12.02.2015

Minderheit im eigenen Land

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Minderheit im eigenen Land

Der verzweifelte Kampf der Papua gegen die indonesischen Besatzer von Philippe Pataud Célérier

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Bei seiner Ankunft in London erfuhr Octovianus Mote vom Tod seines Freundes John Wamu Haluk, der eines der größten papuanischen Unternehmen geleitet hatte. Er starb am 13. November 2014, kurz nachdem er sein Auto auf einem Parkplatz in Timika abgestellt hatte. Diese „Westernstadt“ im Süden von West-Papua (oder West-Neuguinea)1 wächst rasant, seit der US-amerikanische Bergbauriese Freeport-McMoRan Copper & Gold Inc. dort aktiv ist. Der Grasberg wird abgetragen, um an die gigantischen Gold- und Kupferreserven zu gelangen.2 Octovianus Mote ist überzeugt, dass Haluk vergiftet wurde, obwohl es keine Autopsie gab. Der indonesische Geheimdienst Badan Intelijen Negara (BIN), bekannt für seine ebenso diskreten wie wirksamen Einsätze, habe den Mord verübt.

Mote, ein freundlicher Mann mit gewinnendem Wesen, zeigt offen seine Ratlosigkeit, als er in Paris eintrifft, um französische NGOs zu treffen. Haluk war nicht nur sein Freund, sondern auch der wichtigste finanzielle Unterstützer der ins Ausland geflüchteten papuanischen Führungsschicht. „Nur dank seiner Hilfe konnte ich meine Aufgabe erfüllen: alle Übergriffe der indonesischen Polizei und des Militärs auf die Bevölkerung in West-Papua zu dokumentieren und die Medien über den Völkermord zu informieren, der seit mehr als 50 Jahren dort stattfindet.“

Ein Völkermord? „West-Papua steht seit 1969 unter indonesischer Kolonialherrschaft. Heute sind die Papua eine Minderheit im eigenen Land. Sie werden 2030 weniger als 15 Prozent der Bevölkerung stellen, 1971 waren es noch 96 Prozent“, erklärt Mote, der früher Redakteur bei der größten indonesischen Tageszeitung Kompas war. Bei Kompas konnte er über alles schreiben – nur nicht über Papua, obgleich er Büroleiter für diese Provinz war.

Erst nach dem Ende der 30-jährigen Suharto-Diktatur (1967–1998) vermochten die Papua endlich Hoffnung zu schöpfen. Eine Abordnung von 100 papuanischen Führungspersönlichkeiten („Tim 100“), forderte vom neuen indonesischen Präsidenten Jusuf Habibie (1998–1999) die Unabhängigkeit ihrer Provinz. Octovianus Mote war als anerkannter Intellektueller einer der aktivsten Unterstützer dieser Bewegung. Ein offizieller Dialog zwischen den Papua und Jakarta wurde in Gang gesetzt und unter Habibies Nachfolger, dem sehr moderaten Präsidenten Abdurrahman Wahid (genannt Gus Dur, 1999–2001) zunächst fortgeführt.

Doch Megawati Sukarnoputri, Präsidentin von 2001 bis 2004 und Tochter des ersten Präsidenten Sukarno (1945–1967), verfocht vehement das Credo ihres Vaters: „Ohne West-Papua ist Indonesien nicht vollständig.“ Der „papuanische Frühling“ wurde blutig unterdrückt. Die Führer der Unabhängigkeitsbewegung wurden ins Gefängnis gesteckt oder umgebracht, wie Theys Eluay, der Vorsitzende des Papua-Rats, der im November 2001 durch die berüchtigte Spezialeinheit Kopassus entführt, gefoltert und ermordet wurde. Mote selbst entging einem Mordanschlag und floh in die USA.

Mit seinem amerikanischen Pass konnte er 2011 nach Papua zurückkehren, um an der Friedenskonferenz von Abepura (einem Vorort der Provinzhauptstadt Jayapura) teilzunehmen, die Pastor Neles Tebay organisiert hatte. Tebay koordiniert das Friedensnetzwerk Papua, das für Gewaltlosigkeit und einen Dialog zwischen Regierung und Unabhängigkeitsbewegung eintritt. Um eine rechtmäßige Vertretung der Papua für Verhandlungen mit dem indonesischen Staat zu schaffen, wurden von 800 Delegierten fünf Verhandlungsführer bestimmt, die alle im Exil leben: Octovianus Mote, Leonie Tanggahma, Benny Wenda, Rex Rumakiek und John Otto Ondawame. Alle sind mehrsprachig und hoch gebildet – eine Seltenheit heutzutage, denn die papuanische Elite ist stark dezimiert, und wegen des mangelhaften Bildungssystems fehlt der Nachwuchs.

Da kein Dialog mit Jakarta zustande kam, suchten die Verhandlungsführer Unterstützung bei ihren in der Melanesian Spearhead Group (MSG) zusammengeschlossenen Nachbarn: Papua-Neuguinea (PNG), Vanuatu, den Salomonen, Fidschi und der Kanakischen Unabhängigkeitsbewegung im französischen Neukaledonien (FLNKS). Die Gruppe umfasst die Mehrheit der melanesischen Bevölkerung in Ozeanien. Mit der Anerkennung durch die MSG hätten die papuanischen Verhandlungsführer den nötigen Rückhalt, um bei den Vereinten Nationen oder dem Commonwealth Gehör zu finden, da einige MSG-Mitglieder auch diesen internationalen Organisationen angehören.

Hoffnung auf Verbündete in Vanuato

„Ohne in der Region anerkannt zu sein, können wir kaum hoffen, dass unser Anliegen internationale Beachtung findet. Doch dazu müssen wir, die Papua, zunächst vor der MSG mit einer Stimme sprechen“, sagt Benny Wenda, einer der Verhandlungsführer und Leiter der Free West Papua Campaign.4 Das papuanische Volk besteht aus 253 ethnischen Gruppen, zudem gibt es zahlreiche politische Parteien und Bewegungen. Verdeckte Sabotage durch Jakarta erschwert die Einigung zusätzlich. „Indonesien unterstützt die Parteiführer, die uns entzweien, und tötet diejenigen, die uns zusammenbringen wollen!“, klagt Mote. John Otto Ondawame, der Hauptorganisator einer Konferenz in Port-Vila (Vanuatu), bei der die Lage in Papua vor der MSG erörtert werden sollte, starb dort am 4. September 2014 an einem Herzinfarkt. Die Konferenz wurde verschoben.

Jakarta hat Vanuatu mit Vergeltung gedroht, sollte es weiterhin die Unabhängigkeit Papuas unterstützen.5 Bis jetzt ist der kleine Inselstaat, der seit 1981 der UNO angehört, standhaft geblieben und folgt damit der Linie seines Staatsgründers Walter Lini (1942–1999), der erklärt hatte, sein Land sei nicht frei, solange Melanesien nicht frei sei. Diese Solidarität ist umso bemerkenswerter, als Vanuatu nur 250 000 Einwohner hat, gegenüber Indonesien mit 250 Millionen.

In Port Moresby, der Hauptstadt von Papua-Neuguinea, wurden 70 Führungspersönlichkeiten aus West-Papua festgehalten und konnten nicht zur Konferenz weiterreisen. „Auf indonesischen Druck“, meint ein Diplomat. „Druck auf militärischer, wirtschaftlicher, politischer Ebene. Es gibt viele solcher Maßnahmen, manchmal auch mit Unterstützung Australiens, das Indonesien militärisch und wirtschaftlich nahesteht. Und es gibt wenig Hoffnung, dass sich die Lage unter dem neuen Präsidenten ändert.“ Dabei hatte Joko Widodo, genannt Jokowi, West-Papua zu einem seiner Wahlkampfthemen gemacht.6

Benny Wenda hatte die Wähler zum Boykott der Präsidentschaftswahlen vom Juli 2014 aufgerufen. „Jokowi gehört der PDI-P an, der Partei, die von Megawati Sukarnoputri gegründet wurde. Er wird von den alten Eliten unterstützt, die seit Jahrzehnten am Ruder sind. Denken Sie nur an Jusuf Kalla!“ Der neue Vizepräsident lässt in der Tat keine Zuversicht aufkommen. Der Dokumentarfilm „The Act of Killing“ von Joshua Oppenheimer (2012) zeigt Jusuf Kalla 2009 bei einer Rede vor Angehörigen der paramilitärischen Gruppe Pemuda Pancasila, die 1965 an den antikommunistischen Massakern unter Suharto beteiligt war.7

„Wie können wir noch hoffen?“, fragt Benny Wenda. „Obwohl, es gibt ja immerhin eine papuanische Ministerin, Yohana S. Yambise, die für Frauenemanzipation und Kinderschutz zuständig ist.“ Die Besetzung der Schlüsselposten lässt hingegen jede Hoffnung fahren: Verteidigungsminister General Ryacudu, ein Ultranationalist, bezeichnete die Mörder von Theys Eluay als Helden; der neue Innenminister will die Zahl der Verwaltungseinheiten in West-Papua erhöhen (im Gespräch ist eine Aufteilung in zehn Provinzen), um die indonesische Bürokratie auszubauen und die Papua weiter zu spalten. Und der Minister für Umsiedlung und Entwicklung benachteiligter Regionen will das umstrittene Transmigrasi-Umsiedlungsprogramm von Javanern auf andere Inseln vorantreiben.

Damit werden die Papua unwiderruflich zur Minderheit auf ihrer eigenen Insel. „Wenn er Öl ins Feuer gießen wollte, hätte er es nicht besser machen können“, meint eine Aktivistin. „Jokowi ist ein Strohmann der Militärs. Er hat übrigens gerade die Truppenstärke in West-Papua erhöht.“ Schon jetzt kommt ein Polizist auf 99 Papua (im übrigen Land einer auf 296 Bürger). Nach Auskunft des Präsidenten sollen damit Menschenrechtsverletzungen verhindert werden. „Dabei weiß doch jeder, dass die Übergriffe von Polizisten und Soldaten ausgehen“, sagt die Papua-Aktivistin. Vor Kurzem hat Jokowi den korrupten General Budi Gunawan für den Posten des Polizeichefs vorgeschlagen.

Immerhin hat er auch zwei französische Journalisten freigelassen, die im August 2014 verhaftet wurden, weil sie ohne Journalistenvisum in West-Papua für eine Arte-Reportage recherchiert hatten. Das kann man als Zeichen der Öffnung interpretieren – oder als Versuch, den internationalen Ruf zu verbessern. Areki Wanimbo, der wegen seines Treffens mit den beiden Journalisten der Rebellion angeklagt ist, droht weiterhin eine lebenslange Haftstrafe. Seine Anwältin Anum Siregar wurde angegriffen und mit dem Tod bedroht, weil sie vor Gericht die Rechtmäßigkeit seiner Inhaftierung infrage stellte. Seit der Freilassung der Journalisten im Oktober (sie hatten sich zum Schweigen verpflichtet, um ihre Entlassung zu beschleunigen) ist West-Papua aus der Berichterstattung verschwunden.

Am 6. Dezember 2014 fand die Konferenz von Port-Vila schließlich doch noch statt, und sie endete mit einem historischen Abkommen. Zum ersten Mal schlossen sich die drei wichtigsten Unabhängigkeitsgruppen West-Papuas8 in einer gemeinsamen Organisation zusammen: United Liberation Movement for West Papua (ULMWP). Damit können die Papua beim nächsten Gipfeltreffen der MSG auf den Salomonen einen Aufnahmeantrag stellen. „Wir müssen bedenken, wie sehr Indonesien uns schaden kann, und vorsichtig sein“, warnen Benny Wenda und Octovianus Mote, die nun als Sprecher respektive Generalsekretär der ULMWP fungieren. Indonesien besitzt nämlich als Vertreter der Nichtmelanesier seit 2012 Beobachterstatus bei der MSG.

Daran zeigt sich, wie entscheidend Indonesiens Rolle als Regionalmacht ist. Sonst wäre es auch kaum zu erklären, dass die UNO sich nicht für das Schicksal West-Papuas interessiert, während Französisch-Polynesien mit Berufung auf das „unveräußerliche Recht der Bevölkerung […] auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit“ in einer Resolution vom 17. Mai 2013 auf die Entkolonialisierungsliste gesetzt wurde. Die Polynesier sind gewiss nicht stärker bedroht als die Papua. Womöglich verteidigen zudem die USA hier mit Erfolg die Interessen ihrer Bergbaukonzerne. Der Konzern Freeport-McMoRan hat sogar den ehemaligen US-Außenminister Kissinger angeheuert, um seine Gold- und Kupferminen in West-Papua zu sichern. Kissinger war 1973 Mitbegründer der „Trilateralen Kommission“, in der etwa 400 einflussreiche Vertreter aus Wirtschaft und Politik zusammenkommen. Zu den Mitgliedern gehört auch der Indonesier Jusuf Wanandi, ultranationalistischer Politiker und stellvertretender Vorsitzender des Pacific Economic Cooperation Council (PECC).

„Die UNO muss Verantwortung übernehmen, sie muss zurücknehmen, was ohne uns und gegen uns geschehen ist“, beharrt Mote. „1969 wurden wir mit vorgehaltenen Gewehren gezwungen, dem Anschluss an Indonesien zuzustimmen. Die Vereinten Nationen haben das einfach akzeptiert! Manche Forscher nennen es einen Völkermord in Zeitlupe.9 Uns fehlt nur das Geld, um dem Internationalen Strafgerichtshof die Beweise vorzulegen. Wir leben in einer der reichsten Gegenden der Welt, und wir sind trotzdem zu arm, um unsere Rechte durchzusetzen!“

Am 8. Dezember 2014 gab es wieder ein Massaker in West-Papua. Nachdem Soldaten Papuakinder angegriffen hatten, kam es zu Demonstrationen; Polizei und Armee eröffneten das Feuer, fünf Teenager wurden getötet. Joko Widodo versprach, die Geschichte rückhaltlos aufzuklären. Die Untersuchung geriet nur einen Monat später wieder in Vergessenheit, als zwei ermordete indonesische Polizisten unweit der Freeport-Mine aufgefunden wurden. Sofort wurden über 100 Papua verhaftet und gefoltert und ein Dutzend Häuser angezündet.10

Fußnoten: 1 Die Insel Neuguinea ist in zwei Hälften geteilt. West-Neuguinea oder West-Papua (indonesisch: Irian Jaya), einst niederländische Kolonie, steht unter indonesischer Herrschaft und ist seit 2003 in zwei Provinzen unterteilt: Papua und Papua Barat. Die Osthälfte von Neuguinea gehört zu dem unabhängigen Staat Papua-Neuguinea. 2 Siehe Philippe Pataud Célerier, „Grèves, répression et manipulations en Papouasie occidentale“: blog.mondediplo.net/2012-03-01-Greves-repression-et-manipulations-en-Papouasie. 3 Siehe Alban Bensa und Eric Wittersheim, „Von Neukaledonien nach Kanaky“, Le Monde diplomatique, September 2014. 4 www.freewestpapua.org. 5 „Indonesia warns Vanuatu“, 2. Dezember 2014: www.dailypost.vu. 6 „Jokowi to open access to Papua for foreign journalists“, The Jakarta Post, 5. Juli 2014. 7 Der Dokumentarfilm ist auf YouTube zu sehen. 8 Die National Coalition for Liberation (WPNCL), das National Parliament of West Papua (NPWP) und die Federal Republic of West Papua (NRFPB): bennywenda.org/2014/west-papuans-unite-under-a-new-umbrella-group/. 9 Jim Elmslie und Camellia Webb-Gannon, „A slow-motion genocide: Indonesian rule in West Papua“, in: Griffith Journal of Law and Human Dignity, Bd. 1, Nr. 2, Gold Coast, September 2013. 10 Vgl. www.survivalinternational.de/nachrichten/10641. Aus dem Französischen von Sabine Jainski Philippe Pataud Célérier ist Journalist. www.philippepataudcélérier.com.

Le Monde diplomatique vom 12.02.2015, von Philippe Pataud Célérier