12.02.2015

Antisemitismus in Frankreich

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Antisemitismus in Frankreich

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Viele französische Juden waren zutiefst schockiert über die Ermordung von vier Geiseln in einem koscheren Supermarkt an der Porte de Vincennes durch Amedy Coulibaly am 9. Januar. Nach der Entführung und grausamen Ermordung von Ilan Halimi durch Youssouf Fofana im Jahr 2006 und dem von Mohammed Merah verübten Massaker in der jüdischen Privatschule Ozar Hatorah in Toulouse im Jahr 2012 sehen viele in den jüngsten Ereignissen ein Anzeichen dafür, dass Frankreich von einer Welle des Antisemitismus überrollt wird.

In einer solchen Situation ist es begreiflicherweise schwierig, das Gefühl nicht über den Verstand siegen zu lassen. Weniger nachvollziehbar ist allerdings, dass zahlreiche Beobachter die Kriterien durcheinanderbringen, die sie verwenden. Um das Phänomen besser verstehen zu können, sollte man zunächst zwischen antisemitischen Einstellungen und antisemitischen Taten unterscheiden.

Was antisemitische Einstellungen betrifft, gibt es keinerlei Hinweise auf eine signifikante Zunahme. Alle seriösen Untersuchungen, wie zum Beispiel die Berichte über Rassismus und Antisemitismus, die die Nationale Beratungskommission für Menschenrechte (CNCDH) jährlich vorlegt, beschreiben den Antisemitismus als ein Randphänomen – ganz im Gegensatz zum Rassismus gegenüber Roma und zur Islamophobie,1 die beide stark zugenommen haben.

In ihrem letzten Bericht kommen die Autoren zu dem Fazit: „Die jüdischen Franzosen sind heute die mit Abstand am besten akzeptierte Minderheit Frankreichs. Der Indikator der Akzeptanz von Juden ist zwar seit 2009 um 6 Prozentpunkte gesunken – damals hatte er ein Rekordniveau von 85 Prozent erreicht –, aber er liegt deutlich über dem aller anderen Gruppen, 6 Punkte über dem der Schwarzen, 21 über dem der Nordafrikaner und 28 über dem der Muslime.“2

Antijüdische Ressentiments sind in der französischen Bevölkerung ungleich verteilt. So hat die Stiftung für politische Innovation (Fondation pour l’innovation politique, Fondapol) eine Untersuchung3 veröffentlicht, der zufolge die Neigung zum Antisemitismus bei Muslimen besonders stark ausgeprägt ist. Allerdings handelte es sich um eine Stichprobe von nur 575 Personen.4

Deren Einstellung wurde anhand der Zustimmung zu den folgenden sechs Vorurteilen ermittelt: „Die Juden nutzen heute ihren Status als Opfer des Nazi-Völkermords im Zweiten Weltkrieg, um sich damit Vorteile zu verschaffen“ – „Die Juden haben zu viel Einfluss auf dem Gebiet der Wirtschaft und der Finanzen“ – „Die Juden haben zu viel Einfluss in den Medien“ – „Die Juden haben zu viel Einfluss in der Politik“ – „Es gibt eine zionistische Weltverschwörung“ – „Die Juden sind schuld an der gegenwärtigen Wirtschaftskrise“.

Obgleich antisemitische Einstellungen also nach wie vor relativ wenig verbreitet sind, ist die Zunahme antisemitisch motivierter Taten5 seit Anfang des Jahrhunderts eine unbestreitbare Tatsache. Die Statistiken des französischen Innenministeriums verzeichnen den ersten Anstieg im Jahr 2002. In diesem Jahr haben sich rassistische Gewalttaten insgesamt vervierfacht und die antisemitisch motivierten versechsfacht. Seitdem schwanken die Zahlen, auf den Stand der 1990er Jahre sind sie jedoch nicht wieder gefallen.

Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten sie im vergangenen Jahr. Allein für die ersten sieben Monate erfasste der Service de protection de la communauté juive (Dienst zum Schutz der jüdischen Gemeinschaft, SPCJ) einen Anstieg um 91 Prozent im Vergleich zum Vorjahr: 527 antisemitische Taten gegenüber 276.6

Wie die Chronologie der Ereignisse zeigt, korrespondiert der Anstieg der antisemitischen Gewalttaten – unter anderem – mit den blutigsten Phasen des israelisch-palästinensischen Konflikts. Die Fernsehbilder vom israelischen Angriff auf den Gazastreifen im Juli/August 2014 haben – ebenso wie die Bilder von der zweiten Intifada – weltweit Millionen Menschen mit von israelischen Soldaten begangenen Verbrechen konfrontiert. Das hat doch nichts mit den Juden in Frankreich zu tun, mag man da völlig zu Recht einwenden.

Allerdings verteidigt der Dachverband der jüdischen Einrichtungen in Frankreich (Conseil représentatif des institutions juives de France, Crif) stets und ohne Wenn und Aber die Haltung Tel Avivs und trägt damit selbst dazu bei, dass in der öffentlichen Wahrnehmung die Unterscheidung zwischen französischen Juden und Israelis verschwimmt. Schlimmer noch, der demonstrative Schulterschluss von Frankreichs Präsidenten François Hollande und Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu hat all jene bestärkt, die glauben, es gebe eine „proisraelische Lobby“, die mächtig genug sei, die französische Politik zu beeinflussen.

Nicht nur die Ereignisse im Nahen Osten liefern einen Anlass für die Feindseligkeit gegen Juden. Erinnert sei an den Rechtsextremisten Alain Soral und den Provokateur Dieudonné M’bala M’bala, deren Antisemitismus besondere Wirkung entfaltet, weil er im Gewand eines Verfolgten und Opfers auftritt. Nicht zuletzt diese Haltung macht ihn anschlussfähig für die extreme Rechte.

Auch wenn die Wahrnehmung vieler französischer Juden vielleicht nicht der tatsächlichen Situation entsprechen mag – sie beeinflusst dennoch deren tatsächliches Verhalten. Davon zeugt die Verdreifachung der Zahl französischer Emigranten nach Israel innerhalb weniger Jahre. Lange Zeit waren es um die 1 500 Personen pro Jahr, 2014 dann 7 000 und damit mehr als ein Prozent der Juden, die Schätzungen zufolge in Frankreich lebten – und für dieses Jahr erwarten israelische Stellen 10 000 Einwanderer von dort. Wie früher Ariel Scharon hat nun auch Netanjahu seine „Brüder“ aufgefordert, Frankreich in Richtung Israel zu verlassen, und dabei ihre Situation sogar mit derjenigen der spanischen Juden vor ihrer Vertreibung im Jahr 1492 verglichen.7

Das Gefühl der Angst bewegt nun einige dazu, nach Israel zu emigrieren, allerdings ist diese „Alijah“, was auf Hebräisch wörtlich „Aufstieg“ bedeutet, zutiefst ambivalent: Denn die, die Frankreich verlassen, kehren dem Land den Rücken, das als Erstes in der Geschichte seine jüdische Bevölkerung gleichgestellt hat – um in ein Land zu gehen, wo die Gefahr für sie am größten ist.

Dominique Vidal

Fußnote: 1 Der Begriff wird mittlerweile auch von der CNCDH verwendet. 2 CNCDH, „La lutte contre le racisme, l’antisémitisme et la xénophobie. Année 2013“, La Documentation française, Paris 2014. 3 Dominique Reynié, „L’antisémitisme dans l’opinion publique française. Nouveaux éclairages“, Fondation pour l’innovation politique, Paris, November 2014. 4 Le Monde, 14. November 2014. 5 Hier ist „Gewalttaten“ der genauere Begriff; das Wort „Bedrohungen“ kann sehr unterschiedlich schwerwiegende Taten bezeichnen. 6 France Info, „Le nombre d’actes antisémites a presque doublé en un an“, 12. September 2014, und: Der Dachverband der jüdischen Einrichtungen in Frankreich (Crif) zählte im Jahr 2014 insgesamt 851 antisemitische Taten, gegenüber 423 im Jahr 2013. Dazu gehörten neben Gewalttaten auch Beleidigungen, Drohungen und Schmierereien. www.franceinfo.fr. 7 The Times of Israël, 15. Januar 2015: www.timesofisrael.com. Aus dem Französischen von Anna Böcker Dominique Vidal ist Journalist und Autor unter anderem von „Le mal-être juif. Entre repli, assimilation & manipulation“, Marseille (Agone) 2003.

Le Monde diplomatique vom 12.02.2015, von Dominique Vidal