannten Länder beteiligen sich nicht an den Verhandlungen zur TPP). Peking wird nicht müde, zu betonen, dass die RCEP die Hälfte der Weltbevölkerung und ein Drittel des Welthandels umfassen würde. Die Verhandlungen laufen bereits und sind derzeit besonders auf Südkorea fokussiert.

Seoul, dessen Verhältnis zu Japan wegen der Territorialstreitigkeiten um die Inseln Dokdo/Takeshima und wegen Shinzo Abes Revisionismus getrübt ist, hat sich aus Sorge um das sich abschwächende Wirtschaftswachstum China angenähert – trotz der Differenzen in der Nordkoreafrage. China drängt nun seinen Nachbarn, noch vor dem Gipfeltreffen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftskooperation (Apec) ein neues bilaterales Freihandelsabkommen zu unterzeichnen. An dem Apec-Gipfel, der im November in Peking stattfindet, nehmen die Asean-Staaten, alle von der TPP betroffenen Länder sowie Mexiko und Russland teil. Sollte ein bilaterales Abkommen mit dem traditionellen USA-Verbündeten Südkorea zustande kommen, wäre das ein erster Punktsieg für Peking.

Um einer Konfrontation mit Washington aus dem Weg zu gehen und seinem ambitionierten wirtschaftlichen Projekt mehr Glanz zu verleihen, spricht Staatschef Xi Jinping gern von einer Renaissance der Seidenstraße. Damit spielt er auf das Netz von Karawanenstraßen an, die sich ab dem vorchristlichen 2. Jahrhundert durch Zentralasien zogen und die später auch über das Meer bis nach Europa führten.

Da Chinas Handlungsspielraum auf dem Meer begrenzt ist, hat sich Xi Jinping Ende 2013 zu einer Reise nach Kasachstan, Kirgisien, Turkmenistan und Usbekistan aufgemacht, um der Wirtschaft seines Landes wichtige Landwege zu sichern. Im März dieses Jahres begab er sich sogar nach Duisburg, um die Endstation des Trans-Eurasia-Express zu besichtigen. Der legt – als erste kommerzielle Güterzugverbindung zwischen Asien und Europa – inzwischen viermal wöchentlich die 10 000 Kilometer lange Strecke zwischen der Stadt an der Ruhr und der chinesischen Millionenmetropole Chongqing zurück. Er transportiert vor allem deutsche Autos und Einzelteile für die Autoindustrie nach China. Die Fahrt durch Russland, Weißrussland und Polen dauert 16 Tage – deutlich kürzer als die einmonatige Schiffspassage.

Fußnoten: 1 Im Jahr 2001 hatte sich die WTO-Ministerkonferenz in Doha darauf geeinigt, die Märkte der Entwicklungsländer weiter zu öffnen, angeblich um deren Chancen auf dem Weltmarkt zu verbessern. Die mehrfach geplatzten und 2006 ausgesetzten Verhandlungen wurden 2013 wieder aufgenommen und mündeten in dem „Bali-Paket“, dem Indien nun die Zustimmung verweigert hat. 2 Siehe Lori M. Wallach, „TAFTA/TTIP – die große Unterwerfung“, Le Monde diplomatique, November 2013, sowie das TTIP-Dossier in Le Monde diplomatique, Juni 2014. 3 Zitiert nach Vince Scappatura, „The US ‚pivot to Asia‘, the China specter and the Australian-American alliance“, The Asia Pacific Journal: Japan Focus, Band 12, Nr. 36, 9. September 2014. 4 Siehe Pierre Demoux, „Quand WikiLeaks menace un traité économique“, Les Échos, Paris, 25. November 2013. 5 Siehe Raoul Marc Jennar, „Vorsicht, Tisa!“, Le Monde diplomatique, September 2014, sowie Benoît Bréville und Martine Bulard, „Profit als höchstes Rechtsgut“, Le Monde diplomatique, Juni 2014. 6 Wikileaks, „TPP treaty: Advanced Intellectual Property chapter for all 12 nations with negotiating positions“, 13. November 2013: www.wikileaks.org. 7 „Trade deal could be health hazard: AMA“, Australian Medical Association, Sydney, 22. Juli 2014. 8 Pressekonferenz am 15. März 2013 in Tokio: japan.kantei.go.jp. 9 Siehe Katsumata Makoto, „Japan unter Abe: Falscher Wagemut und echter Nationalismus“, Le Monde diplomatique, Januar 2014. 10 Xinhua, 4. September 2014. Aus dem Französischen von Markus Greiß

Le Monde diplomatique vom 09.10.2014, von Martine Bulard