08.07.2011

Keine Zündkerzen mehr aus Ohio

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Keine Zündkerzen mehr aus Ohio

Durch das Freihandelsabkommen Nafta sterben die letzten Industriebetriebe im Mittleren Westen von John MacArthur

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Am Abend des 9. November 1993, kurz vor der Kongressabstimmung über das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta), inszenierten dessen Befürworter einen einmaligen propagandistischen Bluff. Millionen Fernsehzuschauer hatten gerade in der „Larry King“-Show auf CNN die Debatte zwischen dem unabhängigen Präsidentschaftskandidaten, Anführer der Anti-Nafta-Bewegung und Milliardär Ross Perot und dem Vizepräsidenten und Nafta-Verfechter Al Gore verfolgt.

In dem Rededuell gewann Al Gore die Oberhand. Doch das Beste kam erst noch. Für den Fall, dass Al Gores Auftritt nicht überzeugend genug ausfallen sollte, hatte CNN eine zweite Talkrunde mit vier sogenannten Experten vorbereitet, die das große Werk der beiden US-Präsidenten George Bush und Bill Clinton preisen sollten: Durch die Abschaffung der Zollschranken auf dem nordamerikanischen Kontinent und den Zusammenschluss Mexikos, Kanadas und der Vereinigten Staaten zu einem Binnenmarkt sollten Arbeitsplätze, Wachstum und Wohlstand entstehen – eine echte Win-win-Situation für alle, wie es damals hieß. Von den vier Gästen in der CNN-Politshow legte Larry Bossidy die größte Begeisterung an den Tag: Der Wortführer der Pro-Nafta-Arbeitgeberlobby war damals Vorstandsvorsitzender des Maschinenbau- und Chemiemultis AlliedSignal, zu dem auch der Zündkerzenhersteller Autolite in Fostoria, Ohio, gehörte.

Um die Befürchtungen der Gegner zu zerstreuen, Nafta werde Standortverlagerungen nach Mexiko zur Folge haben (Ross Perot prägte das Wort vom weithin hörbaren „giant sucking sound“), sollte Bossidy die Zuschauer davon überzeugen, dass das Freihandelsabkommen für den „rust belt“ – so der Name für die alten und schon damals notleidenden Industriegebiete des Mittleren Westens – ein Segen sein werde.

Der AlliedSignal-Chef, den Al Gores PR-Berater Carter Eskew vor der Sendung gebrieft hatte, zog in der Talkshow eine Zündkerze aus der Tasche, schwenkte sie durch die Luft und verkündete: „Hier sehen Sie eine Zündkerze, eine Autolite-Zündkerze, hergestellt in Fostoria im Bundesstaat Ohio. Heute produzieren wir davon 18 Millionen Stück – morgen werden es 25 Millionen sein. Die Frage ist nur: Wo werden wir die Zündkerzen produzieren? Gegenwärtig können wir sie nicht nach Mexiko verkaufen, weil wir 15 Prozent Zoll darauf bezahlen müssen. Aber wenn Nafta verabschiedet wird, können wir sie auch dort verkaufen und weiterhin Zündkerzen in Ohio herstellen. Das bedeutet, es werden nicht nur 1 100 neue Arbeitsplätze in unserer Fabrik entstehen, sondern noch viel mehr. […] Heute exportieren wir 4 000 Autos nach Mexiko. Im ersten Nafta-Jahr werden wir 60 000 exportieren, das sind 15 000 neue Arbeitsplätze!“

17 Jahre später: Das ganze Land steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise, General Motors hängt am Staatstropf, und in der Fostoria-Fabrik arbeiten noch 86 Beschäftigte. Sie stellen nicht etwa Zündkerzen her, sondern nur noch die Keramik-Isolatoren für die Zündkerzen, die inzwischen in Mexiko produziert werden, weil Autolite seinen Hauptstandort in die Maquiladora-Industrie1 nach Mexicali verlagert hat. Nach Gewerkschaftsinformationen stellen dort 600 Arbeiter Zündkerzen der Marke Motorcraft her, ein Tochterunternehmen von Ford. Ausschlaggebend für den Umzug waren die Löhne: Während die Fostoria-Arbeiter in einer 40-Stunden-Woche 22 Dollar (15 Euro) pro Stunde verdienen, arbeiten ihre Kollegen in Mexicali 48 Stunden in der Woche und bekommen einen Stundenlohn von 15,50 Pesos (ungefähr 1 Euro).

Autolite gehört inzwischen zum Mischkonzern Honeywell, der seit 1999 Hauptaktionär von AlliedSignal ist und damit zu einem Global Player aufstieg. Dave Cote, Vorstandsvorsitzender von Honeywell, kann sich freuen: Mexikos Maquiladora-Industrie produziert nicht nur zu lächerlich niedrigen Kosten, sondern erspart dem Unternehmen auch bürokratische Schikanen, Streiks oder Prozesse vor dem Arbeitsgericht. Nafta, die mexikanische Regierung und die Gewerkschaft Confederación de Trabajadores de México (CTM) arbeiten Hand in Hand für den sozialen Frieden der Unternehmer.

Dass Cote für seine Arbeit 2009 ein Jahresgehalt von 13 Millionen US-Dollar erhielt, ist weniger erstaunlich als die Sympathie, die Präsident Obama für den Republikaner hegt: Kurz nach Obamas Amtsübernahme im Januar 2009 gehörte Cote zu einem auserwählten Kreis von Managern, die zu einem Gespräch über die Sanierung der US-Wirtschaft ins Weiße Haus eingeladen wurden,2 und im Februar 2010 berief Obama den Honeywell-Chef in seine überparteiliche Schuldenkommission.

Der Alltag in Fostoria sieht nicht ganz so rosig aus. Manchmal rauscht ein Güterzug durch den kleinen Ort, in dem heute 13 441 Einwohner leben, und erinnert an die goldenen Jahre vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Dass ein Zug hier anhält, ist inzwischen eine Seltenheit. Und die örtliche Handelskammer bewirbt nur noch Fostorias musealen Charme, der Eisenbahnfreunde und Hobbyfotografen „aus aller Welt anlockt“.

Während unseres zweitägigen Aufenthalts haben wir allerdings weder Touristen noch andere Kunden im Stadtzentrum gesichtet. Die einzige Buchhandlung am Ort wird wohl auch bald dichtmachen. Alles wird zum halben Preis angeboten. So weit das Auge reicht, sieht man nichts als leere Parkplätze vor stillgelegten Fabriken wie Fostoria Industries (Spezialöfen) oder ThyssenKrupp Atlas (Kurbelwellen).

Als die Fabriken in den 1990er Jahren eine nach der anderen Richtung Mexiko abwanderten, schien nur Autolite unverwundbar, wo damals rekordverdächtige 1,2 Millionen Zündkerzen pro Tag produziert wurden. Dieser Ausnahmezustand konnte jedoch nicht ewig dauern, zumal bald weitere Niedriglohnparadiese entstanden: Mit der Aufnahme ständiger Handelsbeziehungen zwischen China und den USA stand den US-Unternehmern in China seit 2000 noch preiswerteres Personal zur Verfügung als die 15-Pesos-Arbeiter in den mexikanischen Maquiladoras.

Im Januar 2007 kündigte Autolite die Eröffnung eines neuen Werks in Mexicali an. Acht Monate später erfuhren die 650 in Fostoria verbliebenen Arbeiter, dass 350 von ihnen im Lauf der nächsten beiden Jahre entlassen würden.

Der 32-jährige Bob Teeple ist Ortsvorsitzender der Automobilarbeitergewerkschaft (United Auto Workers, UAW) in Fostoria. Den Posten hatte bis 1995 sein Vater, der Mechaniker bei Autolite war. Damals waren in der Zündkerzenfabrik im Stadtzentrum noch fast 1 000 Leute beschäftigt. Als wir Teeple zum ersten Mal in seinem Gewerkschaftsbüro trafen – das war im September 2009 –, wartete er gerade auf die Nachricht aus der Firmenleitung, die über die Zukunft der letzten 271 Arbeiter entschied. Abgesehen von den Keramik-Isolatoren sollte die gesamte Produktion eingestellt werden. Da die Fabrik in Mexicali damals noch Startschwierigkeiten hatte, stand noch nicht fest, wie viele seiner Kollegen zu welchem Zeitpunkt vor die Tür gesetzt würden.

Teeple konnte sich noch gut an die Nafta-Kontroverse von 1993 erinnern, auch an den Besuch von Larry Bossidy, der wenig später in der Fabrik auftauchte. „Er machte den Eindruck, als würden die Geschäfte prima laufen. Aber damals ahnte ich noch nicht, was Nafta für uns bedeuten würde. Wir verfolgten das Pro und Contra nur aus der Ferne am Bildschirm.“ Er lachte kurz auf: „Und am Ende ist das Ergebnis ziemlich eindeutig, nicht wahr?“

Erhalt der Arbeitsplätze gegen Halbierung der Löhne

Teeples Kollegen ging es damals nicht anders. Die 53-jährige Peggy Gillig steht an einem der letzten vier Fließbänder (fünf Jahre zuvor waren es noch 13) und inspiziert durch ihre Schutzbrille einen Posten Zündkerzen. Als sie vor zehn Jahren bei Autolite anfing, war sie überhaupt nicht politisch engagiert – jetzt hat die Politik auch sie eingeholt. Zunächst hätte sie aufgrund der Automatisierung fast ihren Arbeitsplatz verloren, aber dann kamen die Auswirkungen der Politik, und die waren noch viel verheerender. Gillig ist von der Regierung enttäuscht, fühlt sich verraten und verkauft – und als das Opfer ausländischer Interessen.

Peggy Gillig gibt nicht den Armen in Mexiko und anderswo die Schuld dafür, dass sie ihre Arbeit und womöglich den Rentenanspruch verliert, der ihr zustünde, wenn sie noch vier Jahre arbeiten würde. „Die Standortverlagerungen scheinen den Arbeitern in der Dritten Welt nicht viel zu bringen“, meint sie. „Von dem Lohn können sie doch gar nicht anständig leben. Es ist zwar immer noch besser, als arbeitslos zu sein, aber die können sich ja nicht einmal einen Gebrauchtwagen leisten. Die Einzigen, die profitieren, sind nur die großen Firmen.“

Der 61-jährige Larry Capetillo war schon im Ruhestand, als sein früherer Arbeitgeber ihn vor vier Jahren aufforderte, mit drei anderen spanischsprachigen Rentnern in Mexiko das Personal zu schulen. Diese Aufgabe hat Capetillo viel Kummer bereitet. Es war ein moralischer Konflikt, den er in einem Tagebuch verarbeitet hat. Dort steht zum Beispiel, was ihm der Personalchef von Honeywell am Tag seiner Wiedereinstellung erklärte: Die Fabrik von Fostoria verliere Geld, „seit vier oder fünf Jahren, nicht so sehr wegen der Produktionskosten, sondern weil wir 1 200 Rentner versorgen.“ Wenn sie der Firma helfen würden, in Mexiko Fuß zu fassen, „werden wir ungefähr 300 Arbeitsplätze bei uns halten können“. Wie für viele Ehemalige gehört Autolite auch für die Capetillos fast zur Familie. Larrys Frau Fran arbeitete 29 Jahre bei Autolite, bevor sie entlassen wurde. Damals hatten seine Tochter Tracy und deren Mann ihren Job noch. 22 Dollar pro Stunde waren kein schlechter Lohn, erst recht in Krisenzeiten.

„Uns war schon klar, dass die Kollegen uns hassen würden, wenn wir diesen Job machen“, sagt Capetillo. Doch der Personalchef habe ihnen praktisch keine andere Wahl gelassen, als er sagte: „Ob ihr nun mitmacht oder nicht, die Fabrik wird auf jeden Fall verlagert. Wir werden alles dafür tun, damit es ein Erfolg wird. Aber wenn es uns nicht gelingen sollte und der Betrieb da unten wieder schließen muss, dann wird es hier auch nicht mehr weitergehen.“ Larry und seine Kollegen dachten, sie könnten tatsächlich etwas für ihre Leute tun: „Glauben Sie mir, keiner von uns vieren wollte dorthin, aber als uns der Chef gesagt hat, dass sie alles dichtmachen würden, wenn es in Mexiko schiefläuft, mussten wir uns entscheiden.“

Am Ende stellte sich heraus, dass das Unternehmen gar nicht die Absicht gehabt hatte, mit der Zündkerzenproduktion in Fostoria weiterzumachen. Nachdem Capetillo und seine Kollegen zwei Jahre lang gependelt sind (zwei Wochen Mexiko, zwei Wochen zu Hause), war die Fabrik in Mexicali voll funktionsfähig. Bei den Tarifverhandlungen 2009 gab es eine böse Überraschung für den Gewerkschaftler Teeple: Um 110 Arbeitsplätze zu halten, sollten die Arbeitnehmervertreter einer Halbierung ihrer Löhne zustimmen (nur noch 11 statt der bisherigen 22 Dollar pro Stunde). „So etwas kann man doch nicht unterschreiben“, sagt Teeple. Da sei es am Ende noch besser, anständige Abfindungen auszuhandeln, statt sich so demütigen zu lassen. Capetillo fühlte sich einfach nur hintergegangen: „Man hatte uns versichert, es würden 300 oder mehr Arbeitsplätze erhalten bleiben. Am Ende sind kaum die Hälfte übrig geblieben.“ Am 23. Dezember 2009 wurde die letzte integrierte Produktionsstraße in Fostoria stillgelegt, und die meisten Autolite-Arbeiter gingen ein letztes Mal durch das Werkstor.

Einen konnten wir zu der ganzen Geschichte nicht befragen: den Konzernchef von Honeywell Dave Cote, der im Januar 2009 bei dem besagten Treffen mit dem US-Präsidenten Obama vor der Presse verkündet hatte: „Wirtschaftlich ist unsere Lage natürlich schwierig. […] Der Kongress, das amerikanische Volk, wir Unternehmenschefs, alle müssen mit anpacken. Herr Präsident, ich kann im Namen von Honeywell sagen, dass Sie auf uns und all unsere Angestellten zählen können, wir werden unseren Beitrag leisten.“ Cotes Presseabteilung in der Honeywell-Zentrale in Morristown, New Jersey, hat bisher all unsere Interviewanfragen abgewiesen.

Am 4. April 2010 passierte dann eine „wundersame“ Katastrophe: Ein Erdbeben der Stärke 7,2, dessen Epizentrum in 60 Kilometer Entfernung von Mexicali lag, beschädigte auch die neue Zündkerzenfabrik. Die Honeywell-Direktion sah sich gezwungen, einen Teil der Produktion nach Fostoria zurückzuverlagern. 70 jüngst entlassene Arbeiter wurden wieder eingestellt. „Uns erzählten sie, wir würden viermal mehr produzieren als in der mexikanischen Fabrik, also 130 000 Zündkerzen pro Tag“, erzählt Teeple. Im Oktober beruhigte sich die Lage in dem riesigen Industriegebiet von Mexicali, und die 70 Glücklichen wurden wieder vor die Tür gesetzt, diesmal für immer.

Am 1. November sollten die Tarifverhandlungen beginnen. Zu diesem Zeitpunkt waren in Fostoria noch 86 Arbeiter beschäftigt. Ihre Aussichten waren nicht gut: „Sie versprachen uns, in Mexicali keine Keramiköfen zu bauen“, berichtet Teeple. Es war die gleiche Masche wie bei Capetillo. Doch Teeple weiß sowieso, dass die Keramik-Isolatoren von der japanischen Firma NGK hergestellt werden könnten, die im kalifornischen Irvine ganz in der Nähe von Mexicali sitzt. Die 1936 eröffnete Autolite-Fabrik von Fostoria wird es also nicht mehr lange geben.

Am Ende die Übernahme durch Spekulanten

Am 28. Januar 2010 kündigte Honeywell an, der Konzern werde seine Tochterfirma Consumer Products Group (CPG), zu der auch Autolite gehört, für 950 Millionen Dollar an die neuseeländische Investmentgesellschaft Rank verkaufen.3 „CPG macht gute Geschäfte, aber die Gruppe passt nicht in unser Portfolio“, wurde Cote in der Pressemitteilung zitiert. Natürlich gab sich der Honeywell-Boss zuversichtlich, dass „die Rank-Gruppe, die bekannt dafür ist, in etablierte Unternehmen zu investieren, eine gute Heimat für die CPG-Marken und deren Kunden und Angestellten sein wird.“

Rank gehört dem Spekulanten Graeme Hart, dessen Privatvermögen auf acht Milliarden Dollar geschätzt wird. Harts Geschäftsmethode wird im Finanzjargon als „fremdfinanzierte Übernahme“ (leveraged buy-out) bezeichnet. Hierbei werden umsatzstarke Unternehmen mit einem großen Anteil an Fremdkapital aufgekauft und deren Produktionskosten gedrückt, indem man das Firmenvermögen liquidiert. Dann wird das Unternehmen entweder als Gegenwert für neue Kredite eingesetzt oder mit hohem Profit losgeschlagen.

Ein Beispiel ist Harts „Investition“ in das Verpackungsunternehmen Packaging & Consumer, das er 2008 für 2,7 Milliarden Dollar dem weltweit zweitgrößten Aluminiumhersteller Al- coa abkaufte. Kaum hatte er den Alufolienproduzenten übernommen, entließ Hart 20 Prozent der Belegschaft, darunter 490 gewerkschaftlich organisierte Arbeiter der Reynolds-Wrap-Fabrik in Richmond, Virginia, sowie 158 Kollegen aus der dazugehörigen Druckerei. Der neu geschaffene Dachkonzern Reynolds Group Holdings Ltd. schluckte danach noch weitere Verpackungsunternehmen wie SIG und Evergreen Packaging.

Auch Jerry Faeth ist ein Nafta-Opfer. Vor zwei Jahren schätzte sich der 52-jährige Autolite-Arbeiter noch glücklich: Nach 32 Jahren Betriebszugehörigkeit hatte er Anspruch auf volle Rentenzahlung. Seine beiden Töchter standen kurz vor ihrem Abschluss an einer Privatuniversität, und er hatte den Kredit für sein Haus in New Riegel, 20 Kilometer außerhalb von Fostoria, gerade abbezahlt. Er arbeitete gern, besonders seit er in die Abteilung für Prototypen versetzt worden war: „Ich liebte meinen Job, weil er so abwechslungsreich war. Hand- und Kopfarbeit zugleich, das gefiel mir. Und meine studierten Kollegen behandelten mich wie einen der ihren.“ Faeth glaubte an den amerikanischen Traum: „Ich hatte Glück, bei Autolite zu arbeiten. Wir bekamen guten Lohn, meine Frau musste nicht mehr arbeiten gehen und war acht Jahre nur für unsere Töchter da. Ein Babysitter kümmert sich schließlich längst nicht so gut um die Kinder wie die eigene Mama oder der Papa.“ Sein amerikanischer Traum wurde plötzlich zum Albtraum.

Nach der Betriebsversammlung, auf der die Honeywell-Manager ihre Entlassungspläne bekannt gegeben hatten, fühlte sich Faeth, als habe er einen Schlag in die Magengrube bekommen. „Ich wollte noch fünf Jahre arbeiten, und plötzlich war es aus. Ich musste ihnen wenigstens meine Meinung sagen. Also bin ich zu einem der Chefs gegangen, die gerade gesprochen hatten, und sagte ihm: ‚Ihr habt doch eben erzählt, dass wir wettbewerbsfähig sein müssen. Ich zahle in den Plan 401K ein [die private Rentenversicherung] und bekomme jedes Jahr eine Kontoübersicht. Da habe ich gelesen, dass die fünf obersten Chefs von Honeywell im letzten Jahr insgesamt 70 Millionen Dollar verdient haben. Haltet ihr das etwa für eine Ausgabe im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit?‘ “

Die Antwort des Managers kann Faeth aus dem Gedächtnis zitieren: „Ich kann natürlich nichts über das Gehalt von Dave Cote sagen, aber wissen Sie, seine Einkünfte kommen ohnehin aus anderen Quellen.“ Daraufhin erwiderte der Arbeiter: „Das habe ich Sie gar nicht gefragt. Sie sagen, da unten in Mexiko arbeiten alle für einen deutlich geringeren Lohn; aber wie kann man uns erzählen, dass wir zu viel Geld verdienen, wenn die fünf Chefs allein 70 Millionen Dollar einstreichen? Kommt Ihnen das nicht auch komisch vor?“ Darauf wusste der Manager nichts mehr zu erwidern.

Nie um eine Antwort verlegen ist hingegen der Wirtschaftswissenschaftler R. Glenn Hubbard, Dekan der Wirtschaftsfakultät an der Columbia-Universität und von 2001 bis 2003 Vorsitzender des Wirtschaftsrats unter George W. Bush. Unvergessen ist sein Auftritt in Charles Fergusons Dokumentarfilm „Inside Job“ über die Finanzkrise von 2008. Hubbard ist außerdem Mitverfasser der 2006 erschienenen Managerbibel „Macroeconomics“.

Späte Lektionen

Alison Murray hat das Buch gelesen. Die alleinerziehende Mutter arbeitet bei Autolite und besucht seit Beginn der Entlassungswelle Abendkurse an der Universität Findlay bei Fostoria. Nach 17 Jahren Betriebszugehörigkeit hat Murray noch keinen Rentenanspruch erworben. Sie will sich für alle Fälle schon mal weiterbilden. Die Hubbard-Lektüre hat bei ihr einen schalen Beigeschmack hinterlassen. „Da steht drin, dass es begrüßenswert sei, wenn die Industriearbeitsplätze ins Ausland verlagert werden. Unsere Industrie sei wie ein Dinosaurier, von dem man sich loseisen müsse, um mehr Geld zu machen. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Da drücke ich wieder die Schulbank, weil ich meinen Job verlieren werde, und als Erstes lerne ich, dass es richtig ist, wenn sie mich rausschmeißen.“

Hubbards Buch verkündet eine Reihe scheinbar unumstößlicher Wahrheiten, die mit dem Crash von 2008 wie ein Kartenhaus in sich zusammenfielen. Sein Plädoyer für Steuersenkungen, Deregulierung und Freihandel ist in einem rechthaberischen Ton verfasst und scheint über jede Kritik erhaben – solange man nicht ein paar Argumente und Fakten, die dem Leser vorenthalten werden, genauer unter die Lupe nimmt. Das Kapitel „Komparativer Kostenvorteil und Gewinne im internationalen Handel“ strotzt nur so vor unbewiesenen Behauptungen. Ein Auszug: „Manche fürchten, die Unternehmen in den reichen Ländern könnten gezwungen sein, die Löhne zu senken, um mit den Schwellenländern Schritt halten zu können. Doch diese Sorge ist grundlos, denn der Freihandel steigert die Kaufkraft, indem er die wirtschaftliche Effizienz verbessert. Wenn sich ein Land für den Protektionismus entscheidet und selbst die Güter und Dienstleistungen herstellt, die es zu geringeren Preisen in anderen Ländern einkaufen könnte, verringert es die Kaufkraft seiner Bevölkerung.“

Hubbard und sein Koautor Anthony Patrick O’Brien finden zum Beispiel Kinderarbeit gar nicht so schlimm, da Alternativen (wie etwa Prostitution) „extrem hart“ sein könnten. Der Leser solle sich zudem freuen, dass die Schwellenländer Forderungen nach besseren Gehältern oder Umweltschutzgesetzen nicht nachgäben. Auch wenn die USA dank ihrer qualifizierten Arbeitskräfte und ihrer „hoch entwickelten Industrie“ über einen „komparativen Vorteil“ verfügten, „ziehen andere Länder wie China dagegen einen komparativen Vorteil aus der Tatsache, dass ihre Produktion nur gering qualifizierte Arbeitskräfte und relativ einfache Technologien benötigt“. Kein Wort zur Entlohnung der Arbeiter in China (50 Cent pro Stunde), der Gängelung der Gewerkschaften, den fehlenden Umweltschutzvorschriften oder der zunehmend breiteren industriellen Produktpalette.

Jerry Faeth, Alison Murray und Perry Gillig fragen sich, was für einen Job sie künftig noch bekommen könnten, und zu welchem Lohn. Sie könnten Bossidys einstige Versprechen an einem unlängst erschienenen Bericht des US-Arbeitsministeriums zu Übergangshilfen (Transitional Adjustment Assistance, TAA) messen. Dieses Programm bietet Menschen eine finanzielle Unterstützung, die ihren Job nach dem Inkrafttreten von Nafta am 1. Januar 1994 verloren haben. Das TAA gibt zwar keine Auskunft darüber, wie viele Arbeitsplätze tatsächlich vernichtet wurden, weil es nur die Anträge sammelt. Das waren am 4. Mai dieses Jahres 2 448 299. Demnächst werden wohl noch 83 hinzukommen – von den letzten Arbeitern der Autolite-Fabrik in Fostoria.

Fußnoten: 1 Siehe zur Maquiladora-Industrie: Anne Vigna, „Fernseher aus Mexiko. Die Industrie der Armen im Grenzgebiet zu den USA“, Le Monde diplomatique, Dezember 2009. 2 „Dave Cote Introduces President Obama at White House Media Briefing on U.S. Recovery Plan“, honeywellnow.com, 27. Januar 2009. 3 Honeywell verweigerte allerdings weitere Auskünfte über den Deal und verwies auf einen laufenden Kartell-Prozess vor der Federal Trade Commission.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

John R. MacArthur ist Herausgeber des Harper’s Magazine und Autor von „The Selling of ‚Free Trade‘: Nafta, Washington and the Subversion of American Democracy“, Berkeley (University of California Press) 2001, und von „Die Schlacht der Lügen. Wie die USA den Golfkrieg verkauften“, München (dtv) 1993.

Le Monde diplomatique vom 08.07.2011, von John MacArthur