12.10.2007

Wem Gerechtigkeit peinlich ist

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Wem Gerechtigkeit peinlich ist

Über das reaktionäre Gerede vermeintlich aufgeklärter Geister von Mona Chollet

Das Wort Viktimisierung hat sich im Lauf der letzten Jahre bis weit in die Alltagssprache hinein durchgesetzt. Es bezeichnet die Neigung, sich in seiner Opferrolle einzurichten, und wird meist auf Minderheiten angewandt, die für ihre Rechte kämpfen, insbesondere auf die Nachfahren von Sklaven oder Kolonisierten, aber auch auf Feministinnen – letztlich auf alle, die sich wehren und Forderungen stellen.

Sich über die „Viktimisierung“ lustig zu machen, ist zu einer Lieblingsbeschäftigung von Essayisten und Journalisten geworden. Sie gestattet es, sich selbst auf eine moralisch vermeintlich höhere Warte zu stellen und das Adjektiv „betroffen“ abfällig zu gebrauchen, was sich im Titel eines Buches oder Artikels immer gut macht. Dem Leser oder der Leserin geht diese Pose jedoch schnell auf die Nerven, ein Verdruss, der noch dadurch gesteigert wird, dass die fraglichen Schriften unweigerlich den Charakter von Rumpelkammern haben: Wenn man nur sucht, lässt sich praktisch jede Situation unter dem Aspekt Opfer/Schuldige beschreiben. Man darf folglich am Wert eines begrifflichen Werkzeugs zweifeln, das es etwa Guillaume Erner erlaubt, Bernard-Henri Lévy und Pierre Bourdieu in einen Topf zu werfen – als zwei Repräsentanten des „Betroffenheitsdenken“.1

Wie Guillaume Erner sehen auch Caroline Eliacheff und Daniel Soulez Larivière das Ansehen und die Glaubwürdigkeit, die Opfer neuerdings genießen, als eine Folge der Politik des Spektakels, aber auch als einen Reflex auf das Ende des Kalten Krieges.2 Es fällt leichter, den Opfern welcher Geißel auch immer beizustehen, als sich in einer komplexen Welt politisch zu engagieren, meint das Autorenduo, weil man so „sicher sein kann, sich wenigstens in der Sache nicht zu irren“ – glaubt man jedenfalls. Und für Guillaume Erner scheint es so, „als sei die Heiligsprechung der Opfer das, was bleibt, nachdem der Marxismus abgedankt hat“.

Dabei trägt er selbst zur Entpolitisierung bei, wenn er so disparate Themen wie die Geschichte von Lady Di, den Tierschutz, die Bilderflut im Fernsehen oder die Sklaverei zwischen zwei Buchdeckel presst und mit ein und demselben Etikett versieht. Oder wenn er diese Methode sogar noch retrospektiv anwendet, so dass unter seiner Feder die hoch politisierte Ära des Mai 1968 zum „Frühlingserwachen der Opfer“ mutiert.

Die neuen Essays über die Viktimisierung schreiben eine andere Mode fort, nämlich die Attacken gegen die „politische Korrektheit“ der 1990er-Jahre. Auch sie wurde bereits mit der Zersplitterung der Gesellschaft angesichts tyrannischer Gruppeninteressen assoziiert. Beliebter Topos (in Essays, Filmen und Romanen) waren beispielsweise die Verheerungen, die die Political Correctness an den US-amerikanischen Universitäten angerichtet habe. Dies war ebenso simpel wie unterhaltsam: Authentische Anekdoten wie die über die feministische Professorin, die lieber „Ovulare“ statt „Seminare“ veranstaltete, oder plumpe Scherze wie die Umbenennung „Pippins des Kurzen“ in „Pippin den vertikal Eingeschränkten“ eröffneten den Schöngeistern ein Spielfeld mit schier unbegrenzten Möglichkeiten.3

Besonders erfolgreich war eine Polemik des Kunstkritikers der Times, Robert Hughes, dessen Buch „Political Correctness oder die Kunst, sich selbst das Denken zu verbieten“ 1995 auf Deutsch erschien.4 Immerhin argumentiert Hughes um einiges geistreicher und seriöser als seine zahlreichen Nachäffer diesseits des Atlantiks, denn trotz spitzer Feder bemüht er sich um eine differenzierte Sichtweise. Er erinnert daran, dass das euphemistische Feigenblatt kein Vorrecht der Linken ist, und spießt den Jargon der Armeeführungen – man erinnere sich an die „chirurgischen Schläge“ des ersten Golfkriegs – ebenso auf wie den der Manager, die einen Crash als „Börsenrückgang“ und Massenentlassungen als „industrielle Umstrukturierung“ verharmlosen.

Solche Beobachtungen mögen uns heute banal vorkommen, weil die kritische Analyse des neoliberalen Wortschatzes inzwischen gang und gäbe ist, aber damals waren sie ziemlich avanciert. Hughes belächelt die schrillen Rufe der konservativen Rechten, die vor einer marxistischen Übernahme der Universitäten warnen, obgleich sich die Mehrheit der Lehrenden in Berkeley und Los Angeles selbst als konservativ bezeichnet. Obendrein sind die Schlüsselpositionen mit republikanischen Parteigängern besetzt, weshalb der Autor es absurd findet, so zu tun, als sei das ein unpolitisches Thema.

Die Linke verheddert sich in symbolischen Fragen

Wenn Hughes den Übereifer der akademischen Linken kritisiert, dann weniger, um sie zu diskreditieren, als vielmehr, um zu zeigen, wie sehr sie sich damit selbst schaden. Sein Vorwurf besteht darin, dass sich die Linke „mehr für die Rassen- und Geschlechterfrage interessiert als für die Klassenfrage“ und „viel lieber über Geschlecht und Rasse theoretisiert, als sich mit der gelebten Wirklichkeit auseinanderzusetzen“. Auch fürchtet Hughes, dass die ausschließliche Beschäftigung mit der symbolischen Ebene der Sprache für die Linke zur selbst gestellten Falle werden könnte, die sie unfähig macht, die globalen Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, für die sie sich einsetzt: „Bleibt unterm Strich: Die Dumpfbacken, die früher Homos verprügelten, verkloppen jetzt Schwule.“

Außerdem ist Hughes, der aus Australien in die Vereinigten Staaten einwanderte, ein leidenschaftlicher Verfechter der multikulturellen Gesellschaft. Was er mit Argwohn beäugt, ist folglich nicht, dass sich im westlichen Kulturraum Autoren breitmachen, die die weiße, männlich dominierte und sozial arrivierte Perspektive infrage stellen, vielmehr stören ihn die teils übereilten Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden. Natürlich hält er es für notwendig, die sozialen und kulturellen Voraussetzungen zu analysieren, die in einem Text am Werk sind. Aber sie zum einzigen Kriterium des Textverständnisses zu machen, wäre in seinen Augen ein grober Fehler. Kaum ein Intellektueller habe mehr dazu beigetragen, solche verborgenen Voraussetzungen zu enthüllen, als Edward Said, der aber auch, wie Hughes erinnert, immer wieder vor monoperspektivischen Urteilen gewarnt hat.5 Hughes beklagt, dass die Linke zunehmend dazu neige, zu verdächtigen, zu disziplinieren und zu zensieren – als seien bestimmte Werke von einem moralischen Virus befallen, der imstande sei, den Leser anzustecken –, statt zu ergänzen und zu vergleichen: „Wissen ist expansiv, nicht exklusiv.“

Pascal Bruckner, der das Vorwort zur französischen Ausgabe von Hughes’ Buch verfasst hat, setzte in den folgenden Jahren alles daran, dem Thema zu mehr Öffentlichkeit zu verhelfen. In seiner Streitschrift „Ich leide, also bin ich: die Krankheit der Moderne“6 vertritt er die zentrale These, dass sich der abendländische Mensch zugleich für ein ewiges Kind und für ein Opfer hält. Bruckner bringt das auf die Formel: „Kindischsein und Klagelied“. Er stellt – häufig aus zweiter Hand stammende oder aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissene – Zitate von drei oder vier radikalen amerikanischen Feministinnen zusammen, jener Menschenfresserinnen also, deren Äußerungen heraufzubeschwören sich jede Edelfeder von Saint-Germain-des-Prés verpflichtet fühlt, um die geneigte Leserschaft erschaudern zu lassen. Vor allem borgt er sich bei Robert Hughes, der sie seinerseits bereits entrüstet zitiert hatte, ein der berühmten US-Feministin Andrea Dworkin zugeschriebenes Zitat, nach der jede Penetration, selbst die einvernehmlich vollzogene, eine Vergewaltigung sei. Dabei ist völlig unerheblich, dass die Autorin diese Auslegung ihrer Schriften stets zurückgewiesen hat.7 Élisabeth Badinter hat diese Unterstellung 2003 in ihrem Buch „Die Wiederentdeckung der Gleichheit“ wieder aufgegriffen, das sich mit den „Exzessen“ des Feminismus befasst8 ; gefolgt von Éric Zemmour, dem gallischen Barden bodenständiger Männlichkeit, der diese Sicht der Dinge in „le premier sexe“ („Das erste Geschlecht“) „den“ Feministinnen im Allgemeinen zuschreibt und scharfsinnig hinzufügt: „Das ist ja im Übrigen auch nicht falsch.“9

Nachdem er sich von der grundsätzlichen Unvernunft „der“ amerikanischen Feministinnen überzeugt hat, plädiert Bruckner dafür, Frankreich möge doch bitte der Versuchung widerstehen, diesen düsteren Puritanismus zu importieren, und solle sich stattdessen lieber auf seine Kultur der galanten Scherze und der Harmonie der Geschlechter besinnen. Und er beschwört jene vermeintliche Vergangenheit herauf, als der Kavalier und die edle Dame sich in vollendeter Gelassenheit nur den Vergnügungen des Geistes und den Freuden des Fleisches hingaben. Ratlos nimmt der Leser die seitenlangen lyrischen Ergüsse zur Kenntnis, in denen die Dichterin Louise Labé die Pariser Salonkultur, die Libertins und Troubadoure zu neuem Leben erweckt werden – um am Ende offene Türen einzurennen. Schließlich versteht es sich doch von selbst, dass es in den Vereinigten Staaten wie in Frankreich – jenseits der unterschiedlichen kulturellen und sozialen Realität – jede Menge Beispiele für sehr gute und für sehr schlechte Beziehungen zwischen den Geschlechtern gibt. Das Schlechte zu bekämpfen, bedeutet doch nicht, dass man das Bessere nicht kennen würde, so wenig wie die Existenz des guten Beispiels an der des schlechten irgendetwas ändert. Was also soll das Ganze?

Spätestens hier ahnt man, wohin die Reise mit dem Diskurs über die Viktimisierung gehen soll. Es ist ein Diskurs, dem es nicht um die konstruktive Analyse geht, sondern um die Diskurshoheit und die Setzung eines Themas, das von anderen ablenkt. Dabei wird die Legitimität der jeweiligen Anliegen meist gar nicht direkt bestritten – sei es das der Frauen, der von Rassismus bedrohten Einwanderer, der Homosexuellen oder der Palästinenser. Man stürzt sich vielmehr auf die unmittelbaren Äußerungen der Betroffenen, empört sich über Übertreibungen, die man mal anstößig, mal skandalös findet, bis diese Empörung allmählich alles andere verdrängt. Wo es im Grunde um Herrschaft oder Unterdrückung geht, werden nicht diese zum Gegenstand der allgemeinen Beunruhigung, sondern die tatsächlichen oder vermeintlichen verbalen Entgleisungen derer, die für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen.

Von all diesen Übertretungen roter Linien eignet sich die leichtfertige Rede vom Völkermord besonders gut dafür, den eigentlichen Sachverhalt unter den Teppich zu kehren. Dazu, dass die Nachkommen der Sklaven und Kolonisierten nach dem Vorbild der Hinterbliebenen von KZ-Opfern um die Anerkennung ihrer Vergangenheit kämpfen, bemerken Caroline Eliacheff und Daniel Soulez Larivière nur lapidar: „Es verbietet sich, zu vergleichen, was nicht verglichen werden kann.“ Und der Moderator einer Kultursendung erklärte: „Alljährlich werden in Frankreich hundert Frauen Opfer von häuslicher Gewalt. Das ist natürlich schrecklich, aber dass die Aktivisten gleich von Völkermord reden müssen …“10

Élisabeth Badinters Buch, das sich von den ersten Seiten an auf Pascal Bruckners „Ich leide, also bin ich“ bezieht, hat zur Verbreitung dieses Gemeinplatzes einiges beigetragen. Sie wurde in einem Interview für „Die Wiederentdeckung der Gleichheit“ gefragt, ob sich das von ihr auf Frauen bezogene Konzept der Viktimisierung auch auf den Umgang der Medien mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt anwenden ließe. Darauf Badinter: „Es stimmt, dass das palästinensische Volk ein Opfervolk ist. (…) Aber ich war doch sehr befremdet, wie eilig die europäischen Medien es hatten, Dschenin zu ‚bringen‘. Alle Welt gefiel sich darin, von einem ‚Massaker‘ zu sprechen.“11 Wenn der Finger auf den Mond zeigt, lädt die Neophilosophie dazu ein, den Finger misstrauisch zu beäugen – in der Hoffnung, damit den Mond vergessen zu machen.

Im Übrigen scheint die Existenz des Mondes ins Bewusstsein dieser Neophilosophen kaum vorgedrungen zu sein. Verblüffend ist, wie hartnäckig Pascal Bruckner die Realität ausblendet. Dafür werden alle Register gezogen. Unbegründete Behauptungen und gewagte Auslegungen werden in einem Duktus aneinandergereiht, der sich an seiner eigenen Eleganz zu berauschen scheint. So notiert der Autor in seiner Streitschrift „Der Schuldkomplex“12 die düsteren Attribute, mit denen Giorgio Agamben oder Enzo Traverso die Abschiebelager in den Flughäfen belegen, und erkennt darin nur ein weiteres Beispiel für den „Masochismus des Westens“; oder er beklagt den Umstand, dass sich die Studenten, die sich 1968 als „intellektuelle Arbeiter“ verstanden, mittlerweile als „Prekariat“ und damit als Opfer definieren. Wissen zu wollen, was ein Abschiebelager tatsächlich ist, und ob das, was dort geschieht, denn vertretbar ist, oder sich über die Veränderungen in der Arbeitswelt seit 1968 Gedanken zu machen, für einen Pascal Bruckner sind das offenbar zu banale Fragen, als dass er sich mit ihnen lange aufhalten würde.

Wahrhaft spektakuläre logische Ausweichmanöver vollführt Bruckner, wann immer es um den israelisch-palästinensischen Konflikt geht. Wenn die internationale Öffentlichkeit das israelische Vorgehen kritisiert, liegt das seiner Meinung nach nicht an dem besagten Vorgehen, sondern vielmehr daran, dass den Juden ihr Abweichen vom stereotypen Opferverhalten vorgeworfen werde und Israel „keine Scheu vor Gewaltanwendung“ habe.

Alle wollen auf der Seite der letzten guten Indianer sein

Bruckner versteht seine Argumentation zu variieren: Wie Pascal Boniface festgestellt hat, könnte man Bruckners Plädoyer zur Verteidigung der Tschetschenen Wort für Wort durch das zur Verteidigung der Palästinenser austauschen.13 Oder wenn sich Bruckner über die Linken lustig macht, die sich die Palästinenser gern als „die letzten guten Indianer“ zurechtfantasierten, könnte man ihn an das erinnern, was er während des Balkankriegs über Kroaten und Bosnier geschrieben hat: „Warum verlangen wir immer von den Opfern, dass sie ohne Fehl und Tadel sind? (…) Es wäre keinem einzigen Menschen damit geholfen, dass man beim Unterjochten die Unschuld des Lammes suchte.“

Die Verteidiger der Frauen und Minderheiten und die erbitterten Kritiker der „Viktimisierung“ haben sich in einem Dialog der Schwerhörigen eingerichtet. Die Kritiker werfen den Verteidigern vor, sie würden den Universalismus untergraben, und verweisen darauf, dass doch nicht die Herkunft oder das Geschlecht den Wert eines Individuums ausmache – was nicht ohne Ironie ist bei Autoren, die sich, wie Bruckner selbst, immer mehr und in überheblichen und schalen Tönen mit dem Selbstbild des Westens identifizieren.14

Wenn sich Minderheiten organisieren, dann doch gerade deshalb, weil sie sich gegen den Essenzialismus und gegen Feindseligkeiten wehren wollen, die ihnen aus ihrer Umwelt offen entgegenschlagen. François Cusset, der in seinem Buch „La Decénnie“ die Anfänge dieser Kontroverse nachzuvollziehen versucht, bemerkt, dass beispielsweise die homosexuelle Identität in Zeiten von HIV und Aids „nicht einen Ausgangspunkt darstellt, sondern auf das Zusammentreffen von gleichen Lebenslagen zurückzuführen ist: in diesem Fall denen der Krankheit, der Schwulenfeindlichkeit und der Solidarität“.15

Um sich überhaupt als Individuum behaupten zu können, muss man sich zunächst einmal aus einem Dickicht von Vorurteilen herauswinden, was umso schwerer fällt, wenn man wenig Geld besitzt. Dieses Handicap sehen unsere Autoren aber nicht, oder sie spielen es konsequent herunter. „Dass heute jeder in London, Amsterdam, Barcelona, Bologna, Krakau, Prag oder Budapest leben und studieren kann, bedeutet eine außergewöhnliche intellektuelle Bereicherung, der gegenüber einem die exklusive Bindung an eine Minderheiten-Identität als armselige Verkümmerung vorkommt“, schreibt Bruckner in „Der Schuldkomplex“ – und vergisst glatt, dass diese Möglichkeit nun doch nicht jedem offen steht.

Das Handicap kann auch in mangelndem Selbstvertrauen bestehen, etwa wenn sich Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, von ihrem Partner davon überzeugen lassen, dass sie selbst schuld sind an dem, was ihnen widerfährt. Um etwas anderes als ein Opfer sein zu können, ist es für sie unabdingbar, zunächst einmal als Opfer anerkannt zu werden.16

Die naive Vorstellung, es gebe die gleichen Ausgangsbedingungen für alle, hält sich hartnäckig. Deswegen sehen unsere Autoren, sobald Frauen oder Minderheiten echte Gleichheit fordern oder die Umsetzung von Rechten, die für sie nur auf dem Papier bestehen, darin eine Form von Despotismus oder einen Anspruch auf ungerechtfertigte Bevorzugung: „Das Kollektiv schuldet mir alles, und ich schulde ihm nichts“, so lautet das Motto, wenn man Eliacheff und Soulez Larivière glauben will, die übrigens die in Spanien und andernorts verabschiedeten Gesetze zum Schutz von Frauen vor Gewalt als „Vorzugsbehandlung“ betrachten.

Die Dreistigkeit, mit der den Opfern entgegengehalten wird, sie sollten ihr Schicksal doch selbst in die Hand nehmen – „man muss doch nur seine Individualität entfalten“, „man muss sich doch nur auf den Weg anderswohin machen“, „man muss sich doch nur am Riemen reißen“, und, von Élisabeth Badinter an die Adresse der verprügelten Frauen gerichtet, „man muss doch nur die Koffer packen“ –, verrät eine gehörige Portion sozialer Arroganz.

Sie erinnert an die entsprechenden Empfehlungen, die man schon den Arbeitslosen angedeihen ließ: Die sozialen Kämpfe werden als „Viktimisierung“, als Opferdiskurs abgestempelt, so wie man die soziale Absicherung mittlerweile zur „Unterstützung“ umgetauft hat. Nicolas Sarkozy hat die beiden Begriffe gezielt gegeneinandergestellt, als er während des französischen Präsidentschaftswahlkampfs die Leute attackierte, „die, statt alles dafür zu tun, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, lieber in den Nischen der Geschichte nach einer imaginären Schuld suchen, die Frankreich ihnen gegenüber haben könnte“.17

Es hat etwas von der Mentalität eines Knecht Ruprecht, der die Zuckertüte in der einen und die Rute in der anderen Hand hat. Frankreich lasse sich – und dies im Herzen Europas, das seinerseits durch „Unsicherheit und Verweichlichung“ gekennzeichnet sei – vom „süßen Schmerz des verwöhnten Kindes“, von der „faulen Verzweiflung“ (Bruckner) überwältigen; ganz im Gegensatz natürlich zum Stolz und der Siegermentalität Amerikas (hier spricht einer der wenigen französischen Anhänger des Einmarschs in den Irak). Gleich sind wir wieder bei der bekannten Leier über ein Land, das „Initiative und Leistung entmutigt“ und sich Reformen verweigert. Eliacheff und Soulez Larivière wiederum beklagen, dass das Projekt einer europäischen Verfassung aufs Spiel gesetzt wurde, und zwar durch wen? Nun, durch die „potenziellen Opfer des polnischen Klempners“.18

Angesichts der Herablassung, die sich hier offenbart, sollte man der Aneignung von Robert Hughes’ Argument, dass die Betonung der sexuellen oder ethnischen Diskriminierung zulasten der sozialen Frage gehe, wohl mit Vorsicht begegnen: Hughes hat zweifellos recht. Aber diejenigen, die seine Argumentation benutzen, interessieren sich deshalb nicht notwendigerweise für die soziale Frage. Pascal Bruckner entdeckt zwar in Hughes’ Beschreibung der amerikanischen Zustände einen Beweis dafür, dass „das politische Frankreich aus guten Gründen weiterhin in Kategorien der Klassen denkt“. Allerdings hindert ihn das nicht daran, in seinen Büchern gegen die Ultralinken zu wettern, die die „Reichen bestrafen“ möchten: Es sei doch „nichts Schockierendes dabei, wenn Stars oder Millionäre sich einen Teil ihrer Zeit den Armen widmen, was man auch als eine Art Dankbarkeit gegenüber einem wohlmeinenden Schicksal interpretieren könnte“. So viel zum Denken in „Kategorien der Klasse“.

Der Diskurs über die „Viktimisierung“ bietet nur eine weitere Gelegenheit, über die „Exzesse“ der Demokratie ins Grübeln zu geraten (wo kämen wir denn hin, wenn auf einmal alle mit am Tisch sitzen wollten?). Als würde man an einer entsetzlichen Verirrung festhalten, wenn einem der Egalitarismus in seiner glanzlosen Mittelmäßigkeit und in seinem, sagen wir es deutlich: versteckten Sowjetgeist lieber ist als die flammende Fackel der „Freiheit“. Rund ein Jahrzehnt, nachdem er damit begann, die Viktimisierung anzuprangern, geißelt Pascal Bruckner heute eine radikale Linke, „die den Kommunismus niemals aufgegeben hat“ und „deren wahre Passion nicht die Freiheit, sondern die Knechtschaft im Namen der Gerechtigkeit ist“. Überraschungen sehen anders aus.

Fußnoten: 1 Guillaume Erner, „La société des victimes“, Paris (La Découverte) 2006. 2 Caroline Eliacheff und Daniel Soulez Larivière, „Le temps des victimes“, Paris (Albin Michel) 2007. 3 Vgl. Philippe Mangeot, „Petite histoire du politiquement correct“, Vacarme, Nr. 1, Winter 1997: www.vacarme.eu.org/article77.html. 4 Robert Hughes, „Political Correctness oder die Kunst, sich selbst das Denken zu verbieten“, München (Droemer Knaur) 1995. 5 Edward Said, „Kultur und Imperialismus: Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht“, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1994. 6 Pascal Bruckner, „Ich leide, also bin ich. Die Krankheit der Moderne“, Berlin (Aufbau) 1997. 7 Vgl. Charles Johnson, „Andrea Dworkin ne croit pas que tout rapport hétéro est un viol“, Chiennesdegarde.org, 10. August 2006: www.chiennesdegarde.org/article.php3?id_article=450. 8 Élisabeth Badinter, „Die Wiederentdeckung der Gleichheit. Schwache Frauen, gefährliche Männer und andere feministische Irrtümer“, Berlin (Ullstein) 2004. 9 Éric Zemmour, „le premier sexe“, Paris (Denoël) 2006. 10 Frédéric Taddeï im Porträt, Libération, 16. Februar 2007. 11 L’Arche, Nr. 549/550, Paris 2003. 12 Pascal Bruckner, „Der Schuldkomplex. Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa“ (Französisch: „La tyrannie de la pénitence“), München (Panthéon), angekündigt für Januar 2008. 13 Pascal Boniface, „Vers la Quatrième Guerre mondiale?“, Paris (Armand Colin) 2005. 14 Anfang 2007 löste Pascal Bruckner mit einer Polemik gegen Ian Buruma und Timothy Garton Ash eine internationale Multikulturalismusdebatte aus, die nachzulesen ist unter: www.perlentaucher.de/artikel/3642.html. 15 François Cusset, „La Décennie. Le grand cauchemar des années 80“, Paris (La Découverte) 2006. 16 Vgl. Mona Chollet, „Machisme sans frontière (de classe)“, Le Monde diplomatique, Mai 2005. 17 Vgl. Serge Halimi, „Les recettes idéologiques du président Sarkozy“, Le Monde diplomatique, Juni 2007. 18 Für die Befürworter des EU-Verfassungsvertrags hat die Figur des „polnischen Klempners“ entscheidend dazu beigetragen, dass der Vorschlag bei den Referenden in Frankreich und den Niederlanden 2005 abgelehnt wurde (laut Bolkestein-Richtlinie hätte „der polnische Klempner“ für den Lohn und zu den sozialen Bedingungen seines Herkunftslandes EU-weit beschäftigt werden können).

Aus dem Französischen von Michael Adrian

Mona Chollet hat in Genf und Lille Literaturwissenschaften und Journalismus studiert. Sie betreut redaktionell den Internetauftritt von Le Monde diplomatique, Paris, und hat eine eigene Website: www.peripheries.net. Siehe auch: Mona Chollet, „La tyrannie de la réalité“, Paris (Folio Actuel) 2006.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2007, von Mona Chollet