12.02.2015

Öl ins Feuer

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Öl ins Feuer

von Hicham Ben Abdallah El-Alaoui

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Die Staaten, die sich hier gegenüberstehen, können zwei Kategorien zugeordnet werden: Ägypten, Jordanien oder Iran haben politische Reformen, die bereits in Angriff genommen oder zumindest versprochen worden waren, wieder unterbunden. Demgegenüber haben Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate von Beginn an alle Vorhaben struktureller Reformen ausgeschlossen.

In Ägypten hat die Sisi-Regierung die autoritären Methoden des Mubarak-Regimes sogar noch verschärft, während die sozialen und wirtschaftlichen Probleme die gleichen sind, die im Januar 2011 zur Absetzung Mubaraks geführt haben. Aus dieser Situation eines blockierten Übergangs ist allein die Armee als Siegerin hervorgegangen. Im größten Land der arabischen Welt ist keine Stabilisierung in Sicht. Aufgrund ihrer Bunkermentalität ist die Regierung nicht in der Lage, die soziale Unzufriedenheit zu erkennen, die unter der Oberfläche rumort. Eine neue Mobilisierung von Protesten ist jederzeit möglich, zumal die Hälfte der Bevölkerung unter 24 Jahre alt ist.

Arbeitslosigkeit, Armut und Ungleichheit haben vor vier Jahren die Straßen in Brand gesetzt. Die Probleme sind geblieben, auch wenn die Entwicklungsstrategie des ägyptischen Staatschefs auf den ersten Blick eindrucksvoll erscheinen mag. Auf dem Papier sehen Projekte wie der neue Suezkanal atemberaubend aus. Doch ein Heilmittel für Ägyptens jahrzehntealte Defizite sind sie nicht. Solange die Armee einer der wichtigsten Wirtschaftsakteure im Land bleibt, wird nichts dergleichen funktionieren. Neben einem dynamischen Privatsektor braucht das Land dringend einen effizienteren öffentlichen Sektor, ein funktionierendes Bildungssystem und eine Infrastruktur, die auf die Bedürfnisse der Bevölkerung abgestimmt ist.

Das undurchlässige politische System verschärft die Defizite. Der ägyptische Staatsapparat ist zersplittert und uneinheitlich; innerhalb der Sicherheits- und Justizorgane haben sich zahlreiche autonome Nischen herausgebildet, die es nun ermöglichen, die Öffentlichkeit zu kontrollieren, die Medien zu unterdrücken und die Zivilgesellschaft zu untergraben, so dass keine landesweite Oppositionsbewegung entstehen konnte.

Bei seinem Amtsantritt genoss al-Sisi eine gewisse Popularität unter säkularen Ägyptern, die sich vor den Muslimbrüdern fürchteten. Das heißt jedoch nicht, dass er die Unterstützung einer breiten gesellschaftlichen Basis besäße, wenn die Krise erst da ist – und die wird früher oder später kommen. Mubarak verfügte mit seiner NDP (Nationaldemokratische Partei) über eine hegemoniale politische Organisation, die es ihm erlaubte, sich fast drei Jahrzehnte lang an der Macht zu halten. Doch selbst die NDP konnte die Revolution vom Januar 2011 nicht verhindern. Zudem verfügt al-Sisi über keine vergleichbare organisatorische Infrastruktur.

So setzt das Regime auf Stabilisierung durch Feindbilder. Nach dem Putsch gegen Präsident Mursi im Juli 2013 hat es Staaten wie Jordanien und Saudi-Arabien zu einer Kampagne überredet, die darauf abzielt, die Muslimbruderschaft zu eliminieren. Seit der Ära Nasser (1956–1970) waren die Muslimbrüder keiner so gewalttätigen Repression mehr ausgesetzt. Die Mehrheit ihrer Führer ist geflüchtet oder sitzt im Gefängnis, tausende Aktivisten wurden getötet, zehntausende warten auf ihren Schauprozess.

Katar hat versucht, die Muslimbrüder zu unterstützen, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate dagegen sehen in ihnen eine Bedrohung und haben nach dem Putsch Milliarden US-Dollar als Wirtschaftshilfe an Ägypten überwiesen. Aus Sicht Riads handelt es sich bei der Bruderschaft um eine transnationale Bedrohung, die den ganzen Golf erobern könnte.1 Der konstante Zufluss von Geldern ist jedoch keine Lösung für Ägypten: Zum einen hat er zu einem Anstieg der Inflation geführt, zum anderen ermutigt er nicht gerade zur Durchführung schmerzhafter, aber für die Entwicklung der Wirtschaft notwendiger Reformen.

Während Ägypten in den Autoritarismus zurückfällt, leiden Syrien, Jemen und der Irak unter dem Trauma von Gewalt und Krieg. Im Jemen hat der militärische Arm der Huthi-Rebellen, die Ansar Allah (nicht zu verwechseln mit der al-Qaida nahestehenden sunnitischen Gruppe Ansar al-Scharia), allen Widerstand gebrochen und kontrolliert seit September 2014 die Hauptstadt Sanaa.2 Die Huthisten sind Zaiditen und zählen als solche zu den Schiiten; viele Sunniten meinten allerdings, der zaidistische Glaube stehe dem sunnitischen Islam so nahe, dass er als dessen fünfte Rechtsschule zu betrachteten sei. Aber die Huthisten erhielten beständig Unterstützung und Legitimation durch den Iran, der im Jemen seine Rivalität mit Saudi-Arabien austrägt. Das wahhabitische Königreich wiederum sieht den Jemen traditionell als erweitertes eigenes Territorium.

Iran und Saudi-Arabien: Rivalen im Jemen

Infolgedessen bildete sich eine transnationale Allianz religiöser Minderheiten – eine Entwicklung, die stark an den Libanon und Syrien erinnert. Die Alawiten in Syrien werden nun als Teil der Schia betrachtet, was das Eingreifen der Hisbollah zugunsten des syrischen Regimes rechtfertigt. In gleicher Weise erlangte die Ansar Allah durch ihren Paten Iran ein hohes Maß an schiitischer Legitimation. Dank der finanziellen und militärischen Hilfe des Iran ist die zaiditische Gruppe, ähnlich wie die Hisbollah, nun zu einem quasistaatlichen Akteur aufgestiegen.

Syrien war im Arabischen Frühling eines der ersten Länder, in dem friedliche Demonstrationen stattfanden. Statt in eine Demokratisierung mündete die Entwicklung jedoch in den Bürgerkrieg, in Kriegsökonomie und eine humanitäre Katastrophe. Das Regime von Baschar al-Assad besitzt nur noch einen Anschein von Souveränität. Durch ein Netz von Militär-Checkpoints kontrolliert es das Gebiet um Damaskus, ohne noch wirkliche administrative Macht zu besitzen. Der Staat hat den Großteil seiner Infrastruktur verloren. Ihm gegenüber stehen ausländische Gruppen und die sehr heterogenen Organisationen der Opposition, die zu militärischen Besatzungsmächten geworden sind.

In Syrien strebt der IS weniger einen „Staat“ im eigentlichen Sinne an denn eine dschihadistische Konföderation mit imperialen Absichten. Ähnlich wie die Osmanen beherrscht der IS sein Territorium, indem er die Verwaltung lokalen Akteuren anvertraut. Die in den Medien verbreiteten Enthauptungen zeugen nicht von einem islamischen Rechtssystem als Ausdruck einer neuen politischen Ordnung, sondern sind eher Teil einer Rekrutierungskampagne. Der IS mit seinen Eroberungsabsichten funktioniert nicht wie ein Staat mit seinen Institutionen, sondern nach der Logik der Beute, die sich die Kämpfer gegenseitig streitig machen. Dieses System funktioniert gut in ländlichen Gegenden. Für die Verwaltung ganzer Städte ist es ungeeignet.

Auch im Irak ist der IS aktiv. Seine Präsenz im Land verschleiert jedoch eher die Probleme der sozialen Verwerfungen und der ungleichen Verteilung politischer Macht. Der IS ist Teil einer umfassenderen sunnitischen Widerstands- und Aufstandsbewegung gegen den Machtmissbrauch einer schiitisch dominierten Regierung, die nach 2003 von den USA eingesetzt wurde. Für viele sunnitische Iraker stellt das Gewaltpotenzial des IS keine größere Bedrohung dar als das brutale Vorgehen der schiitischen Milizen im Dienste politischer Machthaber wie des ehemaligen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki.3 Viele Sunniten fühlten sich verraten, als 2005 die sunnitische Sahwa-Miliz4 auftrat, die die Regierung unterstützte, oder als unter General Petraeus 2007 die US-Truppen zur Stabilisierung des Landes aufgestockt wurden.

Auch hier gilt es die Hintergründe auszuleuchten. Die Verbindungen der irakischen Nachkriegsregierung mit dem Iran haben die konfessionelle Diskriminierung in einem in der Geschichte des modernen Irak nie dagewesenen Ausmaß verstärkt. Die Spannungen in der Region tragen dazu bei, dass sich die konfessionelle Spaltung weiter vertieft. In Syrien und im Irak kann man noch eine weitere wichtige Entwicklung beobachten: Vor dem Arabischen Frühling wurden die Bürger als Untertanen behandelt, die dem Staat gegenüber zur Treue verpflichtet waren. Jetzt, wo diese vereinnahmende Autorität zerbröckelt ist, wendet sich jeder auf der Suche nach Sicherheit seinem unmittelbaren sozialen Umfeld zu, sei es die Nachbarschaft oder eben die lokale Miliz.

Sorgen bereiten den Ländern der sunnitischen Koalition nicht nur regionale Rivalen wie der Iran oder ideologische Bedrohungen wie die Muslimbrüder. Auch von innen zieht eine Gefahr herauf, und die geht von der eigenen Bevölkerung aus. Diese Regime haben, als sie sich weigerten, die Chancen des Arabischen Frühlings zu nutzen und auf angemessene Weise auf die massiven Forderungen nach Freiheit und Würde zu antworten, einen schweren Fehler begangen, der mittel- und langfristig große politische Risiken birgt. Reflexhaft projizieren sie nun ihre Probleme nach außen, ohne sich mit den strukturellen Missständen im Innern zu beschäftigen.

Sunniten im Irak: keine Untertanen mehr

Innerhalb dieses regionalen kalten Kriegs können die Gewichte sich schnell zur einen oder andern Seite neigen. Bis jetzt hatte der Iran die Oberhand über Saudi-Arabien: Teherans Regionalpolitik war kohärenter und ermöglichte direkte Interventionen, ohne auf Vermittler angewiesen zu sein. Die saudische Strategie war hingegen unausgewogen, weil in der Außenpolitik des Königreichs unterschiedliche Akteure mitmischen: von den Sicherheitsdiensten über das Außenministerium bis zu den Prinzen des Königshauses. Jedes dieser Machtzentren verfügt zudem über eigene Mittelsmänner im Ausland.

Darüber hinaus gibt es im politischen System des Iran, anders als im saudischen, ein Modell von Volkssouveränität. Es ist zwar nicht wirklich demokratisch, erlaubt jedoch die Abhaltung von regelmäßigen Wahlen und einen kontrollierten Pluralismus (in dem freilich der oberste Rechtsgelehrte letztlich die Macht in Händen hält). Mit dem Verfall des Ölpreises wurden die Karten jedoch neu gemischt. Saudi-Arabien kommt aufgrund seiner größeren Finanzreserven damit deutlich besser zurecht. Für beide Staaten findet die entscheidende Auseinandersetzung nunmehr in Syrien statt.

Mit dem konfessionellen kalten Krieg hat sich die geopolitische Landschaft der Region beträchtlich verändert. Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte sind Kairo, Damaskus und Bagdad nicht mehr die einzigen Schwergewichte. Tunesien ist für die arabische Welt ein konstruktives Beispiel demokratischer Verheißung.5 Die neuen Kompromisse zwischen islamischen und laizistischen Kräften zeigen, dass es möglich ist, sich vom Erbe des Autoritarismus zu befreien. Sollte die tunesische Demokratie wieder zerfallen, würde damit nicht nur ein Symbol der Hoffnung verschwinden, sondern auch ein Stachel im Fleisch der autoritären Regime.

Die Vereinigten Staaten haben ihre Lektionen aus dem Scheitern in Afghanistan und im Irak gelernt und halten sich aus den Konflikten in der Region zunehmend heraus. Darin spiegelt sich eine einschneidende Neuausrichtung ihrer globalen Strategie: Ostasien hat gegenüber dem Nahen Osten an Bedeutung gewonnen.6 Globale Dominanz geht nun nicht mehr mit der Besetzung von Territorien einher, sondern mit der Kontrolle über die Finanzmärkte und die maritimen Handelsrouten. Washington wird weiterhin versuchen, den Fluss des Öls aus der Region zu steuern, jedoch eher durch eine Kontrolle der Fördermenge und nicht der Quellen selbst.

Ein historisches Erbe war allerdings resilient: Die durch das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 festgelegten geografischen Grenzen, mit dem die kolonialen Einflusssphären Großbritanniens und Frankreichs abgesteckt wurden, haben sich als überraschend stabil erwiesen.7 Die verschiedenen Akteure wollen nicht die Landkarte als solche verändern, sondern die bestehenden Grenzen kontrollieren, die – im Guten wie im Schlechten – soziale Realität sind.

Im Prinzip sollen alle Flüchtlinge, die Opfer eines der jüngeren Konflikte geworden sind, wieder in ihre Heimatländer zurückkehren. Und wer auch immer als Sieger aus den Kämpfen in Syrien, im Irak, im Jemen oder in Libyen hervorgehen wird: Niemand erwartet, dass diese Staaten ihre territoriale Form verändern werden. Denn eine Grundannahme wird von allen Akteuren nach wie vor geteilt: Sollten die vorhandenen Grenzen verschwinden, wird sich aus der jetzigen Instabilität eine Spirale ins Chaos entwickeln.

Fußnoten: 1 Siehe Alain Gresh, „Die Einsamkeit der Saudis. Das Königshaus in Riad misstraut sogar seinen Verbündeten“, Le Monde diplomatique, Mai 2014. 2 Siehe Laurent Bonnefoy, „Neue Herren in Sanaa“, Le Monde diplomatique, November 2014. 3 Vgl. Peter Harling, „Irak – Chronik eines Staatszerfalls“, Le Monde diplomatique, Juli 2014. 4 Als Harakat al-Sahwa al-Sunniyah (Sunnitische Erweckungsbewegung) wurden die Koalitionen zwischen sunnitischen Stammesmilizen und ehemaligen Armeeangehörigen bezeichnet, die von den US-Besatzern unterstützt wurden und ab 2005 insbesondere in der Provinz Anbar gegen den irakischen Al-Qaida-Ableger und andere sunnitische Aufständische kämpften. 5 Vgl. Serge Halimi, „Tunesiens kleines Glück“, in: Le Monde diplomatique, April 2014. 6 Vgl. Olivier Zajec, „Eine pazifische Affäre“, in: Le Monde diplomatique, Januar 2015. 7 Vgl. Vicken Cheterian, „Grenzen ziehen“, in: Le Monde diplomatique, Juli 2014. Aus dem Französischen von Jakob Farah Hicham Ben Abdallah El-Alaoui ist Forscher an der Stanford University, Kalifornien. Autor von „Journal d’un prince banni“, Paris (Grasset) 2014.

Le Monde diplomatique vom 12.02.2015, von Hicham Ben Abdallah El-Alaoui