14.10.2011

Kompassnadel der Revolution

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Kompassnadel der Revolution

Im tunesischen Wahlkampf rechnen sich alle zur Mitte von Serge Halimi

17. Kompassnadel der Revolution
17.1. Die Wahl in Zahlen

Ob die Revolution mit dem Sturz des Diktators vorbei ist? In Tunesien, wo über hundert zumeist unbekannte Parteien in die verfassunggebende Versammlung streben, die am 23. Oktober gewählt wird, scheint alles möglich, und alles ist offen.

Einerseits wird sich die gewählte Versammlung auf eine tadellose demokratische Legitimität berufen können: Es herrscht Verhältniswahlrecht und die Wahllisten müssen geschlechterparitätisch besetzt werden (allerdings stehen bei 95 Prozent der Wahllisten Männer auf dem ersten Platz). Es gibt eine strenge Reglementierung der Ausgaben für den Wahlkampf und der Auflagen zu Parteienwerbung und Umfragen.

Die verfassunggebende Versammlung wird sowohl repräsentativ als auch souverän sein. Sie wird über die Gewaltenteilung, das Regierungssystem (präsidentiell oder parlamentarisch), die Stellung der Religion innerhalb der Institutionen des Landes und sogar – wenn sie es wünscht – über die Rolle des Staates in der Wirtschaft entscheiden. Im Jubel über den Neuanfang keimt die Hoffnung auf eine arabisch-muslimische Demokratie: „Wenn es hier nicht klappt, dann klappt es nirgendwo“, sagt eine Aktivistin vom Parteienbündnis Demokratisch Modernistischer Pol (PDM). Sie ist zuversichtlich, dass Tunesien in der Region die Rolle des Aufklärers behalten wird.

Es braucht große oder viele Tische für die Wahl zur verfassunggebenden Versammlung am 23. Oktober: Die Tunesier können unter 63 Listen auswählen, von denen sich fast die Hälfte als parteiunabhängig bezeichnen (siehe Kasten). Da ist es schwierig den Überblick zu behalten, zumal die Slogans der meisten Wahlbündnisse unablässig dieselben wenig aussagekräftigen Formeln wiederkäuen: „arabisch-muslimische Identität“, „soziale Marktwirtschaft“, „Regionalentwicklung“, „strategischer Staat“.

„Die Kompassnadel der Revolution steht auf Mitte-links“, sagt Nicolas Dot-Pouillard von der International Crisis Group, die mehrere Berichte über Tunesien veröffentlicht hat.1 So bezeichnen sich etwa Leute wie Kamel Morjane und andere gestürzte Anführer von Expräsident Ben Alis früherer Einheitspartei RCD (Konstitutionelle Demokratische Sammlung) als Vertreter der politischen Mitte. Genauso ordnen sich aber auch deren ehemalige Gegner von der Demokratischen Fortschrittspartei (PDP) ein, die heute von Néjib Chebbi angeführt wird. Zur politischen Mitte zählen sich außerdem die Islamisten von Ennahda („Renaissance“) wie deren wichtigste Gegner aus dem laizistischen Lager, die Exkommunisten von Ettajdid („Erneuerung“) – die sich allerdings eher in der „linken Mitte“ sehen.

Sogar die tunesische Arbeitspartei (PTT), die von Führungskadern des Gewerkschaftsdachverbands, der Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT) gegründet wurde, sieht sich in der politischen Mitte – obwohl die UGTT gerade eine wichtige Rolle bei einer sozialen Revolte spielte. Das klingt alles verwirrend? Das ist es auch. Und das Erbe Ben Alis trägt einiges dazu bei. Denn genauso widersprüchlich war schon seine Partei, die zwei Monate nach seinem Sturz aufgelöste RCD: wirtschaftsliberal (und mafiös), politisch repressiv und Mitglied der Sozialistischen Internationale.

Wenigstens ist die politische Ausrichtung der großen Parteien – im Gegensatz zu ihren Chefs, deren Präferenzen zuweilen schwanken2 – im Großen und Ganzen bekannt. Jedenfalls durchsichtiger als zum Beispiel die seit Juni existierende etwas nebulöse Freie Patriotische Union (UPL), deren Chef, Slim Riahi, bisher als Geschäftsmann in London lebte. Riahi ist gegen die Beschränkung für politische Ausgaben, die seiner Meinung nach ein Manöver sei, um neue Parteien zu behindern. Denn an Geld mangelt es der UPL nicht. Riahis Sprecher, Absolvent der Universität Paris 1 und Konzernchef, stellte jüngst das Parteiprogramm vor: „Unser Entwicklungsmodell setzt auf Beteiligung des Volks, Marktwirtschaft mit mehr sozialer Gerechtigkeit, Würde und Arbeit für alle sowie auf regionale Entwicklung.“ Und selbstverständlich ist der „Erhalt der arabisch-muslimischen Identität des Landes“ der UPL ein Anliegen, ohne dass sie darüber ihre „Identifikation mit den universalen Werten“ vergäße.3

Auf Stimmenfang mit Fußballstars

Nachdem die Wähler diesen einwandfreien und gar nicht schwammigen Vortrag zur Kenntnis nehmen durften, werden sie zweifellos wissen, was zu tun ist. Falls nicht, dürfte der Name des Exfußballers Chokri El Ouaer an erster Stelle der UPL-Liste in der Region Tunis für einige Stimmen sorgen. Die UPL ist nur einer der zahlreichen Avatare dieser aus dem Boden gestampften Parteien, die hoffen, von einer Demokratisierung zu profitieren, zu der sie selbst nichts beigetragen haben.

Es ist durchaus möglich, dass manche von denen, die zum Sturz des Regimes von Ben Ali nichts beigesteuert, aber von dessen Pfründen profitiert haben, in einem Monat nach den Wahlen oder in einem Jahr, wenn die Arbeit der verfassunggebenden Versammlung abgeschlossen sein soll, wieder an prominenter Stelle sitzen werden. Dann werden sie erklären – wie sie es jetzt schon tun –, dass wieder Ordnung einkehren und gearbeitet werden müsse, dass sich sowieso schon alles geändert habe und dass es jetzt genug sei, denn der Tyrann sei schließlich gestürzt.

Ein Vergleich sei erlaubt: Eine der zentralen Figuren der französischen Februarrevolution von 1848 war der große Redner Alphonse de Lamartine. Als aber der Schriftsteller und ehemalige Außenminister zehn Monate nach Ausrufung der Republik für das Amt des Staatspräsidenten kandidierte, erhielt er lediglich 21 032 Stimmen, Charles Louis Napoléon Bonaparte indes, Neffe Napoleons und Kandidat der Monarchisten und der Partei der Ordnung, bekam 5 587 759 Stimmen.

Hamma Hammami, Chef der Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens (PCOT), schließt eine Restauration dieser Art nicht aus. Während in den sozialen Netzwerken Gerüchte über Absprachen einer „Schattenregierung“ kursieren, deren Fäden von Geschäftsleuten gezogen würden, die dem gestürzten Regime innig verbunden sind, fordert er deshalb: „Die Revolution muss weitergehen!“ Diese Forderung wiederholte Hammami am 9. September in Lassouda, einer kleinen Gemeinde acht Kilometer nördlich von Sidi Bouzid, wo im Dezember 2010 die Lunte der arabischen Revolten in Brand gesteckt wurde: „Den Reichtum unseres Landes haben sich Diebe angeeignet. Zwar darf man jetzt seine Meinung sagen, aber am Alltag hat sich nichts geändert. Die Revolution muss weitergehen, damit sie der Mehrheit des Volkes zugutekommt. Die einen können sich eine Reise nach Amerika leisten, bei anderen reicht es nicht mal für ein Aspirin. Das Wasserproblem zu lösen, würde nicht einmal ein Prozent des Geldes kosten, das Ben Ali gestohlen hat.“

„Seit 1956 [Beginn der Unabhängigkeit] haben unsere diversen Regierungen nichts für uns getan“, erklärt ein Bauer aus Lassouda. „Sie haben ‚Studien‘ in Auftrag gegeben, aber Investitionen kamen dabei nicht heraus. Sie haben Projekte begonnen, die nie zu irgendwas führten.“ Tatsächlich sind 7 000 Bewohner in der Umgebung von Sidi Bouzid auf eine einzige fragile Wasserleitung angewiesen, die leckt oder immer wieder platzt. Ein vielversprechendes Brunnenprojekt wurde abgebrochen und der Schacht zubetoniert, als die Behörden mitbekamen, dass man den Fels durchbohren müsste, um an Trinkwasser zu gelangen.

Die Aufbruchsstimmung rund um die Wahlen nutzen die Bauern, um Entwicklungsgelder für ihren Gemeinden zu fordern, eine weiterführende Schule, eine Krankenstation und die Instandsetzung der Straßen. Die Gegend ist reich an landwirtschaftlichen Erzeugnissen (Oliven, Pistazien, Mandeln), aber die Bevölkerung darbt. In den elenden, winzigen Häusern aus grauen Mauerziegeln schlafen die Bauern auf drei Zentimeter dünnen Schaumstoff-„Matratzen“. Hier scheinen die schönen Villen von Marsa und die Paläste von Karthago endlos weit entfernt.

Wird ein Stimmzettel reichen, um die korrupten Verantwortlichen des gestürzten Regimes zur Rechenschaft zu ziehen, den aufgeblähten Polizeiapparat zu zerschlagen, die regionalen und gesellschaftlichen Brüche zu kitten und die „positive territoriale Diskriminierung“ umzusetzen, die Moncef Marzouki empfiehlt, Menschenrechtsaktivist und Chef der Partei Kongress für die Republik (CPR)?

Obwohl vom ehemaligen Regime chronisch vernachlässigt, hat sich Lassouda seit 1956 verändert. Das Café an der Ecke hat einen Breitband-Internetanschluss, so gut wie jeder scheint ein Handy zu besitzen, die meisten Jugendlichen sind bei Facebook, manchmal auch die Eltern. Der Bauer mit Turban, der den PCOT-Vertretern gerade das Trinkwasserproblem schildert, könnte, denkt man kurz, einem Gemälde aus dem 19. Jahrhundert entsprungen sein – bis sein Handy klingelt; im nächsten Moment wird auch sein Nachbar abgelenkt – sein in Paris lebender Sohn hat ihm eine SMS geschickt. Eines hat sich offensichtlich nicht geändert: Während der Veranstaltung, die in bleierner Hitze stattfindet, sitzen die Zuschauer unter zwei Sonnensegeln, eines für die Männer, das andere war für die Frauen und Kinder bestimmt. Doch das Publikum ist fast ausschließlich männlich.

Freiheitsversprechen und die islamistische Karte

Hammami soll noch einmal sein Verhältnis zur Religion klarstellen. „Das ist doch eine Fangfrage“, sagt einer seiner Leute leise. Auf Hammamis Antwort – „Die Tunesier sind Muslime. Das ist doch kein Problem: Wir sind für die Freiheit des Individuums, die Religionsfreiheit, die freie Meinungsäußerung.“ – folgt ein kurzes Stimmengewirr im Publikum. Hammami fügt hinzu: „Die PCOT ist nicht gegen die Religion, nicht gegen Moscheen. Als Ben Ali in Mekka war [2003, als Pilger], hatte er Tränen in den Augen. Und trotzdem ist er ein Dieb …“ Bei dieser Anspielung auf den maghrebinischen Tartuffe lacht und applaudiert das Publikum.

Im späteren Gespräch führt Hammami sein Argument zu Ende: „Ben Alis Schwiegersohn Sakher el-Materi hat sich ein großes Grundstück gekauft und jeder Straße, die durch seinen Besitz führt, einen der 99 Namen des Propheten gegeben. Er hat die islamische Bank Zeitouna gegründet. Und einen gleichnamigen Radiosender, der ausschließlich religiöse Programme bringt. Aber als Rachid Ghannouchi [Chef der islamischen Partei] vor Ben Alis Repressalien geflohen ist, wo fand er Zuflucht? In Großbritannien, einem laizistischen Land. Und als der Laizist Ben Ali vor der Revolution geflohen ist, wo fand er Zuflucht? In Saudi-Arabien … Das sagt doch mehr als jede Theorie.“ Insbesondere jetzt, wo jeder damit rechnet, dass die Islamisten in der kommenden verfassunggebenden Versammlung die meisten Sitze bekommen werden.

Ali Laaridh, einer der Parteiführer von Ennahda, räumt ein, dass die Repressalien der Polizei und das Exil die Sichtweise seiner Mitstreiter verändert haben. „Wir haben Übergriffe erdulden müssen. Wir wissen, was Verletzung von Menschenrechten heißt. Wir haben in fünfzig verschiedenen Ländern gelebt. Und wir haben gelernt, was Demokratie und Rechte der Frauen bedeuten. Wer über uns urteilt, soll sich erst einmal ansehen, welchen Weg wir zurückgelegt haben. Und wie wir leben, wir und unsere Familien: Meine Frau arbeitet, meine Töchter haben studiert, eine geht unverschleiert.“ Reicht das, um die Zweifel auszuräumen, angesichts der Doppelzüngigkeit, die man den Islamisten unterstellt?

Die Anwältin Radhia Nasraoui, die Gegner des gestürzten Regimes verteidigt hat, findet es besorgniserregend, dass man auf Kundgebungen von Ennahda „Transparente mit Sprüchen wie ‚Keine Stimme kann sich über die Stimme des muslimischen Volkes erheben!‘“ zu sehen bekommt. „Zwischen dem, was die Parteispitze erzählt, und dem Verhalten etlicher Mitglieder klafft ein tiefer Graben“, sagt sie. Laaridhs Antwort darauf ist zwar nicht unbedingt beruhigend, aber zweifellos wahr: „Bei keiner Partei kann man sich drauf verlassen, dass sie nachher alles hält, was sie vorher gesagt hat.“

Um ihren demokratischen Sinneswandel zu beweisen, berufen sich manche Ennahda-Oberen inzwischen gern auf das „türkische Modell“ von Recep Tayyip Erdogan, den die tunesischen Islamisten jüngst überschwänglich empfingen.4 Die Analogie ist so verlockend wie aufschlussreich: In beiden Ländern haben sich charismatische Staatschefs (Mustafa Kemal Atatürk und Habib Bourguiba) mit einem modernen Programm durchgesetzt, das Politik und Religion streng trennte und sich stellenweise sogar explizit am Rationalismus westlicher Prägung orientierte.

Die meisten tunesischen Islamisten verwahren sich zwar gegen den Vorwurf, sie wollten den Laizismus abschaffen, sind aber der Meinung, dass Tunesiens erster Präsident nach der Unabhängigkeit, Habib Bourguiba, das Land „entarabisiert“ habe – ähnlich der „Entorientalisierung“ Atatürks in der Türkei. Anders gesagt: Er habe Tunesien zu stark an Europa gebunden. Das Parteiprogramm Ennahdas, das weder die Liberalisierung noch die wirtschaftliche Öffnung (siehe nebenstehenden Artikel von Akram Belkaïd) infrage stellt, schlägt daher einen Ausgleich zwischen den westlichen Investoren und Reiseveranstaltern und ihren „islamischen“ Kollegen aus der Golfregion vor.

Da alle von Demokratie sprechen, fordert auch Laaridh, dass die verfassunggebende Versammlung mit „unbegrenzten Freiheiten“ ausgestattet werden müsse, inbegriffen „die Möglichkeit, aus religiösen und arabisch-muslimischen Quellen zu schöpfen“. Unter Bourguiba habe „der Staat dem Volk eine Entwicklung nach den Vorstellungen des Rationalismus aufgezwungen“, bedauert er, ähnlich wie im „Sowjetsystem“. Er wolle die Errungenschaften der letzten 55 Jahre nicht anzweifeln, sei aber der Meinung, sie hätten auch zu einem „geringeren Preis“ erreicht werden können.

Die Islamisten gehen kein Risiko ein. In einem Land, in dem der Ben-Ali-Clan Unsummen beiseitegeschafft hat, kann sich Ennahda auf die Wirkung ihres moralisierenden Diskurses verlassen und muss sich vor einer Debatte mit den „verwestlichten“ Gegnern des Islamismus aus den begüterten Vierteln nicht fürchten. Diese „éradicateurs“ (Ausrotter), wie man sie nennt, haben viel mehr zu verlieren. „Hundert Jahre lang repräsentierten sie die kulturelle Elite“, erklärt Omeyya Seddik, Linksaktivist und ehemaliges PDP-Mitglied. „Jetzt sind sie nur noch ein kleiner Rest. Bei dieser Sache geht es um ihr Überleben.“

Thema der endlosen Auseinandersetzungen ist vor allem der erste Artikel der noch geltenden Verfassung. Bourguiba hatte ihn mit Bedacht formuliert: „Tunesien ist ein freier, unabhängiger und souveräner Staat: Seine Religion ist der Islam, seine Sprache Arabisch und seine Regierungsform die Republik.“ Die Uneindeutigkeit ist Absicht: Der Wortlaut hält fest, dass Tunesien muslimisch ist. Aber man könnte ihn auch so auslegen, dass der Koran als Quelle des öffentlichen Rechts vorgeschrieben ist. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf den Religionsbezug zu verzichten, hieße die Islamisten aufbringen; ihn genauer zu definieren, würde wiederum die „Laizisten“ beunruhigen.

Höchstwahrscheinlich wird der alte Text beibehalten. „Die Diskussion über den ersten Artikel haben die Islamisten vom Zaun gebrochen, um den Laizisten eine Falle zu stellen“, meint Hammami. „Und die sind natürlich hineingetappt. Dabei wäre die richtige Antwort gewesen: Warum wollt ihr den muslimischen Charakter Tunesiens betonen? Mit welchem Ziel? Wollt ihr die Scharia einführen? Wollt ihr die Gleichberechtigung der Frauen anzweifeln? Wann immer diese Fragen gestellt wurden, haben die Islamisten einen Rückzieher gemacht.“

Die Sozialisten vom Demokratischen Forum für Arbeit und Freiheit (FDTL) lehnen es ebenfalls ab, sich mit der Religion in die Enge treiben zu lassen. Wenn sie das bestehende Familienrecht verteidigen, das der Frau (außer in Erbschaftsangelegenheiten) gleiche Rechte einräumt, präsentieren sie das nicht als Anleihe bei der rationalistischen Tradition des Westens, sondern als Grundbestandteil der nationalen Identität Tunesiens. In ihrem Programm befassen sie sich mit dieser Frage in Form einer kunstvollen Dialektik: „Die Identität des tunesischen Volkes wurzelt in den arabisch-muslimischen Werten und wurde durch seine verschiedenen Kulturen bereichert; sie ist grundsätzlich modern und weltoffen.“

Am 10. September beendete Ben Jaffar, der Chef des FDTL, eine Wahlveranstaltung in Sidi Bou Saïd, einem reichen Badeort in der Nähe von Tunis, mit einer ähnlich hoffnungsvollen Ansprache: „Diejenigen, die dem Land keinen Wandel zugestehen wollen, beschwören Schreckgespenster herauf. Haben wir doch mehr Vertrauen zu uns selbst! Ein so kleines Land wie Tunesien, das es fertiggebracht hat, sich auf den Beinen zu halten, während an seinen Grenzen der Krieg tobte, ist ein starkes Land.“ Ein so starkes Land könnte sogar in nicht allzu ferner Zukunft seine Trinkwasserprobleme lösen.

Fußnoten: 1 Insbesondere „Soulèvements populaires en Afrique du Nord et au Moyen-Orient (IV): La voie tunisienne“, International Crisis Group, Tunis, Brüssel, 28. April 2011. 2 Chebbi, langjähriger Gegner der Diktatur, stand nacheinander der irakischen Baath-Partei, den Marxisten-Leninisten und den Sozialisten nahe, ehe er sich der freiheitlichen Mitte anschloss. Seine bislang guten Beziehungen zu den Islamisten haben in den letzten drei Monaten allerdings gelitten. 3 Interview mit Mohsen Hassen, Le Quotidien, Tunis, 11. September 2011. 4 Die ägyptischen Muslimbrüder hingegen, die eine Dominanz der Türkei im Nahen Osten fürchten, scheinen Erdogans Ratschläge weniger zu schätzen. Aus dem Französischen von Barbara Schaden

Die Wahl in Zahlen

Die am 23. Oktober stattfindende Wahl der verfassunggebenden Versammlung ist eine Listenwahl (Verhältniswahl).

– 7,5 Millionen potenzielle Wähler (in Tunesien und im Ausland).

– 33 Wahlbezirke, davon 6 im Ausland (Marseille, Paris, Italien, Deutschland, Kanada, Abu Dhabi).

– 1 600 Kandidatenlisten (Stand: Mitte September), von denen 845 (52 Prozent) von Parteien aufgestellt wurden, 678 (42 Prozent) unabhängig sind und 77 aus Bündnissen hervorgehen.

– 218 Parlamentssitze sind zu vergeben.

Le Monde diplomatique vom 14.10.2011, von Serge Halimi